Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung: Versicherungsschutz bei einem Wechsel der Wegevarianten
Leitsatz (amtlich)
Zu Fragen des Versicherungsschutzes bei Wegeunfällen gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII):
- Versicherungsschutz besteht nicht nur auf dem schnellsten oder kürzesten Weg von oder zur Arbeit, sondern auch auf einem sinnvollen Weg.
- Kommen mehrere sinnvolle Wegevarianten in Betracht, erlischt der Versicherungsschutz nicht, wenn aus nachvollziehbaren Gründen ein Wechsel der Wegevarianten erfolgt (hier: Wechsel der Wegevarianten wegen fortgeschrittener Dunkelheit des Nachts).
- Der Versicherungsschutz erlischt jedoch, wenn der Versicherte den Weg vom Tätigkeitsort nach Hause um mehr als zwei Stunden durch private Verrichtungen unterbricht.
- Zur Berechnung der Fahrzeiten können Routenplaner herangezogen werden. Weichen gängige Routenplaner hierbei entscheidungserheblich voneinander ab, ist im Rahmen der Beweiswürdigung eingehend darzulegen, welchem der Routenplaner bzw. der dort ausgewiesenen Fahrzeiten zu folgen ist.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 25. Oktober 2017 und der Bescheid vom 24. August 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03. Dezember 2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Ereignis vom 22. April 2015 als Arbeitsunfall anzuerkennen.
II. Die Beklagte erstattet die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers im Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren in vollem Umfang.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1988 geborene Kläger begehrt die Feststellung, dass es sich bei dem Ereignis vom 22.04.2015 um einen versicherten Wegeunfall im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) gehandelt hat.
Der Kläger arbeitete im Rahmen seiner Masterarbeit im Gebäude der Sektion für Physik der L.-Universität Am C. 1 in C-Stadt. Dort bereitete er am 22.04.2015 seine Präsentation für den nächsten Tag vor, an dem er die Ergebnisse seiner Vorbereitungsphase vorstellen und die Masterarbeit offiziell anmelden wollte.
Nach Aussagen von Kollegen verließ er gegen 19.00 Uhr das Universitätsgebäude, um mit dem Fahrrad nach Hause in die K-Straße 10, A-Stadt zu fahren. Der Kläger begab sich jedoch nicht unmittelbar nach Hause, sondern besuchte nach einem weiteren Aufenthalt in der Universität zunächst seinen Freund S. W. und S. L. in der S-Straße 6, 80805 A-Stadt. - Streitig ist zwischen den Parteien vor allem, ob sich der Kläger dort mehr als zwei Stunden aufhielt. - Nachfolgend verunfallte der Kläger gegen 23.30 Uhr an der Kreuzung D-Straße, als er als Fahrradfahrer unbehelmt bei Rot in südlicher Richtung die Kreuzung überquerte und hierbei in einen mit etwa 40 bis 50 km/h querenden VW-Bus hineinfuhr. Nach notärztlicher Erstversorgung wurde der Kläger in das Klinikum B. aufgenommen. Dort wurde ein offenes Schädel-Hirn-Trauma Grad III mit Felsenbeinfraktur rechts, eine Kalottenfraktur temporoparietooccipital rechts, ein Subduralhämatom links sowie diverse Kontusionsblutungen frontal bei Mittellinienshift diagnostiziert.
Zu dem zeitlichen Ablauf im Einzelnen: Die Mutter des Klägers teilte mit telefonischer Unfallmeldung vom 27.05.2015 mit, dass der Kläger am 22.04.2015 um 23.30 Uhr verunfallt sei. Am 01.06.2015 ergänzte die Mutter des Klägers, dass er einen Freund vor dem Unfall privat in dessen Wohnung besucht habe und sie zusammen zu Abend gegessen hätten. Der Kläger sei so gegen 21.00 Uhr bei dem Freund eingetroffen. Nach 23.00 Uhr habe er die Wohnung verlassen. Die genauen Zeiten würden noch mitgeteilt. Die Mutter des Klägers präzisierte mit weiterem Telefonat vom 03.06.2015, dass der Kläger um 20.28 Uhr bei dem Freund angerufen und sich zum Abendessen verabredet hätte. Laut Internet wäre er dann um 21.10 Uhr bis 21.15 Uhr dort gewesen. Kurz nach 23.00 Uhr hätte er dessen Wohnung verlassen. Laut Polizeibericht habe sich der Unfall um ca. 23.30 Uhr ereignet.
S. W. teilte mit Schreiben vom 16.06.2015 mit, dass er am Abend des 22.04.2015 länger als gewöhnlich im Büro gewesen sei. Gegen 20.15 Uhr habe er sein Büro im A. A-Stadt in der A-Straße verlassen und sich auf den Nachhauseweg begeben. Von dort habe er 30 Minuten mit dem Bus nach Hause benötigt, um die Wohnung in der S-Straße 6 zu erreichen. Bei seiner Ankunft zu Hause gegen 20.45 Uhr habe seine Mitbewohnerin S. L. berichtet, dass der Kläger angerufen habe und auf seinem Nachhauseweg kurz bei ihnen vorbeikommen würde. Im Nachhinein hätten die Eltern des Klägers nachvollziehen können, dass dieser den Anruf um 20.28 Uhr von seinem Smartphone abgesetzt hätte. Für S. L. hörte es sich so an, dass er zu diesem Zeitpunkt in C-Stadt mit dem Fahrrad losgefahren sei. Die beiden hätten rund fünf Minuten telefoniert. Er selbst hätte noch genügend Zeit gehabt, um zu Hause zu duschen und sich umzuziehen. Der Kläger müsse demnach um ca. 21.15 Uhr eingetrof...