Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtannahmebeschluß: Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Veröffentlichungsverfahren über Vorruhestand im Baugewerbe mit GG Art 2 Abs 1 iVm Rechtsstaatsprinzip vereinbar
Orientierungssatz
1. Das für die Veröffentlichung der Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge über den Vorruhestand im Baugewerbe vorgesehene Verfahren verletzt nicht GG Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3, es ist mit dem Rechtsstaatsgebot noch vereinbar (Festhaltung BVerfG, 1977-05-24, 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (350 f)).
2. Durch die Heranziehung zu Arbeitgeberbeiträgen entsteht für einen Verbandsaußenseiter ein gewisser Beitrittsdruck, der aber nicht so gewichtig ist, daß er als Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit angesehen werden könnte (vgl BVerfG, 1980-07-15, 1 BvR 24/74, BVerfGE 55, 7 (22) für die Sozialkassen des Baugewerbes).
3. Die Vorruhestandsregelungen verletzen nicht die allgemeine Handlungsfreiheit, denn sie halten sich innerhalb der durch GG Art 9 Abs 3 gezogenen Grenzen tarifautonomer Regelungsmöglichkeiten. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, daß sich die Allgemeinverbindlicherklärung an den allgemeinen wirtschaftspolitischen Zielen des Vorruhestandsgesetzes orientiert und auch dem Arbeitnehmerschutz dient. Dies gilt auch für die Rechtsauffassung des BAG, daß ein tarifvertraglicher Überforderungsschutz nicht erforderlich sei.
4. Grundsätzlich ist eine Betroffenheit von Arbeitgebern in ihrem Grundrecht aus GG Art 12 Abs 1 durch Auferlegung von Zahlungsverpflichtungen zu Sozialkassen zu verneinen (BVerfGE 55, 7 (25ff)), es ist nicht ersichtlich, inwiefern sich die alle Unternehmer gleichmäßig treffenden Beiträge prohibitiv für die Tätigkeit eines Bauunternehmers auswirken können.
Der beanstandete „negative Kontrahierungszwang” der Vorruhestandsregelung ist in Anbetracht des verfolgten wichtigen sozialpolitischen Zieles verfassungsrechtlich unbedenklich.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1
Verfahrensgang
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Heranziehung zu Arbeitgeberbeiträgen aufgrund der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge über den Vorruhestand im Baugewerbe. Die Beschwerdeführerin betreibt ein Bauunternehmen. Sie ist nicht Mitglied einer Tarifvertragspartei. Von der Klägerin des Ausgangsverfahrens, einer Gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes, wurde sie im Rahmen der tariflichen Vorruhestandsregelung zur Zahlung von Sozialkassenbeiträgen in Höhe von rund 15.000 DM in Anspruch genommen. Die Beschwerdeführerin unterlag in drei Instanzen.
Mit ihrer am 3. Mai 1989 eingegangenen Verfassungsbeschwerde greift die Beschwerdeführerin sämtliche Entscheidungen des Ausgangsverfahrens an. Sie rügt eine Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) durch die Art der Veröffentlichung der Allgemeinverbindlicherklärung. Außerdem beeinträchtige die Vorruhestandsregelung sie als Außenseiterin in ihrer Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), weil nur Verbandsmitglieder auf die Beitragsgestaltung Einfluß nehmen könnten. Einen weiteren Grundrechtsverstoß sieht sie darin, daß die tarifliche Regelung weder dem sozialen Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer noch einer Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsinteressen, sondern nur einem allgemeinen arbeitsmarktpolitischen Ziel diene. Ihre Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) werde verletzt, weil die Tarifverträge keinen Überforderungsschutz vorsähen und den Arbeitnehmern der Eintritt in den Vorruhestand völlig freigestellt sei. Die Beitragszahlungen wirkten sich wegen ihrer Höhe prohibitiv auf den Zugang zum Beruf des Bauunternehmers aus.
II.
Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
1. Die Beschwerdeführerin wird durch die angegriffenen Urteile nicht in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. Die Allgemeinverbindlicherklärung der einschlägigen Tarifverträge über den Vorruhestand im Baugewerbe ist ordnungsgemäß nach den dafür einschlägigen rechtlichen Bestimmungen veröffentlicht worden. Zu Unrecht bezweifelt die Beschwerdeführerin die Vereinbarkeit des danach vorgesehenen Veröffentlichungsverfahrens mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Verfahren bereits in seiner Entscheidung vom 24. Mai 1977 dahin gewürdigt, daß es mit dem Rechtsstaatsgebot noch vereinbar sei (BVerfGE 44, 322 (350 f.)). Daran ist festzuhalten. Umstände, die eine andere Beurteilung rechtfertigten, liegen nicht vor (so im Ergebnis auch BAG, Urteil vom 28. März 1990 - 4 AZR 563/89 -, AP Nr. 25 zu § 5 TVG, Bl. 655).
Der Wortlaut der Tarifverträge kann durch Einsichtnahme in das beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geführte Tarifregister (§ 6 TVG) jederzeit festgestellt werden. Die rechtsstaatlich gebotene Dokumentationswirkung des Veröffentlichungsverfahrens wird durch dieses Register gewährleistet. Darüber hinaus hat es einem praktischen Informationsbedürfnis insbesondere derjenigen zu dienen, die sich nicht mit der üblichen Unterrichtung durch die Tarifvertragsparteien begnügen wollen. Aus dem Tarifregister müssen sich Interessierte ohne Schwierigkeiten über den Inhalt von Tarifverträgen unterrichten können. Der ungehinderte Zugang zu diesem öffentlichen Register ist wesentliche Voraussetzung für die Vereinbarkeit der eingeschränkten Publizität allgemeinverbindlicher Tarifverträge mit rechtsstaatlichen Anforderungen. In dieser Hinsicht hat die Beschwerdeführerin Beanstandungen nicht erhoben.
In der Praxis werden die Tarifverträge durch die Tarifvertragsparteien in der Branche hinreichend bekanntgemacht. Auch Außenseiter können sich auf diesem Wege gewöhnlich ohne weiteres über das geltende Tarifrecht informieren. Die ZVK- Bau unterrichtet alle Baubetriebe regelmäßig über Änderungen der einschlägigen tarifvertraglichen Bestimmungen. Eigene Schwierigkeiten bei der Beschaffung der einschlägigen Tarifverträge macht die Beschwerdeführerin nicht geltend.
2. Die angegriffenen Urteile verletzen die Beschwerdeführerin nicht in ihrer Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Sie kann als Verbandsaußenseiterin hier durch dieses Grundrecht individuell nur in ihrer Freiheit geschützt sein, sich keinem Verband anzuschließen (vgl. BVerfGE 50, 290 (367); 55, 7 (21)). Dies macht sie mit dem Hinweis geltend, sie sei als Verbandsaußenseiterin nicht in der Lage, ihre Interessen in den Organen der Gemeinsamen Einrichtung wahrzunehmen. Dadurch werde Druck auf sie ausgeübt, einem der an der Gemeinsamen Einrichtung beteiligten Arbeitgeberverbände beizutreten.
Daß ein gewisser Beitrittsdruck entsteht, liegt auf der Hand. Er ist aber nicht so gewichtig, daß er als Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit angesehen werden könnte. Das hat das Bundesverfassungsgericht für die Sozialkassen des Baugewerbes bereits in seinem Beschluß vom 15. Juli 1980 (BVerfGE 55, 7 (22)) entschieden. Die Sachlage ist hier, wie das Bundesarbeitsgericht im angegriffenen Urteil zutreffend ausführt, nicht anders zu beurteilen.
3. Soweit die Beschwerdeführerin rügt, die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge über den Vorruhestand überschritten die durch Art. 9 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen tarifautonomer Regelungsmöglichkeiten, könnte sie in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt sein; sie ist durch Art. 2 Abs. 1 (erster Halbsatz) GG vor Einschränkungen geschützt, die nicht mit der verfassungsmäßigen Ordnung im Einklang stehen (vgl. BVerfGE 80, 137 (152 ff.)). Die dazu erhobenen Bedenken sind aber nicht begründet.
a) Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist Art. 9 Abs. 3 GG durch die streitige Allgemeinverbindlicherklärung verletzt, weil sie weder dem sozialen Schutz von Arbeitnehmern noch einem sonstigen öffentlichen Interesse diene.
Das trifft jedoch nicht zu. Das Bundesarbeitsgericht bejaht ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung schon deshalb, weil diese Tarifverträge dem Zweck des Vorruhestandsgesetzes, nämlich das Ausscheiden älterer Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben zu erleichtern und einen Arbeitslosen auf dem freiwerdenden Arbeitsplatz zu beschäftigen, in besonderem Maße gerecht würden. Schon dieser Gesichtspunkt reicht aus, um ein hinreichendes öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung zu begründen. Der Bundesminister hat dies in eigener Verantwortung zu prüfen und ist dabei nicht auf die Interessen der Tarifvertragsparteien und ihrer Mitglieder beschränkt (vgl. BVerfGE 44, 322 (344)). Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn er sich dabei an den allgemeinen wirtschaftspolitischen Zielen des Vorruhestandsgesetzes orientiert. An weitere Voraussetzungen ist die Allgemeinverbindlicherklärung weder arbeitsrechtlich noch verfassungsrechtlich geknüpft. Auf die anderen in diesem Zusammenhang von der Beschwerdeführerin angeführten Gesichtspunkte braucht deshalb nicht eingegangen zu werden.
b) Als nicht mehr durch Art. 9 Abs. 3 GG gedeckt sieht die Beschwerdeführerin die angegriffene Allgemeinverbindlicherklärung auch deshalb an, weil es bei der Vorruhestandsregelung nicht um eine Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, sondern nur um eine Beendigung von Arbeitsverhältnissen gehe. Dieser Auffassung kann jedoch nicht gefolgt werden. Zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gehören, wie sich bereits aus § 1 TVG ergibt, unzweifelhaft auch Regelungen über die Beendigung von Arbeitsverträgen. Außerdem dient die Vorruhestandsregelung keineswegs allein arbeitsmarktpolitischen Zielen, sondern ebenso auch dem Arbeitnehmerschutz.
c) Schließlich wird auch die Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts, daß ein tarifvertraglicher Überforderungsschutz nicht erforderlich sei, von der Beschwerdeführerin als Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG gerügt. Auch diese Rüge ist unbegründet. Das Bundesarbeitsgericht stützt sich insoweit auf § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG. Danach wird ein Zuschuß nur gewährt, wenn entweder bei einer über 5 vom Hundert der Arbeitnehmer des Betriebes hinausgehenden Inanspruchnahme eines Arbeitgebers dessen freie Entscheidung sichergestellt ist oder eine … Gemeinsame Einrichtung besteht. Daraus folgert das Bundesarbeitsgericht in Übereinstimmung mit der überwiegenden Meinung der Literatur, daß bei Bestehen einer Gemeinsamen Einrichtung ein Überforderungsschutz oder eine Härteregelung nicht erforderlich seien.
Das ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zwar muß der Bundesminister bei der Allgemeinverbindlicherklärung die Interessen der Außenseiter wahren (BVerfGE 44, 322 (348)). Er konnte aber bei seiner Entscheidung davon ausgehen, daß diese durch die Gemeinsame Einrichtung in angemessener Weise berücksichtigt werden. Denn diese Einrichtung führt dazu, daß die finanzielle Belastung des Arbeitgebers nicht von der Zahl der Arbeitnehmer, die in seinem Betrieb die Vorruhestandsregelung in Anspruch nehmen, abhängt. Er wird vielmehr nach allgemeinen Maßstäben zu Beiträgen herangezogen. Besondere Härtefälle können bei einer solchen Regelung schon deshalb nicht auftreten, weil sie im wesentlichen wettbewerbsneutral ist. Daß die mit der Vorruhestandsregelung gegebene Chance, die Altersstruktur eines Betriebes zu verbessern, nicht allen Unternehmern gleichmäßig zugutekommt, konnte bei der Allgemeinverbindlicherklärung vernachlässigt werden. Der Bundesminister muß die mit der Allgemeinverbindlichkeit verfolgten öffentlichen Interessen mit den Belastungen der Außenseiter abwägen. Dabei ist ihm eine typisierende Betrachtungsweise zuzugestehen. Im Rahmen dieses Gestaltungsfreiraums konnte er bestehende Unterschiede in der Altersstruktur der Betriebe außer acht lassen.
4. Zu Unrecht sieht die Beschwerdeführerin sich durch die angegriffenen Entscheidungen in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) verletzt.
a) Sie macht dazu geltend, die Beiträge wirkten wegen ihrer ganz beträchtlichen Höhe prohibitiv für die Tätigkeit eines Bauunternehmers. Auch diese Rüge bleibt ohne Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht hat grundsätzlich eine Betroffenheit von Arbeitgebern in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG durch Auferlegung von Zahlungsverpflichtungen zu Sozialkassen verneint (BVerfGE 55, 7 (25 ff.)). Abgesehen davon ist nicht ersichtlich, inwiefern sich Beiträge, die alle Unternehmer im weeennnichen gleichmäßig treffen, prohibitiv auf die Entscheidung für die Tätigkeit in einer bestimmten Branche auswirken können.
b) Auch der von der Beschwerdeführerin beanstandete „negative Kontrahierungszwang” der Vorruhestandsregelung ist jedenfalls durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt. Selbst wenn man eine Beeinträchtigung der Beschwerdeführerin in ihrer Berufsausübung darin sehen wollte, daß Arbeitnehmer die Vorruhestandsregelung auch gegen den Willen des Arbeitgebers in Anspruch nehmen können, wäre die Regelung in Anbetracht des mit ihr verfolgten wichtigen sozialpolitischen Zieles verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie ist insbesondere nicht unverhältnismäßig. Insofern fällt ins Gewicht, daß sie auf einem Konsens der Tarifvertragsparteien beruht, bei dem die Belange der Unternehmer mit denen der Arbeitnehmer zum Ausgleich gebracht worden sind. Daß die Interessen der Außenseiter in dem hier maßgeblichen Punkt strukturell anders gelagert sind als die der tarifgebundenen Betriebe, ist nicht erkennbar.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 60517 |
NZA 1992, 125 |
NZA 1992, 125-126 (LT) |
ZTR 1992, 21-23 (ST) |
AP TVG § 1, Nr. 147 Tarifverträge Bau (L) |
AP TVG § 5, Nr. 27 (LT) |