Unternehmen umgehen Mitbestimmung durch Rechtsform SE

40 Prozent der Unternehmen mit über 2.000 Inlandsbeschäftigten fehlte 2022 ein paritätisch besetzter Aufsichtsrat. Immer mehr Unternehmen nutzen rechtliche Lücken, um die Mitbestimmung legal zu umgehen. Das zeigt eine Analyse des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) zusammen mit der Hans-Böckler-Stiftung.

Die Bundesregierung hatte nach der letzten Bundestagswahl angekündigt, einige  Gesetzeslücken schließen zu wollen, die es aktuell leicht machen, beispielsweise über die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) die Mitbestimmung von Beschäftigten zu verhindern. Passiert ist bisher nichts. Der Trend zur Mitbestimmungsvermeidung hält dagegen an: Hatte 2015 im damaligen DAX30 lediglich ein Unternehmen keine paritätische Mitbestimmung, so waren es bei der Bildung des DAX40 im Jahr 2021 zwölf.

Für die Mitbestimmung ist die SE zu einem Problem geworden

Für das Arbeitnehmerrecht auf Mitbestimmung ist vor allem die SE in Deutschland zu einem großen Problem geworden, wie die aktuelle Analyse des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) mit der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Die Untersuchung hat ergeben, dass 68 von 87 aktiven deutschen SE (Stand 2022), die mehr als 2.000 Beschäftigte im Inland haben, nicht paritätisch besetzt sind. Zusammen haben die Unternehmen mehr als 300.000 Beschäftigte. Wären sie etwa Aktiengesellschaften nach deutschem Recht (AG), könnten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz zahlenmäßig paritätisch mitentscheiden.

Mitbestimmung: Unterschiede zwischen deutscher Aktiengesellschaft (AG) und europäischer Aktiengesellschaft (SE)

Das Problem: Bei einer deutschen AG oder GmbH garantieren die Mitbestimmungsgesetze ab 501 bzw. 2.001 inländischen Beschäftigten den Arbeitnehmenden ein Drittel bzw. die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat. Hingegen gelten bei der SE zwei Grundsätze: "Mitbestimmung ist Verhandlungssache" und "Der zum Zeitpunkt der SE-Gründung festgeschriebene Mitbestimmungsstatus bleibt für immer".

Wachsende Unternehmen, die Arbeitnehmerbeteiligung verhindern wollen, firmieren deshalb häufig dann in eine SE um, wenn sie sich den einschlägigen "Schwellenwerten" bei den Beschäftigtenzahlen nähern. Geschieht das beispielsweise bei bis zu 500 Beschäftigten im Unternehmen, wenn auch mit deutscher Rechtsform noch keinerlei Anspruch auf Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat besteht, kann dieser Zustand dauerhaft festgeschrieben werden, egal wie groß das Unternehmen nachträglich noch wird.

Gezieltes "Einfrieren" des Mitbestimmungsstatus

Fachleute bezeichnen dieses Vorgehen auch als "Einfrieren". Dementsprechend sind paritätisch mitbestimmte SE ganz überwiegend große Unternehmen, die schon vor der Umwandlung paritätisch mitbestimmt waren oder Tochtergesellschaften sehr großer paritätisch mitbestimmter Unternehmen sind. Einige EU-Staaten beugen dem "Einfrieren" bereits gesetzlich vor.

Etliche der Unternehmen sind ganz überwiegend im Inland aktiv, obwohl die SE eigentlich dazu dienen sollte, grenzüberschreitend tätigen Unternehmen die Arbeit zu erleichtern.

Nur jede sechste große SE ist paritätisch mitbestimmt

"Bei der derzeitigen Rechtslage ist die SE ein Kernproblem für die Partizipation im Aufsichtsrat", sagt Dr. Sebastian Sick, IMU-Experte für Unternehmensrecht und Mitglied der Regierungskommission. Prominente Beispiele fehlender Mitbestimmung sind der Autohersteller Tesla, der Impfstoffhersteller BioNtech, der Personaldienstleister Kötter, Flaschenpost, das Technologieunternehmen Freudenberg, der Baugerätehersteller Wacker Neuson sowie mit dem Wohnungsunternehmen Vonovia und dem Versandhändler Zalando sogar zwei DAX40-Konzerne. Und das, obwohl ein Drittel dieser Unternehmen nahezu ausschließlich im Inland Beschäftigte hat. Zwei Drittel dieser "Inlands-SE" befinden sich wiederum in Familienbesitz, wie Sixt, Deichmann oder der Krankenhauskonzern Schön Klinik.

Eine Variante ist die Rechtsform der SE & Co. KG. Diese Gruppe ist mit 35 Unternehmen laut der Untersuchung in den letzten Jahren besonders schnell gewachsen. Zusammengenommen haben damit mindestens 103 SE bzw. SE-basierte Unternehmen mit jeweils mehr als 2000 inländischen Beschäftigten keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat. Das sind fünf von sechs großen deutschen SEs, in denen zusammen fast 500.000 Menschen arbeiten, konstatiert Sick.
 

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