Rz. 109
Die nachfolgenden Ausführungen betreffen nicht nur die Masseunzulänglichkeit im eröffneten Insolvenzverfahren, sondern auch die Konstellation, dass ein sogenannter "vorläufiger starker Insolvenzverwalter" (s. Rz. 99) bestellt ist (§§ 21 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. InsO, 22 Abs. 1 InsO). Auch insofern kommt es in Bezug auf das Vorliegen von Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 2 Satz 2 InsO) darauf an, ob der vorläufige starke Insolvenzverwalter die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers in Anspruch genommen hat.
Reicht die Insolvenzmasse nicht aus, um alle Masseverbindlichkeiten auszugleichen, liegt Masseunzulänglichkeit vor. Hat der Insolvenzverwalter dem Insolvenzgericht die Masseunzulänglichkeit nach § 208 Abs. 1 InsO angezeigt, richtet sich die Rangordnung, in der Masseverbindlichkeiten zu erfüllen sind, nach § 209 InsO. Danach ist zwischen sogenannten Alt- und Neumasseverbindlichkeiten zu unterscheiden. Neumasseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 InsO) sind vor den anderen (Alt-)Masseverbindlichkeiten zu erfüllen (vgl. § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Nur die Arbeitnehmer, die vom Insolvenzverwalter nicht freigestellt werden, sollen auch Anspruch auf die volle Befriedigung im Rahmen der Neumasseverbindlichkeiten haben. Eine Neumasseverbindlichkeit liegt deshalb vor, wenn der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit die "Gegenleistung" des Arbeitnehmers – also dessen Arbeitsleistung – tatsächlich in Anspruch genommen hat, § 209 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO.
Unproblematisch sind die Ansprüche von Arbeitnehmern auf Urlaubsentgelt und Urlaubsgeld, die vom Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit unwiderruflich unter Anrechnung auf offenen Urlaub von jeder Arbeitsleistung freigestellt worden sind. Da ihre Arbeitsleistung – zu keinem Zeitpunkt nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit – in Anspruch genommen worden ist, liegen keine Neumasseverbindlichkeiten vor.
Rz. 110
Vollkommen neu zu betrachten sind jedoch die Fälle, in denen Arbeitnehmer vom Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit zur Arbeitsleistung herangezogen worden sind. Nach bisheriger Rechtsprechung galt Folgendes: Der auf die Dauer der tatsächlichen Inanspruchnahme der Arbeitsleistung durch den Insolvenzverwalter entfallende "anteilige" Geldwert des Urlaubs war als Neumasseverbindlichkeit zu berücksichtigen. Maßgeblich sollte deshalb das Verhältnis der möglichen Arbeitstage im Jahr zu den vom Arbeitnehmer nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit geleisteten Arbeitstagen sein. Zur Berechnung sollte bei einem in der 5-Tage-Woche beschäftigten Arbeitnehmer das für den gesamten Jahresurlaub zustehende Urlaubsentgelt durch 260 (52 Kalenderwochen × 5 Arbeitstage) zu dividieren und mit den nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit geleisteten Arbeitstagen einschließlich entschuldigter Fehlzeiten zu multiplizieren sein, an denen er zur Beschäftigung herangezogen worden ist. Die Formel zur Berechnung des anteiligen, als Neumasseverbindlichkeit zu erfüllenden Urlaubsentgelts lautete:
Jahresurlaubsentgelt × Arbeitstage nach Masseunzulänglichkeitsanzeige (inklusive entschuldigter Fehlzeiten) : 260 Jahresarbeitstage
Die bis zur 4. Auflage gemäß dieser bisherigen Rechtsprechung auch hier vertretene Auffassung wird aufgegeben. Die neue Rechtsprechung des BAG stellt – auch wenn sie eine finanzielle Belastung der Insolvenzmasse bedeutet und damit die Fortführung eines Unternehmens erschweren kann – die konsequente Anwendung des geänderten Verständnisses des Urlaubsanspruchs vor dem Hintergrund unionsrechtlicher Vorgaben als Befreiung von der Arbeitspflicht und Fortzahlung der vertraglichen Vergütung dar.
Ansprüche auf Urlaubsentgelt und Urlaubsabgeltung sind bei Inanspruchnahme der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers in vollem Umfang Masseverbindlichkeiten (§§ 55 Abs. 2 Satz 2, 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO). Die Rechtslage dieser Ansprüche hat sich gravierend verändert. Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat dem 9. Senat bzgl. eines Urlaubsabgeltungsanspruchs (§ 7 Abs. 4 BUrlG) die Frage vorgelegt, ob dieser an der Quotelung festhält, wonach nur derjenige anteilige Geldwert des Urlaubs eine (Neu-)Masseverbindlichkeit darstellt, der auf die Dauer der Arbeitsleistung entfällt, die nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit tatsächlich entgegengenommen worden ist. Der 9. Senat hat darauf geantwortet, dass er nicht an seiner Rechtsprechung festhält und darüber hinaus klargestellt, dass dies auch für die Frage des Urlaubsentgelts – also der finanziellen Seite des gewährten Urlaubs im bestehenden Arbeitsverhältnis – gilt. Betroffen von dieser Rechtsprechungsänderung sind zudem nicht nur Neumasseverbindlichkeiten im eröffneten Insolvenzverfahren gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO, sondern auch Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO, die sich gegen einen starken vorläufigen Insolvenzverwalter richten. Daraufhin war der Weg frei für den 6. Senat, der mit Urteil v. 25.11.2021 entschied...