Entscheidungsstichwort (Thema)
Wartezeit nach § 1 KSchG. Anrechnung früherer Arbeitsverhältnisse
Leitsatz (amtlich)
Die Bestimmung der Ziffer 4.3 MTV Bewachungsgewerbe Niedersachsen über die Anrechnung der Betriebszugehörigkeit bei einem anderen Betrieb des Wach- und Sicherheitsgewerbes durch einen neuen Arbeitgeber ist auf die Berechnung der Wartezeit nach § 1 Abs 1 KSchG nicht anzuwenden.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 1; MTV für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Lande Niedersachsen vom 9. März 1987, Ziff. 4.3
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Urteil vom 02.06.1989; Aktenzeichen 15 (4) Sa 90/89) |
ArbG Celle (Urteil vom 01.12.1988; Aktenzeichen 2 Ca 242/88) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 2. Juni 1989 – 15 (4) Sa 90/89 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger war aufgrund Arbeitsvertrages vom 27. April 1988 seit dem 1. Mai 1988 für die Beklagte als Wachmann und Diensthundeführer gegen eine Vergütung von monatlich 3.200,-- DM brutto beschäftigt und zwar im Bundeswehrdepot …. Hier war der Kläger auch schon seit 1978 für verschiedene Bewachungsunternehmen tätig, die jeweils nach einer Ausschreibung den befristeten Bewachungsauftrag von der Wehrbereichsverwaltung erhalten hatten. So war er bis zum 31. Januar 1985 bei der Firma W… GmbH in S…, vom 1. Februar 1985 bis 31. Juli 1987 bei der Firma G… GmbH in L… und seit dem 1. August 1987 bei einer weiteren Firma G… GmbH in D… tätig. Deren Bewachungsauftrag endete aufgrund Kündigung zum 30. April 1988. Bei der Neuausschreibung des Bewachungsauftrags fand diese Firma keine Berücksichtigung, vielmehr erhielt die Beklagte im März 1988 den Zuschlag. Die Firma G… GmbH, D…, kündigte im März oder April 1988 ihren in … eingesetzten Wachmännern zum 30. April 1988 wegen des Auslaufens des Bewachungsvertrages. Der Kläger erhob gegen die ihm ausgesprochene Kündigung Klage (Arbeitsgericht Celle – 1 Ca 129/88 –); jener Rechtsstreit ist infolge der Konkurseröffnung über das Vermögen der Firma G… GmbH, D…, seit dem 8. August 1988 unterbrochen.
Die Beklagte beschäftigte den Kläger, wie auch die anderen Wachmänner, ab dem 1. Mai 1988 am Einsatzort … weiter. Im Arbeitsvertrag der Parteien heißt es auszugsweise:
Ҥ 1
Herr S… wird ab 1. Mai 1988 bis 30. April 1989 als Wachmann/Diensthundeführer eingestellt. Das beiderseitige Recht auf eine ordnungsgemäße Kündigung bleibt bestehen.
§ 2
Die Einstellung erfolgt … für eine Probezeit von acht Wochen mit einer Kündigungsfrist von einem Tag.
…
Im übrigen kann das Arbeitsverhältnis beiderseits entsprechend den jeweils gültigen Tarifverträgen am Bewachungsort gekündigt werden.”
Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Lande Niedersachsen vom 9. März 1987 (MTV) kraft Allgemeinverbindlichkeit Anwendung. Der MTV lautet auszugsweise:
Mit Schreiben vom 16. Juni 1988 kündigte die Beklagte unter Hinweis auf die vereinbarte Probezeit das Arbeitsverhältnis mit eintägiger Kündigungsfrist auf.
Mit seiner am 28. Juni 1988 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger sich auf das Kündigungsschutzgesetz mit der Begründung berufen, nach Ziff. 4.3 MTV müsse ihm die Beklagte seine Vordienstzeiten bei den anderen Bewachungsunternehmen auf die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG anrechnen. Die Kündigung selbst sei sozialwidrig, zumal er für den Wachdienst voll tauglich sei. Im übrigen sei auch die Befristung des Arbeitsvertrages mangels sachlichen Grundes unwirksam ebenso wie die Probezeitvereinbarung, weil die Beklagte ihn von der Firma G… GmbH D… übernommen habe.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 16. Juni 1988 nicht beendet worden sei, sondern über den 30. April 1989 hinaus auf unbestimmte Dauer fortbestehe.
Die Beklagte hat mit ihrem Klageabweisungsantrag geltend gemacht, es liege kein Betriebsübergang vor. Auch stünden die Vorbeschäftigungszeiten der vereinbarten Probezeit nicht entgegen, und Ziff. 4.3 MTV könne nicht im Sinne einer Anrechnung auf die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG interpretiert werden; vielmehr beziehe sich die Anrechnungsvorschrift nur auf tarifinterne Regelungen über die Betriebszugehörigkeit, wie in Ziff. 3.3, 11.2 und 12.1 MTV. Schließlich sei auch die Befristung des Arbeitsvertrages wirksam, weil der Kläger im Sinne des § 1 Abs. 1 Beschäftigungsförderungsgesetz neu eingestellt worden sei. Die Kündigung als solche sei gerechtfertigt, weil dem Kläger die körperliche Eignung für den Wachdienst fehle.
Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 1. Dezember 1988 festgestellt, das Arbeitsverhältnis werde durch die Kündigung vom 16. Juni 1988 nicht beendet, sondern bestehe befristet bis zum 30. April 1989 fort. Das Arbeitsgericht hat dabei die Voraussetzungen einer Betriebsübernahme verneint, jedoch Ziff. 4.3 MTV im Sinne einer Anrechnung der Betriebszugehörigkeit auf die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG ausgelegt. Die Kündigung als solche sei sozial nicht gerechtfertigt; mangels Betriebsübernahme sei das Arbeitsverhältnis jedoch wirksam nach § 1 Abs. 1 Beschäftigungsförderungsgesetz befristet worden. Auf die Berufung beider Parteien hat das Landesarbeitsgericht die Klage gänzlich abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein ursprüngliches Klagebegehren mit Ausnahme der Argumentation zur Betriebsüberhnahme weiter, während die Beklagte um Zurückweisung der Revision bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß auf die dem Kläger gegenüber ausgesprochene Kündigung das Kündigungsschutzgesetz nicht anzuwenden und die Kündigung auch nicht aus einem sonstigen Grund unwirksam ist.
I. Das Landesarbeitsgericht hat – soweit für die Revisionsinstanz von Belang – seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Der Kläger genieße keinen Kündigungsschutz, weil er die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG nicht erfüllt habe. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei die Vorbeschäftigung bei der Firma G… nicht gemäß Ziff. 4.3 MTV auf die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG anzurechnen. Denn dieser Tarifnorm komme nur tarifvertragsimmanente Bedeutung in bezug auf die Ziffern 3.3, 11.2 und 12.1 MTV zu. Insofern sei der vorliegende Tarifvertrag anders als der MTV für das Bewachungsgewerbe in Rheinland-Pfalz und im Saarland auszulegen, womit sich das BAG-Urteil vom 30. Juni 1988 – 2 AZR 71/88 – befasse. Die Anrechnungsvorschrift der Ziff. 4.3 MTV Bewachungsgewerbe Niedersachsen beziehe sich mit der Verwendung des Begriffs “Betriebszugehörigkeit” nur auf die Tarifvorschriften, in denen derselbe Begriff verwendet werde; mit dem Begriff der Betriebszugehörigkeit sei die Wartezeit im Sinne des § 1 Abs. 1 KSchG nicht gemeint. Hiergegen spreche auch die systematische Stellung der Ziff. 4.3 MTV, der – anders als z.B. in § 14 Abs. 1 MTV Rheinland-Pfalz/Saarland – nicht eine Regelung über die Kündbarkeit des Arbeitsverhältnisses vorangestellt sei. Vielmehr folge sie der Regelung der Kündigungsfristen in Ziff. 3.3 MTV, deren Länge nach der Betriebszugehörigkeit gestaffelt sei; deshalb sei der Bezug auf diese Regelung der näherliegende. Auch wenn die Betriebszugehörigkeit in Ziff. 4 MTV in einem eigenen Abschnitt geregelt worden sei, lasse dies keinen etwaigen Willen der Tarifvertragsparteien erkennen, auch die Anrechnung der Vorbeschäftigungszeit auf die Wartezeit nach § 1 Abs. 2 KSchG zu regeln. Was Sinn und Zweck der Regelung angehe, erfasse Ziff. 4.3 MTV nicht nur die Fälle des Überganges eines Bewachungsauftrages, sondern auch solche, in denen ein Arbeitnehmer zum Beispiel wegen Wohnungswechsels oder wegen verhaltensbedingter oder personenbedingter Kündigung wechsele. Es sei nicht ohne weiteres erkennbar, daß die Tarifvertragsparteien in solchen Fällen dem Arbeitnehmer von Beginn seines neuen Arbeitsverhältnisses an Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz einräumen wollten. Schließlich spreche gegen eine generelle und nicht nur tarifimmanente Regelung der Betriebszugehörigkeit, daß damit nicht nur die Anrechnung der Vorbeschäftigungszeiten in bezug auf § 1 Abs. 1 KSchG, sondern für alle Ansprüche angeordnet worden wäre, die von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhingen, wie z.B. vertragliche Betriebsrentenansprüche. Für einen solchen generellen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien seien keine Anhaltspunkte gegeben.
Die Kündigung finde ihren sachlichen Grund in der nicht beanstandungsfreien Diensthundeführerprüfung und verstoße damit weder gegen Treu und Glauben noch gegen die guten Sitten. Im Hinblick auf die Probezeitvereinbarung sei auch die Wahl der kurzen Kündigungsfrist gemäß § 622 Abs. 3 Satz 1 BGB nicht zu beanstanden. Die Anrechnungsregel der Ziff. 4.3 MTV stehe dem nicht entgegen, da sie sich nicht auf Ziff. 3.2 MTV beziehe, sondern nur auf die Kündigungsfristen nach Ablauf der Probezeit.
II. Dem stimmt der Senat zu. Die von der Revision gegen die Auslegung des Landesarbeitsgerichts vorgebrachten Rügen greifen nicht durch.
1. Die Auslegung einer Tarifvertragsnorm als einer Rechtsnorm im Sinne der §§ 1, 4 TVG unterliegt der selbständigen Beurteilung durch das Revisionsgericht (vgl. BAG Urteile vom 10. Oktober 1957 – 2 AZR 48/55 –, 10. September 1961 – 5 AZR 367/61 – und vom 30. September 1971 – 5 AZR 123/71 – AP Nr. 12, 115, 121 zu § 1 TVG Auslegung; Senatsurteil vom 14. Mai 1987 – 2 AZR 380/86 – BAGE 55, 298, 301 f. = AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit, zu B II der Gründe; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 1 Rz 432). Auch unter Berücksichtigung dieses weiten Prüfungsmaßstabes ist die Auslegung der Ziff. 4.3 MTV, wie sie durch das Berufungsgericht vorgenommen worden ist, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausführt, sind für die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages die für Gesetze und nicht die für Verträge maßgebenden Auslegungsgrundsätze anzuwenden. Die Tarifauslegung hat zwar – entsprechend den Grundsätzen der Gesetzesauslegung – zunächst von dem Tarifwortlaut auszugehen. Dabei ist jedoch über den reinen Tarifwortlaut hinaus der wirkliche Wille der Tarifparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnormen mitzuberücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. BAGE 42, 86 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; 46, 308 = AP Nr. 135, aaO; sowie 55, 298, 301 f. = AP, aaO zu B II 1 der Gründe). Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, der häufig schon deswegen mitberücksichtigt werden muß, weil nur daraus und nicht aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen der Tarifparteien geschlossen und so nur bei Mitberücksichtigung des tariflichen Gesamtzusammenhanges der Sinn und Zweck der Tarifnormen zutreffend ermittelt werden kann. Verbleiben bei entsprechender Auswertung des Tarifwortlautes und des tariflichen Gesamtzusammenhanges als den stets und in erster Linie heranzuziehenden Auslegungskriterien im Einzelfalle noch Zweifel an der zutreffenden Auslegung, so kann zur Ermittlung des wirklichen Willens der Tarifvertragsparteien auf weitere Kriterien wie die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages zurückgegriffen werden. Dabei gibt es jedoch für die Gerichte keine Bindung an eine bestimmte Reihenfolge bei der Heranziehung dieser weiteren Auslegungsmittel (vgl. BAG, aaO).
b) Das Berufungsgericht geht zunächst zutreffend davon aus, der Wortlaut der Ziff. 4.3 MTV ergebe nicht ohne weiteres, daß von dem Begriff der Betriebszugehörigkeit in diesem Tarifvertrag auch die Wartezeit im Sinne des § 1 Abs. 1 KSchG mitumfaßt sei. Dies kann, muß aber nicht so sein. Zwar hat der Senat im Urteil vom 14. Mai 1987 (aaO) den Begriff “Betriebszugehörigkeitsdauer” bei Beschäftigungszeiten in demselben Betrieb (§ 15 BRTV für gewerbliche Arbeitnehmer im Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau vom 20. Juni 1985) in diesem Sinne interpretiert, er hat dies aber nicht aus dem Wortlaut, sondern erst aus dem Gesamtzusammenhang der dortigen Tarifregelungen entnommen (BAGE 55, 298, 301 ff. = AP, aaO zu B II 3 der Gründe). Die Revision rügt zu Unrecht, der Wortlaut spreche vorliegend “eindeutig” dafür, mit der Anrechnung der Betriebszugehörigkeit sei gleichzeitig die Ableistung der Wartezeit nach § 1 KSchG impliziert. Gerade wenn Ziff. 4.3 und Ziff. 4.1 MTV im Zusammenhang gelesen werden, fällt auf, daß in Ziff. 4.1 MTV als Grundsatz geregelt wird, als Betriebszugehörigkeit sei nur die Zeit zu verstehen, die “ein Arbeitnehmer bei demselben Arbeitgeber beschäftigt” sei; demgegenüber enthält Ziff. 4.3 MTV eine Anrechnungsvorschrift (… wird vom neuen Arbeitgeber angerechnet …), ohne genau und allgemein deutlich zu machen, ob damit das grundsätzliche gesetzliche Erfordernis einer Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber ausnahmsweise als abbedungen zu gelten habe. Insoweit zeigt nämlich gerade die fast wortgleiche Regelung der Ziff. 4.2 MTV, wonach Arbeitnehmern, die unverschuldet ihr Arbeitsverhältnis unterbrechen, bei einer Wiedereinstellung die frühere Zeit der Betriebszugehörigkeit voll angerechnet wird, daß auch hier – bezogen auf die Wartezeit nach § 1 KSchG – der Wortlaut ambivalent bleibt, obwohl in dieser Vorschrift Beschäftigungszeiten bei demselben Arbeitgeber gemeint sein dürften, wie der Begriff “Wiedereinstellung” indiziert.
Davon, daß dieser Sprachgebrauch selbst bei einer Wiedereinstellungsklausel nicht eindeutig sei, ist der Senat für eine vergleichbare Anrechnungsklausel in der genannten Entscheidung vom 14. Mai 1987 (aaO) ebenso ausgegangen. Dagegen war im Falle des § 8 Abs. 1 TVAL II schon der Wortlaut eindeutig, wenn dort nur die Beschäftigungszeit “im Sinne des Tarifvertrages” angesprochen war (vgl. BAG Urteil vom 10. Mai 1989 – 7 AZR 450/88 – zur Veröffentlichung bestimmt).
c) Das Berufungsgericht hat deshalb zu Recht bei seiner Auslegung weiter auf die systematische Stellung der Norm und weitere Umstände abgestellt. Tatsächlich ist nämlich die Anrechnungsvorschrift nicht – wie z.B. in § 14 Abs. 1 MTV Rheinland-Pfalz/Saarland – der Regelung über die Kündbarkeit des Arbeitsverhältnisses vorangestellt, sondern sie folgt der Regelung in Ziff. 3 MTV über Beginn und Ende des Arbeitsverhältnisses nach, insbesondere der Regelung über die je nach Betriebszugehörigkeit verlängerten Kündigungsfristen (Ziff. 3.3 MTV). Das legt den Rückschluß nahe, die Anrechnungsvorschrift solle sich zunächst auf diese Vorschrift und möglicherweise weiter auf solche tarifliche Regelungen beziehen, in denen ebenfalls von der Dauer der Betriebszugehörigkeit bestimmte Leistungen abhängig gemacht werden, so z.B. in Ziff. 11 die Fortzahlung des Lohns in Sterbefällen und in Ziff. 12 die Dauer des Urlaubs. Deshalb erscheint es auch plausibel, daß die Tarifvertragsparteien in der nachfolgenden Bestimmung der Ziff. 4 MTV die Grundsätze über die Betriebszugehörigkeit zusammengefaßt haben, so daß diese im Rahmen des Tarifvertrages allgemein Geltung verdienen. Die Stellung von Ziff. 4.3 MTV im Gesamtgefüge der Tarifregelungen und nicht etwa in einem allgemeinen Teil vor den einzelnen Bestimmungen spricht daher für die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene tarifinterne Auslegung.
d) Daß die Tarifvertragsparteien darüber hinaus, z.B. für die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG eine Regelung treffen wollten, ist nicht ersichtlich. Gegen die entsprechenden Schlußfolgerungen des Berufungsgerichts erhebt die Revision auch keine Rügen, sie setzt sich nicht einmal mit den Überlegungen des Gerichts zur systematischen Stellung von Ziff. 4.3 MTV auseinander. Für eine so weit reichende Regelung wie die Abdingung der Wartezeit nach dem Kündigungsschutzgesetz bei einem neuen Arbeitgeber hätten aber besondere Anhaltspunkte bestehen müssen, zumal damit die Dispositionsfreiheit der dem Tarifvertrag unterworfenen Arbeitgeber, nämlich der Grundsatz der Kündigungsfreiheit in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses (vgl. dazu KR-Becker, 3. Aufl., § 1 KSchG Rz 70), in besonderem Maße eingeschränkt würde. Dies würde nämlich, worauf das Landesarbeitsgericht zu Recht hinweist, auch für Fälle gelten, in denen ein Arbeitnehmer nach verhaltens- oder auch personenbedingter Kündigung – bei betriebsbedingter Kündigung könnte die Anrechnung von Vordienstzeiten noch sachgerecht sein – zu einem anderen Arbeitgeber des Bewachungsgewerbes wechselt, ohne daß dieser sich in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses ohne soziale Rechtfertigung von dem ihm nach Leistung und Verhalten unbekannten Arbeitnehmer trennen könnte. Bei einer derartigen Auslegung des Tarifvertrages könnte sich die Anrechnungsklausel geradezu als Einstellungshemmnis auswirken, weil – worauf die Beklagte wohl zutreffend aufmerksam gemacht hat – die Arbeitgeber im Bewachungsgewerbe kaum Wachmänner vom vorherigen Auftragsinhaber einstellen würden.
e) Das Arbeitsgericht hat zwar mit beachtlichen Überlegungen angenommen, die Systematik des Tarifvertrages biete keinen eindeutigen Hinweis für die Anwendbarkeit der Ziff. 4.3 MTV auf die Wartezeit des § 1 KSchG, wollte dies aber aus Sinn und Zweck der Tarifnorm erschließen. Dagegen spricht schon, daß auch die Regelung einer Probezeit bis zu acht Wochen mit eintägiger Kündigungsfrist in Ziffer 3.2 MTV für den Nachfolgearbeitgeber kaum noch einen Sinn ergäbe, wenn er vom ersten Tage des Arbeitsverhältnisses an die Kündigung nach § 1 KSchG sozial rechtfertigen müßte. Ein entsprechender Wille der Tarifpartner kann ohne deutlich dafür sprechende Anhaltspunkte nicht angenommen werden. Dies gilt nicht zuletzt auch deswegen, weil die Anrechnungsklausel sonst auch für andere gesetzliche Regelungen gelten müßte, die die Ableistung von Dienstzeiten zur Voraussetzung bestimmter Rechtsfolgen machen. Es spricht aber vorliegend nichts dafür, die Tarifparteien hätten eine Anrechnung in allen Gesetzen – wie z.B. § 1 Abs. 1 KSchG, § 1 BetrAVG, § 8 BetrVG, § 4 BUrlG sowie folgerichtig auch einschlägigen Betriebsvereinbarungen – gewollt (ähnlich Wank in Anm. zu Entsch. 284 AR-Blattei Kündigungsschutz).
Nach der deswegen abzulehnenden Auslegung des Arbeitsgerichts wäre es im übrigen folgerichtig, den Begriff der Betriebszugehörigkeit auch in Ziff. 4.1 MTV im Sinne der Erfüllung der Wartezeit zu interpretieren. Das wiederum hätte zur Folge, daß je nach den Umständen auch noch die sechsmonatige gesetzliche Wartefrist bei demselben Arbeitgeber unterschritten, also der Kündigungsschutz der §§ 1 f. KSchG frühzeitiger eintreten würde. Als Betriebszugehörigkeit gilt nämlich nach Ziff. 4.2 MTV bei einem z.B. am 14. des jeweiligen Monats begonnenen Arbeitsverhältnis bereits die Zeit ab 1. des Monats. Je nach Beginn des Arbeitsverhältnisses am Anfang des Monats würden damit unterschiedliche Beschäftigungszeiten zur Erfüllung der Wartezeit führen.
f) Eine tarifliche Regelung über die Ausdehnung bzw. Verbesserung des gesetzlichen Kündigungsschutzes ist zwar grundsätzlich als rechtlich zulässig anzusehen (vgl. dazu Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 1 Rz 232; KR-Becker, aaO, § 1 KSchG Rz 46; BAGE 55, 298 = AP, aaO), sie ist aber bisher wohl nur üblich z.B. bei Wiedereinstellungsregelungen in demselben Betrieb (vgl. Senatsurteil vom 5. Juli 1984 – 2 AZR 246/83 – unveröffentlicht), bei zeitlichen Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses in demselben Betrieb (vgl. BAGE 55, 298 = AP, aaO), bei Rationalisierungsschutzabkommen (vgl. dazu KR-Wolf, 3. Aufl., Grunds. Rz 437; Stahlhacke, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 4. Aufl., Rz 447), zu Gunsten älterer Arbeitnehmer, so z.B. in § 53 III BAT (vgl. KR-Wolf, aaO, Grunds. Rz 435) und zum Schutz gewerkschaftlicher Vertrauensleute (vgl. auch dazu KR-Wolf, aaO, Grunds. Rz 438 – 440).
Allerdings könnte gerade im Bewachungsgewerbe deswegen ein Bedürfnis – jedenfalls im Falle betriebsbedingter Kündigungen – für die Anrechnung von Vordienstzeiten bei der Wartezeit nach § 1 KSchG bestehen, weil dort bei Neuvergabe eines Bewachungsauftrages oftmals das Bewachungspersonal für das gleiche Objekt vom neuen Arbeitgeber übernommen wird, ohne daß § 613a BGB in diesen Fällen einschlägig ist (vgl. BAG Urteil vom 8. September 1982 – 5 AZR 10/80 – EzAÜG Nr. 107 sowie Senatsrechtsprechung vom 29. September 1988 – 2 AZR 107/88 – EzA § 613a BGB Nr. 85; vom 30. November 1988 – 2 AZR 201/88 – nicht veröffentlicht und vom 24. Mai 1989 – 2 AZR 451/88 – nicht veröffentlicht). Es ist jedoch Sache der Tarifpartner, dem durch eindeutige Regelungen Rechnung zu tragen. Daß dies etwa im Bewachungsgewerbe bisher schon einer Tarifübung entspreche, hat der Kläger selbst nicht geltend gemacht. Die praktische Tarifübung – vgl. auch die Entscheidungen zu § 8 Abs. 1 TVAL II (BAG Urteil vom 10. Mai 1989 – 7 AZR 450/88 –) und zu § 45 Nr. 7 Bundesrahmentarifvertrag für das Maler- u. Lackiererhandwerk (Senatsurteil vom 18. Januar 1979 – 2 AZR 254/77 – AP Nr. 3 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit) – spricht daher eher für eine restriktive Auslegung von Ziff. 4.3 MTV.
2. Ist nach alledem Ziff. 4.3 MTV Bewachungsgewrbe Niedersachsen nicht im Sinne einer Anrechnung früherer Beschäftigungszeiten auf die Wartefrist nach § 1 Abs. 1 KSchG zu interpretieren, so konnte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 16. Juni 1988 das bei ihr am 1. Mai 1988 begonnene Arbeitsverhältnis mangels Anwendbarkeit des KSchG ohne sozial gerechtfertigten Grund in den ersten sechs Monaten aufkündigen. Die Kündigung ist auch nicht aus einem sonstigen Grund unwirksam. Die Feststellungen und Würdigungen des Landesarbeitsgerichts, ein Betriebsübergang von der Firma G… GmbH, D… auf die Beklagte liege nicht vor, werden von der Revision ebensowenig angegriffen wie die Ausführungen, die Kündigung innerhalb der Probezeit mit der tariflichen Frist (§ 622 Abs. 3 BGB) verstoße aufgrund der von der Beklagten genannten Gründe weder gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB), noch sei sie sittenwidrig (§ 138 BGB).
Unterschriften
Hillebrecht, Triebfrüst, Bitter, Rupprecht, Dr. Kirchner
Fundstellen
Haufe-Index 840997 |
BAGE, 209 |
JR 1990, 440 |
RdA 1990, 255 |