Rz. 212
Die Entscheidungen des EuGH und des BAG betreffen zunächst nur den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch von 4 Wochen (24 Werktage). Daneben betrifft die neue Rechtsprechung auch den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, da der Zusatzurlaubsanspruch aus § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX an das rechtliche Schicksal des Mindesturlaubsanspruchs gebunden ist.
Rz. 213
Das BAG hat bereits in der ersten Entscheidung auch klare Aussagen dazu gemacht, was mit einem vertraglichen oder tarifvertraglich geregelten Mehrurlaub geschieht. Für den vertraglichen Urlaubsanspruch ist das BAG bereits bisher davon ausgegangen, dass der Mehrurlaub den Regeln des gesetzlichen Urlaubsanspruchs folgt.
Eine Unterscheidung zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen vertraglichen Ansprüchen ist nur dann möglich, wenn im Rahmen der Auslegung nach den §§ 133, 157 BGB deutliche Anhaltspunkte für einen entsprechenden Regelungswillen bestehen. Dem ersten Fall, den das BAG zu entscheiden hatte, lag eine vertragliche Bezugnahme auf die kirchliche Arbeits- und Vergütungsordnung (KAVO EKD) zugrunde, die von § 7 Abs. 3 BUrlG abweichende Regelungen zur Befristung enthält. An dieser Auffassung hat das BAG unter sorgfältiger Auseinandersetzung mit der zwischenzeitlich erfolgten Kritik in der Folgeentscheidung auch für eine tarifvertragliche Regelung festgehalten. Für einen Regelungswillen, der zwischen Ansprüchen auf Abgeltung von Mindest- und Mehrurlaub unterscheidet, müssen auch bei Tarifverträgen, die vor der Schultz-Hoff-Entscheidung des EuGH geschlossen wurden, deutliche Anhaltspunkte bestehen. Zu prüfen ist, ob die Tarifvertragsparteien ein weitgehend vom Gesetzesrecht gelöstes Urlaubsregime geschaffen haben. Im konkreten Fall waren folgende Punkte für ein eigenständiges Urlaubsregime ausschlaggebend:
- ausdrückliche Regelung des Verfalls des nicht rechtzeitig angetretenen Urlaubs
- abweichende Befristungsregelungen, mit Besonderheiten, wenn ein Arbeitnehmer den Urlaub wegen Arbeitsunfähigkeit nicht innerhalb des Fristenregimes antreten kann
- Sonderregelungen bei verminderter Erwerbsunfähigkeit
- teilweise Differenzierung zwischen Mehrurlaub und gesetzlichem Mindesturlaub bei der Urlaubsabgeltung.
Ein eigenständiger, dem Gleichlauf der Urlaubsansprüche entgegenstehender Regelungswille, muss sich auf den jeweiligen Regelungsgegenstand beziehen. Es muss ein innerer Zusammenhang zwischen der im Streit stehenden Regelung und der abweichenden tariflichen Regelung bestehen. Enthält ein Tarifvertrag keine Regelung zur Befristung, entsteht kein unbefristeter Anspruch auf den tariflichen Mehrurlaub. Bei einer Nichtregelung folgt der tarifliche Mehrurlaub dem Befristungsregime des gesetzlichen Mindesturlaubs.
Ein Gleichlauf ist dann nicht gewollt, wenn die Tarifvertragsparteien entweder bei der Befristung und Übertragung oder beim Verfall des Urlaubs zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub unterscheiden oder sich vom gesetzlichen Fristenregime gelöst haben. Haben sich die Arbeitsvertrags- oder Tarifvertragsparteien dementsprechend vom Fristenregime gelöst, betrifft dies das Befristungsende. Das spricht auf den ersten Blick dafür, dass in diesem Fall Mitwirkungsobliegenheiten für den Mehrurlaub nicht gelten oder zumindest keine Auswirkungen auf das Fristende haben. Das BAG sieht dies zu Recht anders. Es ordnet die Mitwirkungsobliegenheiten dem Verfahren der Gewährung und Inanspruchnahme nach § 7 Abs. 1 BUrlG zu. Aus einem abweichenden Fristenregime ergibt sich danach keine Abweichung hinsichtlich der Obliegenheit des Arbeitgebers, dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, den tariflichen Mehrurlaub zu nehmen. Erst mit Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten (hierzu Rz. 7 ff.) auch bezüglich des tariflichen Mehrurlaubs beginnen die abweichenden Fristen zu laufen.
Für die Frage, ob der tarifliche Mehrurlaub bei Arbeitsunfähigkeit verfällt, ist entscheidend, ob die Tarifparteien sich von dem Fristenregime in § 7 Abs. 3 BUrlG gelöst haben und der Arbeitnehmer nach der tariflichen Regelung das Risiko trägt, dass der Anspruch auf den tariflichen Mehrurlaub infolge Arbeitsunfähigkeit nicht erfüllbar ist.
Beispiel
§ 12 Abschnitt IV Nr. 2 Satz 2 MTV Chemie vom 24.6.1992 i. d. F. vom 17.10.2013 lautet wie folgt: "Soweit jedoch bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Urlaubsanspruch noch nicht erfüllt ist, ist er abzugelten. Nicht erfüllbare Urlaubsansprüche sind nicht abzugelten."
Diese Verlagerung des Risikos, dass der Arbeitnehmer bei Arbeitsunfähigkeit Urlaub nicht in Anspruch nehmen konnte, ist, soweit der über den gesetzlichen Urlaubsanspruch hinausgehende tarifliche Mehrurlaub betroffen ist, mit höherrangigem Recht vereinbar.
Rz. 214
Zulässig ist es daher weiterhin, durch eine ausdrückliche und eindeutige Vereinbarung den vertraglichen Mehrurlaub den bisher geltenden Regelungen zur Befristung und Erfüllbarkeit zu unterwerfen.
Sinnvoller ist jedoch eine Regelu...