OFD Düsseldorf, Verfügung v. 21.7.2005, S 0351
1. Grundsatz
Für die Frage, ob eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO – zuungunsten – oder nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO – zugunsten – des Stpfl. in Betracht kommt, ist auf die steuerliche Auswirkung abzustellen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift („höhere Steuer” bzw. „niedrigere Steuer”) ist hierfür allein auf das Ergebnis der Steuerfestsetzung – ohne Berücksichtigung von Steuerabzugsbeträgen wie z.B. LSt-Abzugsbeträgen – abzustellen. Dies entspricht der Gesetzessystematik. Geändert wird nach § 173 AO die festgesetzte Steuer, nicht aber die Abrechnung bzw. die Anrechnungsverfügung. Die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO sind nur im Steuerfestsetzungsbereich anwendbar; für den Erhebungsbereich sind die §§ 130, 131 AO einschlägig.
Dem steht auch das BFH-Urteil vom 16.3.1990 (BStBl 1990 II S. 610) nicht entgegen, weil sowohl aus dem Tenor als auch aus den Gründen erkennbar ist, dass die „mit einer Nettolohnvereinbarung zusammenhängenden Besonderheiten (es) … geboten erscheinen (lassen), bei dem für die §§ 172 Abs. 1 Nr. 2a und 173 Abs. 1 AO 1977 erforderlichen Vergleich auch die anrechenbaren Abzugssteuern zu berücksichtigen.” In dem Urteilsfall war der Betrag, um den die Einkünfte zu erhöhen waren, gleichzeitig der Betrag, der auf die festgesetzte Steuer anzurechnen war. Dies bedeutet, dass mit der Entscheidung im Festsetzungsbereich auch unmittelbar über die Anrechnung dem Grund und der Höhe nach entschieden worden wäre.
2. Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung gem. § 173 AO aufgrund nachträglich bekannt gewordener Steuerabzugspflichtiger Kapitalerträge
Werden dem FA nach bestandskräftig durchgeführter ESt.-Festsetzung bisher nicht erklärte, dem Steuerabzug (KapSt.) unterworfene Kapitalerträge bekannt, die zu einer höheren Steuer führen, so ist die Steuerfestsetzung auch dann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn sich nach Anrechnung der KapSt eine niedrigere verbleibende ESt-Steuerschuld und damit ein Steuererstattungsanspruch ergibt.
3. Anrechnung der Kapitalertragsteuer bei Änderung nach § 173 Abs. 1 AO
Die regelmäßig mit der ESt-Festsetzung verbundene Anrechnung der Steuerabzugbeträge stellt einen selbstständigen Verwaltungsakt „Anrechnungsverfügung” im Erhebungsbereich dar, der zugunsten oder zuungunsten des Stpfl. nur unter den Voraussetzungen der §§ 129 bis 131 AO korrigiert werden kann (vgl. AEAO zu § 218, Nr. 3; H 213d – Anrechnung – EStH 2003).
4. Nachträgliche Anrechnung der Kapitalertragsteuer bei Unterbleiben der Änderung nach § 173 Abs. 1 AO
Der nachträglichen Berücksichtigung der KapSt steht dem Korrespondenzprinzip des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht entgegen, wenn die Änderung der Steuerfestsetzung im Hinblick auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge unterbleibt, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen – unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge – den Werbungskosten-Pauschbetrag (§ 9a EStG) und den Sparer-Freibetrag (§ 20 Abs. 4 EStG) nicht übersteigen oder die Steuerschuld aus anderen Gründen – trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte – unverändert bleibt. Auch in solchen Fällen ist von der Erfassung der Kapitaleinkünfte i.S. des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen, weshalb – bei Vorlage der Steuerbescheinigung – die KapSt auch in diesen Fällen noch nachträglich angerechnet werden kann.
5. Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO)
Die Anwendung der 10-jährigen Festsetzungsfrist setzt voraus, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) objektiv und subjektiv erfüllt ist. Er ist im vorliegenden Zusammenhang in objektiver Hinsicht stets dann erfüllt, wenn die Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge zu einer höheren ESt-Schuld führt.
Ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung in subjektiver Hinsicht aufgrund vorsätzlichen Handelns des Stpfl. erfüllt ist, muss jeweils nach den Verhältnissen des Einzelfalls entschieden werden. Steuerhinterziehung oder auch nur leichtfertige Steuerverkürzung liegt nicht vor, wenn die auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge entfallende anrechnungsfähige KapSt den ESt-Mehrbetrag, der sich bei Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge ergibt (Unterschiedsbetrag zwischen alter und neuer ESt-Schuld), übersteigt, wenn die Anrechnung der KapSt also zu einer Steuererstattung führt. Es liegt in diesen Fällen keine vollendete Steuerhinterziehung vor, da der für die Erfüllung des objektiven Tatbestands in § 370 vorausgesetzte Taterfolg der Steuerverkürzung durch die Nichtangabe der Kapitalerträge nicht eingetreten ist. In solchen Fällen ist die 10-jährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht anwendbar. Nach Ablauf der vierjährigen Steuerfestsetzungsfrist ist in Erstattungsfällen daher keine Änderung der Steuerfestsetzung und aufgrund des Korrespondenzprinzips damit auch keine Anrechnung der KapSt mehr möglich.
Normenkette
AO 1977 ...