Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte billigt Tarifeinheitsgesetz
Das seit 2015 geltende - 2018 nachgebesserte - Tarifeinheitsgesetz hat Bestand. Seit geraumer Zeit wehren sich kleinere Gewerkschaften gegen das Gesetz, nach dem es pro Betrieb nur einen Tarifvertrag geben soll und sich die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb durchsetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einer aktuellen Entscheidung festgestellt, dass das deutsche Gesetz nicht gegen die Europäische Konvention der Menschenrechte verstößt.
EGMR: Gewerkschaften scheitern mit Klage gegen Tarifeinheitsgesetz
Mehrere kleine Gewerkschaften, so die Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund, die Lokführer-Gewerkschaft GDL und der Beamtenbund hatten Klagen beim EGMR in Straßburg eingereicht. Sie sahen sich durch das Tarifeinheitsgesetz in ihren Rechten geschwächt und beklagten einen Verstoß gegen das auch europäisch verbriefte Recht, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen. Dies hat der europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht bestätigt. Ein Verstoß gegen Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK) sei nicht ersichtlich, da den kleineren Gewerkschaften noch genug Rechte blieben, wie zum Beispiel Tarifverhandlungen oder Streiks. Zudem verwiesen die europäischen Richter darauf, dass es entsprechende Regelungen in zahlreichen europäischen Ländern gebe. Den Zweck des deutschen Gesetzes, mit dem verhindert werden soll, dass es nicht zu viele Streiks in Betrieben gebe, hielt das Gericht für wichtig und legitim.
Bundesverfassungsgesetz billigte Tarifeinheitsgesetz unter Auflagen
2017 waren einige der Gewerkschaften bereits mit ihren Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Das Gericht bestätigte damals die Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes. Es wies die Klagen mehrerer kleiner Gewerkschaften wie der GDL, der Pilotenvereinigung Cockpit und dem Marburger Bund gegen das Gesetz weitgehend ab. Die Karlsruher Richter forderten damals jedoch einige gesetzlichen Nachbesserungen, um der in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützten Tarifautonomie Rechnung zu tragen. Dieser Kritik nahm sich der Gesetzgeber 2018 mit einer Neuregelung des § 4a TVG an. Danach bleiben Minderheitstarifverträge im Falle einer Kollision gültig, wenn die Belange der Minderheitsgewerkschaft nicht ausreichend im Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft berücksichtigt werden.
Tarifeinheit versus Koalitionsfreiheit: Gesetz grundsätzlich verfassungsgemäß
Das Tarifeinheitsgesetz war von Anfang an rechtlich umstritten. Der Verlust des Tarifvertrags beeinträchtige das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, sagte 2017 der stellvertretende Verfassungsgerichtspräsident Ferdinand Kirchhof bei der Urteilsverkündung. Grundsätzlich sei der Gesetzgeber aber befugt, Strukturen zu schaffen, "die einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen aller Arbeitnehmer eines Betriebs hervorbringen".
Zudem entschied das Bundesverfassungsgericht: Die mit dem Tarifeinheitsgesetz verbundenen Belastungen seien in einer Gesamtabwägung überwiegend zumutbar, wenn ihnen durch eine restriktive Auslegung der Verdrängungsregelung (§ 4a Abs. 2 TVG), ihrer verfahrensrechtlichen Einbindung sowie durch eine weite Interpretation des Nachzeichnungsanspruchs die Schärfe genommen werden.
Bundesverfassungsgericht: Nachbesserung und konforme Auslegung
Konkret verlangten die Richter zum Beispiel, den Anspruch auf Nachzeichnung eines anderen Tarifvertrags verfassungskonform so auszulegen, dass er sich auf den gesamten verdrängenden Tarifvertrag bezieht. Zudem habe nach dem Tarifeinheitsgesetz die nicht selbst verhandelnde, aber tarifzuständige Gewerkschaft einen Anspruch darauf, dem Arbeitgeber ihre Vorstellungen vorzutragen. Diese Verfahrenspositionen, das machten die Verfassungsrichter deutlich, seien als echte Rechtspflichten zu verstehen. Werden diese verletzt, liegen die Voraussetzungen für eine Verdrängung nicht vor.
Und nicht zuletzt: Bei der Feststellung der tatsächlichen Stärke einer Gewerkschaft sei zu verhindern, dass es zur Offenlegung der Mitgliederstärke der Gewerkschaften kommt. Die Fachgerichte müssten hier die prozessrechtlichen Möglichkeiten nutzen, um dies möglichst zu vermeiden, gaben die Verfassungsrichter für künftige Streitigkeiten vor.
Verdrängung von Tarifverträgen: Nachbesserung bis Ende 2018
In einem Punkt müsse der Gesetzgeber bis Ende 2018 nachbessern, entschied das Bundesverfassungsgericht. Unvereinbar sei das Gesetz mit der Verfassung bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge. Hier bemängelten die Richter das Fehlen von Vorkehrungen, die verhindern, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen einseitig vernachlässigt werden. Hier hat der Gesetzgeber mittlerweile nachgebessert und mit der Änderung von § 4a des Tarifvertragsgesetzes (TVG) nun das Urteil umgesetzt.
Ein Betrieb-ein Tarifvertrag
Mit dieser Regelung wollte die Bundesregierung wieder für klare Verhältnisse sorgen und aufreibende Machtkämpfe verhindern. Denn vor der gesetzlichen Regelung gaben die Gerichte über viele Jahre bei solchen Konflikten dem Abschluss den Vorrang, der den Erfordernissen im Betrieb am besten gerecht wurde. Das Gesetz soll nun dafür sorgen, dass sich Rivalen von vornherein an einen Tisch setzen und sich abstimmen. Die kleineren Gewerkschaften fürchten seither jedoch um ihre Durchsetzungskraft.
Anlass für die Neuregelung war ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2010, das verschiedene Tarifverträge nebeneinander möglich machte. Mit dem Gesetz wollte die Bundesregierung zurück zu der über Jahrzehnte gängigen Praxis nach dem Motto "ein Betrieb - ein Tarifvertrag".
Hinweis: EGMR, Urteil vom 5. Juli 2022, CEDH 231 ; BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2017, Az. 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16
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