OFD Frankfurt, Verfügung v. 4.8.2006, S 0353 A - 5 - St 21
Bezug: BMF-Schreiben vom 11.7.2006, IV A 4 – S 0062 – 4/06 (BStBl 2006 I S. 438)
1. Aufhebung oder Änderung von Folgebescheiden nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
1.1 Grundlagenbescheide i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 sind Feststellungsbescheide, Steuermessbescheide oder sonstige für eine Steuerfestsetzung bindende Verwaltungsakte (§ 171 Abs. 10). Auch Verwaltungsakte anderer Behörden, die keine Finanzbehörden sind, können Grundlagenbescheide sein (z.B. Verwaltungsakte der zuständigen Behörden, die den Grad einer Behinderung i.S.d. § 33b EStG feststellen). Diese außersteuerlichen Grundlagenbescheide sind auch dann bindend, wenn sie aufgrund der für sie maßgebenden Verfahrensvorschriften nach Ablauf der für steuerliche Grundlagenbescheide geltenden Festsetzungsfrist (§§ 169 ff.) ergehen.
1.2 Die Anpassung des Folgebescheids an einem Grundlagenbescheid steht nicht im Ermessen der Finanzbehörde (BFH-Urteil vom 10.6.1999, BStBl 1999 II S. 545). Der vom Grundlagenbescheid ausgehenden Bindungswirkung (§ 182 Abs. 1) ist durch Änderung des Folgebescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Rechnung zu tragen, wenn der Folgebescheid die mit dem Grundlagenbescheid getroffene Feststellung nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt. Eine Anpassung des Folgebescheides an den Grundlagenbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ist auch dann vorzunehmen, wenn der Grundlagenbescheid
- erst nach Erlass des Folgebescheides ergangen ist (siehe §§ 155 Abs. 2 und 162 Abs. 5),
- bei Erlass des Folgebescheides übersehen wurde (BFH-Urteile vom 9.8.1983, BStBl 1984 II S. 86 und vom 6.11.1985, BStBl 1986 II S. 168; vgl. auch BFH-Urteil vom 16.7.2003, BStBl 2003 II S. 867, zur Anwendbarkeit des § 129, wenn die Finanzbehörde die Auswertung des Grundlagenbescheids nicht bewusst unterlassen hat),
- bei Erlass des Folgebescheides bereits vorlag, die im Grundlagenbescheid getroffenen Feststellungen aber fehlerhaft berücksichtigt worden sind (BFH-Urteile vom 14.4.1988, BStBl 1988 II S. 711, vom 4.9.1996, BStBl 1997 II S. 261, und vom 10.6.1999, BStBl 1999 II S. 545).
1.3 Wird ein Grundlagenbescheid ersatzlos aufgehoben, so eröffnet dies dem für den Erlass des Folgebescheides zuständigen FA die Möglichkeit, den Sachverhalt, der bisher Gegenstand des Feststellungsverfahrens war, selbstständig zu beurteilen und den Folgebescheid insoweit nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zu ändern (BFH-Urteile vom 25.6.1991, BStBl 1991 II S. 821 und vom 24.3.1998, BStBl 1998 II S. 601). Das Gleiche gilt, wenn ein zunächst eingeleitetes Feststellungsverfahren zu einem sog. negativen Feststellungsbescheid führt (BFH-Urteil vom 11.5.1993, BStBl 1993 II S. 820) oder wenn einzelnen Besteuerungsgrundlagen nachträglich aus dem Feststellungsverfahren ausgeschieden werden (BFH-Urteile vom 11.4.1990, BFH/NV 1991 S. 143, vom 25.6.1991, BStBl 1991 II S. 821, vom 14.7.1993, BStBl 1994 II S. 77, und vom 7.12.1993, BFH/NV 1994 S. 547, sowie BFH-Beschluss vom 8.9.1998, BFH/NV 1999 S. 157).
1.4 Sind die Voraussetzungen für eine Steuervergünstigung durch einen außersteuerlichen Grundlagenbescheid nachzuweisen, so steht der Anpassung des Steuerbescheides (Folgebescheid) an den Grundlagenbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 nicht entgegen, dass der Steuerpflichtige den für die Steuervergünstigung erforderlichen, aber nicht fristgebundenen Antrag erst nach Unanfechtbarkeit des Steuerbescheides gestellt hat (BFH-Urteil vom 13.12.1985, BStBl 1986 II S. 245).
2. Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden wegen Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2)
2.1 Die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 setzt voraus, dass nachträglich ein Ereignis eingetreten ist, die steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Hierzu rechnen alle rechtlich bedeutsamen Vorgänge, aber auch tatsächlichen Lebensvorgänge, die steuerlich – ungeachtet der zivilrechtlichen Wirkungen – in der Weise Rückwirkung entfalten, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist (BFH-Beschluss GrS vom 19.7.1993, BStBl 1993 II S. 897, m.w.N.).
2.2 Ob einer nachträglichen Änderung des Sachverhaltes rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, bestimmt sich allein nach dem jeweils einschlägigen materiellen Steuerrecht. Nach diesem ist zu beurteilen, ob zum einen eine Änderung des ursprünglichen gegebenen Sachverhalts den Steuertatbestand überhaupt betrifft und ob sich darüber hinaus der bereits entstandene materielle Steueranspruch mit steuerlicher Rückwirkung ändern (BFH-Beschluss GrS vom 19.7.1993a.a.O.).
Der Fall eines rückwirkenden Ereignisses liegt vor allem dann vor, wenn die Besteuerung nach dem maßgeblichen Einzelsteuergesetz nicht an Lebensvorgänge, sondern unmittelbar oder mittelbar an Rechtsgeschäfte, Rechtsverhältnisse oder Verwaltungsakten anknüpft und diese Umstände nachträglich mit Wirkung für die Vergangenheit gestaltet werden (BFH-Urteil v...