Leitsatz (amtlich)
Ist die Eintragung in das Unternehmerverzeichnis erfolgt, der Mitgliederschein zugestellt und hat die BG Beiträge erhoben, ohne daß die Voraussetzungen für die Versicherungspflicht des Unternehmers gegeben waren, so liegt ein formal-rechtliches Versicherungsverhältnis - auch in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung - vor; es sei denn, daß diese Maßnahme etwa auf Arglist des so Versicherten beruht.
Diese Formalversicherung kann - nach Eintritt eines Arbeitsunfalls - nicht rückwirkend beendet werden.
Der auf diese Weise versicherte Unternehmer oder seine Hinterbliebenen haben grundsätzlich nicht das Recht, eine etwaige andere, sachliche zuständige BG in Anspruch zu nehmen.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1963-04-30, § 543 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 664 Abs. 3 Fassung: 1963-04-30, § 776 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30, § 778 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 10. März 1971 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat der Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Im übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Hessische Ausführungsbehörde für Unfallversicherung verpflichtet ist, den Unfall des Ehemannes der Beigeladenen, den er beim Abernten eines ersteigerten Obstbaumes erlitten hatte, zu entschädigen.
Der Ehemann der beigeladenen R, der Rentner K R (R.) war bis zum Jahre 1963 Metzger, Gastwirt und Lebensmittelhändler. Zuletzt lebte er in Bo. als Rentner, wo er ein Grundstück von 1.721 qm besaß. Dieses war von Schwarzdornhecken umgeben, und auf ihm standen drei alte tragende Kirschbäume und vier junge Kirschbäume, außerdem wurde Gras für Kaninchen geerntet. Die Beigeladene und ihr Ehemann waren im Unternehmerverzeichnis der Klägerin eingetragen. Diese hat die Beitragspflicht der Beigeladenen mit Bescheid vom 26. März 1968, gegen den ein Klageverfahren anhängig ist, als nicht gegeben bezeichnet. Am 29. September 1966 verunglückte der Ehemann der Beigeladenen tödlich beim Abernten eines an der Landstraße zwischen Bo. und B (Kreis B) stehenden Apfelbaumes, den er vom Hessischen Landesamt für Straßenbau ersteigert hatte, um Apfelwein herzustellen.
Nachdem die Beklagte sich geweigert hatte, der Beigeladenen Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu zahlen, gewährte die klagende Land- und forstwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (BG) der Beigeladenen mit Bescheid vom 14. Juni 1968 gemäß § 1735 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorläufige Fürsorge in der Form des gesetzlichen Sterbegeldes sowie einen Vorschuß auf die Witwenrente in Höhe von 2.000,- DM. Anschließend erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag festzustellen, daß ein versicherter Arbeitsunfall im Sinne der RVO vorliege, der von der Beklagten als dem zuständigen Versicherungsträger zu entschädigen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufungen der Klägerin und der Beigeladenen zurückgewiesen. Das LSG ist der Auffassung, die Klägerin selbst scheide als Leistungspflichtige aus. Die Kirschen seien ab 1963 nicht mehr verkauft und im Unfallzeitpunkt nur noch im Haushalt verbraucht bzw. verschenkt worden. Es habe auch eine sog. Formalversicherung nicht vorgelegen, weil kein landwirtschaftliches Unternehmen bestanden habe. Aber auch die Beigeladene sei nicht leistungspflichtig. Der Ersteigerer eines an einer Landstraße stehenden Apfelbaumes, der Apfelwein für seinen Haushalt herstellen wolle, stehe nicht nach § 539 Abs. 2 RVO unter Versicherungsschutz, sondern sei als "Unternehmer" unversichert, auch wenn er mit der Obstabnahme der Straßenbaubehörde helfe, ihrer Verkehrssicherungspflicht nachzukommen. Die Obstbäume seien nach Mitteilung des zuständigen Amts für Straßenbau nur an den Straßenrändern angepflanzt worden, um die Linienführung der Straße optisch kenntlich zu machen. Die Obstersteigerer seien nicht verpflichtet, das Obst zu ernten. Die Aberntung des gesamten Obstes sei allerdings im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht notwendig, denn von den Bäumen auf die Fahrbahn fallendes Obst würde für die Verkehrsteilnehmer eine Gefahr bedeuten. Nicht versteigerte Obstbäume würden daher vom eigenen Personal abgeerntet. Die Tätigkeit des verstorbenen Ehemannes der Beigeladenen stelle zwar objektiv eine wirtschaftlich als Arbeit zu verstehende, der Sicherung des Straßenverkehrs dienende Betätigung dar, jedoch habe dieser das Obst erkennbar nur gepflückt, um es in seinem Haushalt zu verwenden (Apfelweinherstellung) und nicht, um der Beklagten bei der Erfüllung ihrer Verkehrssicherungspflicht zu helfen. Das gelte auch dann, wenn man annehmen wolle, daß der Obstbaum zu einem landwirtschaftlichen Unternehmen des Landes Hessen gehöre.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Ansicht, der Ehemann der Beigeladenen sei für das landwirtschaftliche Unternehmen des Landes Hessen wie ein Versicherter tätig geworden (§ 539 Abs. 2 RVO). Die Obstbäume hätten auch zur Obsterzeugung gedient und der Ehemann der Beigeladenen habe anstelle des Personals des zuständigen Straßenbauamts Schotten das Obst abgeerntet, und dabei auch der Verkehrssicherungspflicht gedient. Die dahingehenden Auskünfte habe das LSG unter Verstoß gegen § 128 Sozialgerichtsgesetz - SGG - unrichtig gewürdigt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 10. März 1971 sowie das Urteil des SG Darmstadt vom 12. Juni 1969 aufzuheben und die Entschädigungspflicht der Beklagten für den Unfall des Ehemannes der Beigeladenen vom 29. September 1966 festzustellen,
hilfsweise,
die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der diesem zugrunde liegenden Feststellungen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene ist im Verfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist unbegründet.
Zutreffend hat das LSG zunächst die Zulässigkeit der Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG bejaht. Die Klägerin hat der Beigeladenen gemäß § 1735 RVO vorläufige Fürsorge gewährt. Die Verpflichtung, aufgrund dieses Bescheides auch weiterhin Fürsorge zu gewähren, begründet ihr Interesse an der baldigen Feststellung des letztlich Leistungspflichtigen (BSG SozR Nr. 28 zu § 55 SGG). Die Zulässigkeit der Feststellungsklage entfällt auch nicht deshalb, weil eine Leistungsklage erhoben werden könnte, denn die Höhe der vorläufigen Fürsorge steht noch nicht fest. Im übrigen ist die Feststellungsklage auch deswegen als zulässig anzusehen, weil in einem Rechtsstreit zwischen Körperschaften des öffentlichen Rechts davon auszugehen ist, daß im Falle des Obsiegens der Klägerin die Beklagte auch ohne Leistungsurteil Ersatz leisten wird (BSG 10, 21, 24, 25).
Die Leistungspflicht der Beklagten entfällt schon dann, wenn die Klägerin selbst als Leistungspflichtige in Betracht kommt. Das hat das LSG im Ergebnis zu Unrecht verneint. Zwar begegnen seiner Auffassung, daß im Unfallzeitpunkt kein landwirtschaftliches Unternehmen - i.S. des § 776 Abs. 1 Nr. 1 RVO - (mehr) bestand, dem der Unfall vom 29. September 1966 zugerechnet werden könnte, keinen rechtlichen Bedenken. hierzu hat das LSG festgestellt, daß R. ein 1.721 qm großes, in der Gemeinde Bobenhausen gelegenes Grundstück besaß, das zum Teil mit Schwarzdornhecken bewachsen war und auf dem drei tragfähige Kirschbäume und vier junge Kirschbäume standen. Davon sind jährlich etwa vier Zentner Kirschen geerntet worden. Der überwiegende Teil wurde bis zum Jahre 1963 verkauft und danach verschenkt und nur etwa ein halber Zentner im eigenen Haushalt verbraucht. Ferner sind auf diesem Grundstück sowie dem dorthin führenden Feldweg im Durchschnitt jährlich vier Zentner Gras bzw. Heu gewonnen und für die Aufzucht von etwa 15 Kaninchen verbraucht worden. Es lag also insoweit nur eine ganz geringfügige Bodenbewirtschaftung und damit kein landwirtschaftliches Unternehmen vor, denn die Pflege einiger weniger Bäume oder unbedeutsamer Anlagen ist noch kein landwirtschaftliches Unternehmen (vgl. auch Boller, Sozialversicherung 1969, 212, 213). Das Grundstück ist vielmehr als anderer "Kleingarten" im Sinne des § 778 RVO anzusehen. Danach gelten nicht als landwirtschaftliche Unternehmen oder als Unternehmen der Gartenpflege Haus-, Zier- und andere Kleingärten, die weder regelmäßig noch in erheblichem Umfang mit besonderen Arbeitskräften bewirtschaftet werden und deren Erzeugnisse hauptsächlich dem eigenen Haushalt dienen. Das LSG hat - von der Revision unangegriffen - festgestellt, daß das Grundstück des Klägers nicht in erheblichem Umfang mit besonderen Arbeitskräften bewirtschaftet wird und daß die Erträgnisse aus diesem Grundstück hauptsächlich dem eigenen Haushalt dienten. Bei dieser - jedenfalls für den Unfallzeitpunkt maßgebenden - Fallgestaltung sieht der Senat keine Veranlassung, hier zu der Frage Stellung zu nehmen, ob der Auffassung von Noell/Breitbach (Landwirtschaftliche Unfallversicherung, 1963, Anm. zu § 778 RVO) zuzustimmen ist, daß bezüglich der Größe, bis zu der ein Haus-, Zier- oder anderer Kleingarten angenommen werden könne, in Anbetracht der neueren Entwicklung, die allgemein zu einer Verkleinerung der Haus- und Ziergärten tendiere, die bisher in der Rechtsprechung angenommene Grenze von 2.500 qm (vgl. AN 1917, 625) als zu hoch angesehen werden müsse, diese vielmehr jetzt bei 1.250 qm liege oder ob andererseits der Begriff des Kleingartens mit Rücksicht auf die gegenüber früher wesentlich veränderten Verhältnisse auf größere Wochenendgrundstücke in freier Feldmarkung zu erweitern ist, auch wenn sie einen bescheidenen Obstertrag abwerfen (vgl. dazu LSG Baden-Württemberg in Breithaupt 1968, 123, 124).
Die Leistungspflicht der Beklagten entfällt aber deswegen, weil die Klägerin zumindest infolge der Formalversicherung der Beigeladenen bzw. ihres verstorbenen Ehemannes leistungspflichtig ist. Ein formal-rechtliches Versicherungsverhältnis liegt vor, wenn die Eintragung in das Unternehmerverzeichnis erfolgt und der Mitgliedsschein zugestellt ist, ohne daß die Voraussetzungen für die Versicherungspflicht des Unternehmers gegeben waren und die BG Beiträge erhoben hat, es sei denn, daß diese Maßnahmen auf einem Verschulden - insbesondere Arglist (vgl. hierzu Bescheid des RVA Nr. 770 in AN 1889, 394, und AN 1908, 531) - des so Versicherten beruhen (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., Band II S. 515; Lauterbach, Unfallversicherung Stand Juli 1972 Anm. 7a zu § 543 RVO S. 183, auch Anm. 4c zu § 539 RVO S. 104).
Daß diese von der Rechtsprechung für die gewerblichen BGen entwickelten Grundsätze (vgl. dazu schon die Rekurs-Entscheidung - RekE - des RVA Nr. 451 in AN 1888, 69) auch in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung gelten, ist schon lange anerkannt (s. AN 1889, 394 Bescheid Nr. 770; AN 1892, 325/326 RekE Nr. 1169; AN 1900, 529, 30 RekE Nr. 1794; AN 1908, 531 RekE Nr. 2250 - Erweiterter Senat). Daran ändert nichts die Tatsache, daß die Klägerin nach dem Unfall des Ehemannes der Beigeladenen im Jahre 1966 mit Bescheid vom 26. März 1968 die Beitragspflicht der Beigeladenen als nicht gegeben bezeichnet und verfügt hat, daß die Beiträge, soweit nicht verjährt, zurückerstattet werden. Das formal-rechtliche Versicherungsverhältnis besteht so lange, bis die BG durch eine ausdrückliche Erklärung der "ferneren Versicherung" widerspricht (AN 1916, 610, 613 GE Nr. 2897), es endet also nicht rückwirkend (Brackmann aaO). Es hat im wesentlichen die gleichen Wirkungen wie die eines echten, sachlich-begründeten Versicherungsverhältnisses (Brackmann aaO vgl. im übrigen auch Lauterbach aaO Anm. 9 zu § 664 RVO S. 863 und Anm. 7 a Abs. 3 zu § 543 RVO S. 183). Der Unternehmer oder seine Hinterbliebenen haben grundsätzlich nicht das Recht, eine etwaige andere sachlich zuständige BG in Anspruch zu nehmen (AN 1915, 322 GE Nr. 2773).
Soweit das LSG eine Formalversicherung nach § 539 Abs. 1 Nr. 5 RVO verneint hat, weil kein landwirtschaftliches Unternehmen bestanden habe, kann ihm nicht gefolgt werden. Diese Vorschrift, nach der in der Unfallversicherung gegen Arbeitsunfall Unternehmer versichert sind, solange und soweit sie als solche Mitglieder einer landwirtschaftlichen BG sind, regelt nur den Umfang der Pflichtversicherung, besagt also nichts über die Folgen einer Formalversicherung. Ähnliches gilt für § 664 Abs. 3 RVO, der für die gewerblichen BGen anzuwenden ist. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob der Ansicht von Noell/Breitbach (aaO. Anm. zu § 664 RVO S. 149), die meinen, § 664 RVO gelte nicht in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, zuzustimmen ist.
Die Voraussetzungen der Formalversicherung sind hier gegeben. Die Beigeladene bzw. ihr Ehemann waren im Unternehmerverzeichnis der Klägerin eingetragen. Ob die Eintragung früher zu Recht erfolgte, etwa weil bis 1963 noch ca. vier Zentner Kirschen geerntet und davon dreieinhalb Zentner verkauft worden sind oder weil nach der Auffassung von Noell/Breitbach (aaO Anm. zu § 778 RVO S. 218) ein landwirtschaftlicher Betrieb angenommen worden war, da die Ausnahme des § 778 RVO (Haus-, Zier-, Kleingärten gelten nicht als landwirtschaftlicher Betrieb) deswegen nicht zuträfe, weil das bewirtschaftete Grundstück größer als 1250 qm ist, kann nach dem oben Gesagten dahingestellt bleiben. Daß die Beigeladene oder ihr Ehemann an der Eintragung ein Verschulden trifft, lassen die Feststellungen des LSG nicht erkennen; dies hat die Klägerin im übrigen auch zu keiner Zeit behauptet. Auch sind Beiträge erhoben worden.
Das Abernten des Obstes war nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG dem "eigenen Unternehmen" des verstorbenen Ehemannes der Beigeladenen zuzurechnen. Als eigenes Unternehmen ist unter den hier gegebenen Umständen dessen kleiner landwirtschaftlicher Betrieb anzusehen, der - wenn auch nur im Rahmen einer Formalversicherung - bei der Klägerin unter dem Schutz der landwirtschaftlichen Unfallversicherung gestanden hat. Da in diesem Betrieb ebenfalls Obst, und zwar Kirschen geerntet worden sind, stand die Tätigkeit des Obstaberntens an dem ersteigerten Apfelbaum, die zu dem tödlichen Unfall führte, entgegen der Auffassung des LSG mit diesem bei der Klägerin versicherten Betrieb in einem wirtschaftlichen Zusammenhang und war ihm deshalb zuzurechnen (BSG 19, 117; EuM Bd. 43, 26, 29).
Bei dieser Sachlage scheidet die Haftung der Beklagten als Baumbesitzer aus (s. auch BSG 19, 117 unter Hinweis auf RVA in EuM Bd. 43, 26, 27). Auf die insoweit erhobene Rüge des Verstoßes gegen § 128 SGG brauchte deshalb nicht eingegangen zu werden.
Nach alledem konnte die Revision - wenn auch aus anderen Gründen, als das LSG angenommen hatte - keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 707838 |
BSGE, 71 |