Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifvertragsauslegung. Sondervergütung für Chormitglieder
Orientierungssatz
- Nach § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz erhält das Opernchormitglied für das Singen einer Großen Choroper in fremder Sprache (§ 54 Abs. 3 Buchst. b NV Chor/Tanz) eine Drittel-Tagesgage je Vorstellung. Ob eine Große Choroper vorliegt, bestimmt sich gem. der Protokollnotiz zu § 54 Abs. 3 Buchst. b NV Chor/Tanz nach der 8. Auflage des “Handbuch der Oper” von Rudolf Kloiber. Danach ist das Bühnenwerk “Carmina Burana” keine Oper und schon deshalb auch keine Große Choroper im Sinne der genannten Tarifbestimmungen.
- Eine Vorstellung beinhaltet nach dem allgemeinen Sprachgebrauch üblicherweise auch eine szenische Darstellung. In Abgrenzung zu dem Begriff “Vorstellung” ist der Begriff “Aufführung” weiter. Ein musikalisches Bühnenwerk kann szenisch unter Zuhilfenahme schauspielerischer oder tänzerischer Darstellungsformen dargeboten werden. Es ist möglich, auf diese bildhaften Darstellungsformen zu verzichten und das Bühnenwerk allein durch seine musikalische Darbietung, in Form einer konzertanten Aufführung, auf das Publikum wirken zu lassen. Sofern das Bühnenwerk “Carmina Burana” nicht szenisch aufgeführt, sondern lediglich musikalisch dargeboten wird, liegt keine “Vorstellung” iSv. § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz vor.
Normenkette
Normalvertrag Chor/Tanz (NV Chor/Tanz) vom 2. November 2000 § 62 Abs. 2 Buchst. c und d, Abs. 1, Abs. 3; § 58 Abs. 1, § 54 Abs. 1 und Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
- Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 4. Oktober 2005 – 13 (6) Sa 626/05 – aufgehoben.
- Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 23. Februar 2005 – 11 (10) Ca 14065/03 – abgeändert:
- Auf die Klage der Klägerin wird der Schiedsspruch des Bühnenoberschiedsgerichts für Opernchöre vom 11. September 2003 – OSchG C 3/03 – aufgehoben und auf die Berufung der Klägerin und Beklagten des schiedsgerichtlichen Verfahrens wird der Schiedsspruch des Bühnenschiedsgerichts für Opernchöre vom 19. Februar 2003 – BSchG C 9/02 – aufgehoben; die Schiedsklage wird abgewiesen.
- Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Im Wege der Aufhebungsklage streiten die Parteien über die Zahlung von Sondervergütungen für die Mitwirkung bei der konzertanten Aufführung des Werkes “Carmina Burana” von Carl Orff.
Die Beklagten sind Mitglieder des Opernchors der Klägerin. Die Arbeitsverhältnisse zwischen den Parteien bestimmten sich kraft Tarifbindung oder einzelvertraglicher Vereinbarung zunächst nach dem Normalvertrag Chor, später in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt (30. Juni 2002) nach dem Normalvertrag Chor/Tanz vom 2. November 2000 (kurz: NV Chor/Tanz) und bestimmen sich heute nach dem NV Bühne.
Die Beklagten machen gegen die Klägerin einen Vergütungsanspruch gemäß § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz für ihre Mitwirkung an der Aufführung des Werkes “Carmina Burana” am 30. Juni 2002 geltend. Unstreitig ist, dass bei dieser Aufführung das Werk nicht szenisch zur Aufführung gelangt ist, sondern nur im Rahmen eines Konzerts ohne Bühnengeschehen gesungen worden ist. Die Beklagten haben ihre Partien nicht auswendig, sondern aus dem ihnen vorliegenden Notenmaterial gesungen. Bei der konzertanten Aufführung von “Carmina Burana” am 30. Juni 2002, 17.00 Uhr, handelte es sich um ein Konzert in der Freiberger Nikolaikirche, einer Konzertstätte der Klägerin, aus Anlass der Eröffnungsfeierlichkeiten derselben. In den hier einschlägigen Tarifbestimmungen heißt es:
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Besondere Mitwirkungspflicht – Chor
(1) Die Mitwirkungspflicht des Opernchormitglieds umfasst alle darstellerischen Tätigkeiten zur künstlerischen Ausgestaltung der Chorleistung. Soweit eine Oper oder Operette die Mitwirkung eines Opernchors vorsieht, ist dieser in der Regel mit Mitgliedern aus dem Opernchor der Bühne(n) zu besetzen.
…
(3) Das Opernchormitglied ist darüber hinaus zu folgender Mitwirkung verpflichtet
a) zur Übernahme von kleineren Rollen oder Partien,
b) zum Singen einer mittleren oder großen Choroper in fremder Sprache, jedoch nicht in einer anderen als der Originalsprache des Librettos,
c) zu anderen Tanzleistungen, als sie in Absatz 2 Buchst. h vorgesehen sind.
Protokollnotiz zu Absatz 3 Buchst. b:
Ob für den Herrenchor und den Damenchor eine große oder mittlere Choroper vorliegt, bestimmt sich nach der 8. Auflage des “Handbuch der Oper” von Rudolf Kloiber. Nicht im “Handbuch der Oper” aufgeführte Opern sind nach gleichen Maßstäben zu beurteilen.
…
§ 58
Vergütung – Chor
(1) Die Vergütung der Opernchormitglieder besteht aus der Gage (§ 59), dem Ortszuschlag (§ 60) und der Zulage
(§ 61).
…
§ 62
Sondervergütungen – Chor
(1) Mit der Vergütung (§ 58 Abs. 1) sind die von dem Opernchormitglied nach diesem Tarifvertrag zu erbringenden Arbeitsleistungen abgegolten, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 4 nichts anderes ergibt.
(2) Neben der Vergütung (§ 58 Abs. 1) erhält das Opernchormitglied zusätzlich für
a) die Übernahme kleinerer Rollen oder Partien (§ 54 Abs. 3 Buchst. a) eine angemessene Sondervergütung,
b) das Singen einer mittleren Choroper in fremder Sprache (§ 54 Abs. 3 Buchst. b) eine Viertel- Tagesgage (§ 58 Abs. 2) je Vorstellung, sofern das Werk nicht in italienischer, französischer oder englischer Sprache aufgeführt wird,
c) das Singen einer großen Choroper in fremder Sprache (§ 54 Abs. 3 Buchst. b) eine Drittel-Tagesgage (§ 58 Abs. 2) je Vorstellung,
d) die Mitwirkung an einer zweiten oder dritten an demselben Tag stattfindenden Aufführung mindestens je eine halbe Tagesgage (§ 58 Abs. 2),
e) andere Tanzleistungen (§ 54 Abs. 3 Buchst. c) eine angemessene Vergütung.
(3) Für die Mitwirkung in Konzerten erhält das Opernchormitglied neben der Vergütung (§ 58 Abs. 1) eine angemessene Sondervergütung von einer bis zu vier Tagesgagen (§ 58 Abs. 2), es sei denn, es handelt sich um Konzerte aus besonderen Anlässen oder konzertante Aufführungen eines musikalischen Bühnenwerks.
(4) In den Fällen des Absatzes 2 Buchst. b bis e und des Absatzes 3 kann statt der vorgesehenen Sondervergütungen – im Einvernehmen mit dem Opernchorvorstand – auch ein angemessener Freizeitausgleich gewährt werden.
Die Höhe der besonderen Vergütung (Absatz 2 Buchst. a und e, Absatz 3) oder der Umfang des angemessenen Freizeitausgleichs sollen vor der Premiere vereinbart werden.
(5) Den Opernchormitgliedern kann für besondere künstlerische Leistungen eine einmalige oder zeitlich befristete Prämie gewährt werden. Der Grund für die Befristung ergibt sich aus den künstlerischen Belangen der Bühne.
Protokollnotiz zu Absatz 1:
Nicht zu vergüten ist die Mitwirkung des Damenchors in “Rigoletto”.
Protokollnotiz zu Absatz 3:
1. Unter “Konzert” (bzw. “Konzerte”) ist nicht die einzelne Konzertveranstaltung, sondern die jeweilige Konzerteinstudierung einschließlich einer oder mehrere Aufführungen zu verstehen.
2. Als Konzert gilt auch das szenisch aufgeführte große Chorwerk (Anlage 3).”
Die Beklagten haben die Ansicht vertreten, die Klägerin müsse ihnen für die Aufführung von “Carmina Burana” am 30. Juni 2002 eine Sondervergütung gemäß § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz zahlen, da es sich um eine Große Choroper in fremder Sprache handele. Sie haben die Klägerin demgemäß beim Schiedsgericht für Opernchöre im Verfahren – BSchG C 9/02 – auf Zahlung wie folgt in Anspruch genommen: An den Beklagten zu 1) 21,26 Euro, an die Beklagte zu 2) 21,73 Euro, an die Beklagte zu 3), den Beklagten zu 4), den Beklagten zu 5) je 20,28 Euro, an den Beklagten zu 6) 20,25 Euro, an den Beklagten zu 7) 19,76 Euro, an den Beklagten zu 8) 20,32 Euro, an den Beklagten zu 9) und an die Beklagte zu 10) je 22,12 Euro, an die Beklagte zu 11) 20,28 Euro und an den Beklagten zu 12) 19,89 Euro nebst 4 % Zinsen seit dem 15. August 2002. Das Schiedsgericht hat den Anträgen durch Schiedsspruch vom 19. Februar 2003 stattgegeben. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberschiedsgericht für Opernchöre den Schiedsspruch am 11. September 2003 bestätigt.
Die Klägerin hat gegen diesen Schiedsspruch Aufhebungsklage erhoben und die Ansicht vertreten, der Schiedsspruch des Bühnenoberschiedsgerichts beruhe auf einer Verletzung der Tarifbestimmungen in §§ 54, 58 und 62 NV Chor/Tanz. Die Auslegung des Tarifvertrags ergebe, dass es sich bei der hier streitigen Veranstaltung um keine Große Choroper und auch keine Vorstellung iSd. § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz gehandelt habe, sondern um eine konzertante Aufführung eines musikalischen Bühnenwerks iSd. § 62 Abs. 3 NV Chor/Tanz. Beide Sondervergütungstatbestände könnten nicht nebeneinander vorliegen. Bei § 62 Abs. 3 NV Chor/Tanz handele es sich gegenüber § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz um eine Spezialvorschrift.
Die Klägerin hat beantragt,
den Schiedsspruch des Bühnenschiedsgerichts für Opernchöre vom 19. Februar 2003 – BSchG C 9/02 – und den Schiedsspruch des Bühnenoberschiedsgerichts vom 11. September 2003 – OSchG C 3/03 – aufzuheben und die Klage der hiesigen Beklagten gegen die hiesige Klägerin vom 25. September 2002 abzuweisen.
Die Beklagten haben beantragt, die Aufhebungsklage abzuweisen und die Ansicht vertreten, bei dem Tatbestandsmerkmal “Große Choroper” komme es nicht auf eine musikwissenschaftliche Einordnung an, da nach der Protokollnotiz zu § 54 Abs. 3 Buchst. b NV Chor/Tanz für die Frage, ob von einer großen oder mittleren Choroper auszugehen sei, die Einordnung des Werkes in der 8. Auflage des Handbuchs der Oper von Rudolf Kloiber maßgeblich sei. Die Begriffe “Vorstellung” und “Aufführung” im Tarifvertrag würden darüber hinaus synonym gebraucht.
Das Arbeitsgericht hat die Aufhebungsklage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihren Aufhebungsantrag weiter. Die Beklagten haben beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt unter Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts zur Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts. Auf die Klage der Klägerin war der Schiedsspruch des Bühnenoberschiedsgerichts und auf die Berufung der Klägerin und Beklagten des schiedsgerichtlichen Verfahrens waren der Schiedsspruch des Bühnenschiedsgerichts aufzuheben und die Schiedsklage abzuweisen.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Beklagten hätten gegen die Klägerin einen Anspruch auf die in der Höhe unstreitige Sondervergütung gemäß § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz, da die Beklagten am 30. Juni 2002 in der Freiberger Nikolaikirche an der Aufführung des Werkes “Carmina Burana” mitgewirkt hätten. Das Werk “Carmina Burana” von Carl Orff sei eine große Choroper im Sinne der Tarifbestimmung, da die Tarifvertragsparteien in der Protokollnotiz zu § 54 Abs. 3 Buchst. b NV Chor/Tanz durch die Bezugnahme auf das “Handbuch der Oper” klargestellt hätten, dass unter “Große Choroper” eine große Chorpartie nach Wertung der 8. Auflage des “Handbuch der Oper” von Rudolf Kloiber zu verstehen sei. Damit komme es nicht darauf an, ob es sich bei dem Werk “Carmina Burana” überhaupt um eine Oper im musikwissenschaftlichen Sinn handle. Die Beklagten hätten auch im Sinne der Tarifvorschrift in einer Vorstellung in einer fremden Sprache gesungen, da die Texte der “Carmina Burana” in stark verballhorntem Spätlatein (Vulgärlatein) und Mittelhochdeutsch geschrieben seien.
Diese Auslegung des Landesarbeitsgerichts, von der sowohl das Arbeitsgericht als auch das Bühnenschiedsgericht und das Bühnenoberschiedsgericht ausgegangen sind, halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
II. Die Beklagten haben keinen Anspruch gegen die Klägerin auf die in der Höhe unstreitige Sondervergütung gemäß § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz.
1. Die Auslegung eines Tarifvertrags durch das Berufungsgericht ist in der Revisionsinstanz in vollem Umfang nachzuprüfen (BAG 22. Oktober 2002 – 3 AZR 664/01 – AP TVG § 1 Auslegung Nr. 185, zu II 1a der Gründe). Sein normativer Teil ist nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln auszulegen. Zunächst ist vom Tarifwortlaut auszugehen. Zu ermitteln ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne an den Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist jedoch der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Zweck der Tarifnormen zu berücksichtigen, sofern und soweit dieser Wille in den Tarifnormen seinen Niederschlag gefunden hat. Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, weil häufig nur aus ihm und nicht aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen und nur bei Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Sinn und Zweck zutreffend ermittelt werden kann (st. Rspr. des BAG, vgl. 28. Mai 1998 – 6 AZR 349/96 – AP BGB § 611 Bühnenengagementsvertrag Nr. 52 = EzA TVG § 4 Bühnen Nr. 5, zu II 2a der Gründe). Noch verbleibende Zweifel können ohne Bindung an eine Reihenfolge mittels weiterer Kriterien wie der Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch der praktischen Tarifübung geklärt werden. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG 5. Oktober 1999 – 4 AZR 578/98 – AP TVG § 4 Verdienstsicherung Nr. 15 = EzA TVG § 4 Verdienstsicherung Nr. 8).
2. Nach § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz erhält das Opernchormitglied für das Singen einer Großen Choroper in fremder Sprache (§ 54 Abs. 3 Buchst. b NV Chor/Tanz) eine Drittel-Tagesgage (§ 58 Abs. 2 NV Chor/Tanz) je Vorstellung. Die Aufführung des Werkes “Carmina Burana” im Rahmen des Eröffnungskonzertes in der Freiberger Nikolaikirche am 30. Juni 2002 stellte weder ein Singen einer Großen Oper noch eine Vorstellung iSv. § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz dar. Dies haben die Vorinstanzen verkannt.
a) Das Werk “Carmina Burana” ist Oper weder im musikwissenschaftlichen Sinn noch im “Handbuch der Oper” von Rudolf Kloiber als solche bezeichnet.
aa) In der musikwissenschaftlichen Literatur wird “Carmina Burana” überwiegend als szenische Kantate, nicht als Oper eingestuft (s. Brockhaus-Rieman Musiklexikon 1978 Bd. 1 S. 216; Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl. Bd. 4 S. 334; Blume Die Musik in Geschichte und Gegenwart Allgemeine Enzyklopädie der Musik 1989 Bd. 10 S. 199; Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1981 Bd. 5 S. 340). Das Werk wird auch als szenisches Oraratorium, aber jedenfalls nicht als Oper bezeichnet (s. Die Zeit Das Lexikon in 20 Bänden 2005 Bd. 11 S. 6).
bb) Auch in der 8. Auflage des “Handbuch der Oper” von Rudolf Kloiber wird unter “Stilistische Stellung” ausgeführt: “Orff hat seine “Carmina Burana” weder als Oper noch als Oratorium oder Kantate bezeichnet. Das Werk steht wohl der letzteren Gattung am nächsten, doch strebte der Komponist neue Ausdrucksformen für das musikalische Theater an, wobei er dieses Ziel zunächst durch eine radikale Abkehr von den geläufigen musikdramatischen Stilmitteln zu erreichen suchte und weiterhin auf die Urelemente des Theaters, das Kultische und das Volkstümlich-Tänzerische zurückgriff. Auf diese Weise entstand in “Carmina Burana” ein neuartiger Typus Musiktheater, dem stilistisch keinerlei Berührungspunkte mit irgend einer anderen zeitgenössischen Richtung nachzuweisen sind. …” (Kloiber Handbuch der Oper 8. Aufl. S. 586). Danach wird in diesem Handbuch das Stück “Carmina Burana”, entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts, des Arbeitsgerichts, des Bühnenschiedsgerichts und des Bühnenoberschiedsgerichts nicht als Oper angesehen oder bezeichnet, weshalb es ungeachtet des Vorliegens einer “großen Chorpartie” auch nicht als “Große Choroper” gewertet werden kann.
cc) Dem entspricht, dass in der Anlage 3 zum NV Chor/Tanz unter dem Komponisten Orff das Stück “Carmina Burana” allein nicht als Große Choroper iSd. §§ 55, 56 NV Chor/Tanz bezeichnet wird. Nur im Zusammenhang mit dem Stück “Catulli Carmina” oder einem anderen Chorwerk wird “Carmina Burana” als Große Choroper im Sinne dieser Tarifvorschriften genannt.
b) Darüber hinaus stellt die Aufführung des Werkes “Carmina Burana” am 30. Juni 2002 in der Freiberger Nikolaikirche auch keine Vorstellung iSv. § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz dar.
aa) Was unter dem Begriff “Vorstellung” zu verstehen ist, lässt sich dem Wortlaut des NV Chor/Tanz nicht eindeutig entnehmen. Deshalb ist der Inhalt des Tarifbegriffs “Vorstellung” im Wege der Auslegung zu ermitteln. Dabei ist von dem allgemeinen bzw. dem fachspezifischen Sprachgebrauch auszugehen. Eine “Vorstellung” stellt nach dem allgemeinen Sprachgebrauch die Aufführung eines Theaterstücks oder die Vorführung eines Films dar. Die Vorstellung hat eine Länge meistens von mehreren Stunden, einschließlich Pause. Damit verbunden ist, dass eine Vorstellung nach dem allgemeinen Sprachgebrauch üblicherweise auch eine szenische Darstellung beinhaltet. Der Begriff “Vorstellung” wird grds. nur im Sinne einer Darbietung verwendet, die sich auch szenischer Darstellungsformen bedient, sowohl im Bereich des Films als auch des Musiktheaters und des Schauspiels.
bb) § 54 NV Chor/Tanz ist zu entnehmen, dass die Tarifvertragsparteien die Mitwirkungspflichten der Opernchormitglieder abschließend regeln und diese verpflichten wollten, grds. an allen Darbietungen mitzuwirken, die den Gesang eines Chors erfordern. Diese Leistung wird nach § 62 Abs. 1 NV Chor/Tanz mit der Vergütung nach § 58 Abs. 1 NV Chor/Tanz abgegolten, soweit sich aus § 62 Abs. 2 bis 4 NV Chor/Tanz nichts anderes ergibt. In der dortigen enumerativen Aufzählung fällt auf, dass unter den Buchst. b und c des Abs. 2 das Singen einer Choroper je Vorstellung genannt ist, während unter Buchst. d des Abs. 2 von der Mitwirkung bei einer Aufführung die Rede ist. Unter einer “Aufführung” versteht man üblicherweise das Spielen eines Stückes (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden 3. Aufl. Bd. 1 S. 324). In Abgrenzung zu dem Begriff “Vorstellung” ist der Begriff “Aufführung” weiter und umfasst auch nicht szenische Darstellungsformen. Es ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien die genannten Begriffe in ihrer allgemeinen Bedeutung benutzt und für die Anwendung des Tarifvertrags zugrunde gelegt haben. Dies gilt jedenfalls, soweit sich aus dem Tarifvertrag selbst nichts anderes ergibt.
Der Begriff der Mitwirkung taucht weiter in § 62 Abs. 3 NV Chor/Tanz für die Mitwirkung in Konzerten auf. Der Tarifbegriff “Konzert” ist hier, wie sich auch aus der Protokollnotiz zu Abs. 3 Nr. 1 ergibt, nicht im Sinne einer Werkbezeichnung zu verstehen, sondern meint die Art der Veranstaltung. Andernfalls wären von der tariflich bestimmten Mitwirkungspflicht nicht alle musikalischen Werke erfasst, bei denen die Mitwirkung eines Chors vorgesehen ist. Die Darbietung musikalischer Werke, denen keine szenische Gestaltung zugrunde liegt und die auch keine aus mehreren Sätzen bestehende Komposition für ein oder mehrere Soloinstrumente oder Orchester sind, wären von der Mitwirkungspflicht nicht erfasst (vgl. BAG 20. Juli 2000 – 6 AZR 56/99 – AP BGB § 611 Bühnenengagementsvertrag Nr. 56 = EzA TVG § 4 Bühnen Nr. 10). Eine solche Auslegung würde der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts widersprechen, nach der im Zweifel der Tarifauslegung der Vorzug gegeben werden muss, die zu einer vernünftigen, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG 12. September 1984 – 4 AZR 336/82 – BAGE 46, 308, 316 mwN). Demnach meint der Begriff “Konzert” im Sinne des Tarifvertrags vorbehaltlich der Fiktion in der Protokollnotiz zu Abs. 3 Nr. 2 die Darbietung musikalischer Werke in nicht szenischer Form.
Ein musikalisches Bühnenwerk kann szenisch, dh. unter Zuhilfenahme schauspielerischer oder tänzerischer Darstellungsformen dargeboten werden. Es ist möglich, auf diese bildhaften Darstellungsformen zu verzichten und das Bühnenwerk allein durch seine musikalische Darbietung, in Form einer konzertanten Aufführung auf das Publikum wirken zu lassen. Zu Recht rügt deshalb die Revision, dass beide Formen – denklogisch notwendig – nicht in einer und derselben Darbietung vorliegen können. Entweder wird das Werk in einer Vorstellung szenisch dargeboten oder es wird im Konzert musikalisch (konzertant) dargeboten. Es ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien als sachkundige Kenner des Bühnengeschehens die unterschiedlichen Mitwirkungsmöglichkeiten in § 62 Abs. 2 und Abs. 3 NV Chor/Tanz mit den unterschiedlichen Begriffen “Singen” in einer “Vorstellung” und “Mitwirkung in Konzerten” oder “konzertante Aufführungen eines musikalischen Bühnenwerks” bezeichnet haben. Entscheidend ist damit, welche Darstellungsform vorliegt, nicht der Charakter des Werkes, sondern vielmehr die Art und Weise seiner Wiedergabe. Diese ist variabel und kann den Erfordernissen der Bühne oder des Anlasses angepasst werden.
cc) Das Bühnenwerk “Carmina Burana” ist am 30. Juni 2002 nicht szenisch aufgeführt, sondern lediglich musikalisch dargeboten worden, wozu auch gehört, dass der Chor “vom Blatt” gesungen hat. Damit liegt keine “Vorstellung” iSv. § 62 Abs. 2 Buchst. c NV Chor/Tanz vor, sondern es handelt sich bei der Art und Weise der Wiedergabe von “Carmina Burana” um eine konzertante Aufführung eines musikalischen Bühnenwerks, für die nach § 62 Abs. 3 NV Chor/Tanz keine Sondervergütung vorgesehen ist. Dass die Texte der “Carmina Burana” in stark verballhorntem Spätlatein (Vulgärlatein) und Mittelhochdeutsch und damit in “fremder Sprache” im Sinne dieser Tarifbestimmung gesungen wurden, begründet für sich genommen keinen tariflichen Anspruch auf eine Sondervergütung.
Unterschriften
Fischermeier, Dr. Armbrüster, Friedrich, Kapitza, H. Markwat
Fundstellen