BSG-Urteil vom 07.08.1991, AZ.: 1/3 RK 26/90
Anforderungen an ein ärztliches Gutachten nach § 51 SGB V, Ermessensspielraum der Kassen
Nach der – mit § 51 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V) inhaltlich übereinstimmenden – Vorschrift des § 183 Abs. 7 Satz 1 RVO in der Fassung des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I, 1881) – in Geltung gewesen ab 1. Oktober 1974 (§ 45 RehaAnglG) – kann die Krankenkasse dem Versicherten, wenn er nach ärztlichem Gutachten als erwerbsunfähig anzusehen ist, eine Frist von 10 Wochen setzen, innerhalb der er einen Antrag auf Maßnahmen zur Rehabilitation bei einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zu stellen hat. Bevor die Kasse die Entscheidung über die Fristsetzung trifft, muss – das ergibt sich eindeutig aus dem Gesetz – ein ärztliches Gutachten vorliegen. Das Gesetz sagt nicht, welcher Arzt das Gutachten zu erstatten hat.
In der Norm ist nicht definiert, was man unter einem "ärztlichen Gutachten" zu verstehen hat. Auch aus den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 3/1540, S. 13 zu § 200 des Entwurfs eines Krankenversicherungs-Neuregelungsgesetzes; BT-Drucks 3/2478, S 2 zu § 183 RVO; BT-Drucks 7/1237, S. 64 zu Nr. 8b – § 183 Abs. 7 RVO) ergibt sich kein Anhalt für die Auslegung dieses Begriffs. Dass es sich aber um mehr als ein Attest oder eine Bescheinigung handeln muss, wird in der Literatur zu Recht angenommen (vgl. dazu Krasney, MEDSACH 1972, 31; Kohlhausen, MEDSACH 1972, 35; Jonas, aaO, S. 38; Peters, § 183 Anm 13c; Krauskopf/ Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, 2. Aufl., § 193 Anm. 20). Hierfür sprechen bereits der allgemeine Sprachgebrauch und insbesondere die in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis übliche Differenzierung. Danach ist eine ärztliche Stellungnahme nur dann ein Gutachten, wenn darin – jedenfalls summarisch – die erhobenen Befunde wiedergegeben werden und sich der Arzt – soweit es sich um ein sozialmedizinisches Gutachten handelt – zu den nach seiner Auffassung durch die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer äußert (ähnlich SG Freiburg, WzS 1963, 215, 216; vgl. dazu auch Kohlhausen, aaO; Kagerer, WzS 1965, 304, 305; Peters, § 183 Anm. 13c).
Dass diese Anforderungen erfüllt sein müssen, macht auch die Funktion notwendig, die das ärztliche Gutachten im Rahmen des § 183 Abs. 7 RVO aF hat: Es soll als Grundlage für die Verwaltungsentscheidung der Krankenkasse dienen, ob dem Erkrankten wegen EU eine Frist zur Beantragung von Rehabilitationsmaßnahmen gesetzt werden kann. Deshalb hat es alle medizinischen Gesichtspunkte zu enthalten, die die Beurteilung zulassen, ob EU (§ 1247 RVO) anzunehmen ist oder nicht. Diese Entscheidung, die rechtlicher Natur ist, obliegt – hier allerdings nur für die Frage der Fristsetzung – der Krankenkasse und nicht dem Arzt (Peters, § 183, Anm. 13d; vgl. auch Krasney, aaO). Da die Rechtmäßigkeit der Fristsetzung aber auch von dem Inhalt des Gutachtens abhängt, muss dieses aus sich heraus verständlich und für diejenigen, die die Verwaltungsentscheidung möglicherweise überprüfen, nachvollziehbar sein. Das wäre aber nicht gewährleistet, wenn der Arzt sich darauf beschränkte, nur das Ergebnis seiner Überlegungen in der Form mitzuteilen, dass er EU bejaht.
Die Krankenkassen sind, selbst wenn sie aufgrund des ärztlichen Gutachtens die Erwerbsunfähigkeit bejahen, nicht verpflichtet, dem Versicherten stets eine Frist zur Stellung des Rehabilitationsantrags zu setzen. Sie haben insoweit einen Ermessensspielraum.
BSG-Urteil vom 08.11.2005, AZ.: B 1 KR 18/04
Verbindlichkeit des Gutachtens des Medizinischen Dienstes
Auch wenn dem sozialgerichtlichen Verfahren wegen der in §§ 103, 128 SGG niedergelegten Amtsermittlungspflicht eine subjektive Beweisführungslast fremd ist, können einen der Beteiligten nach den hier stattdessen geltenden Grundsätzen über die objektive Beweislast (Feststellungslast) gleichwohl nachteilige Folgen daraus treffen, dass das Gericht eine bestimmte Tatsache nach Ausschöpfung aller Beweismittel nicht feststellen kann. Dabei gilt der Grundsatz, dass jeder Beteiligte die Beweislast für diejenigen Tatsachen – in Bezug auf das Vorhandensein positiver wie für das Fehlen negativer Tatbestandsmerkmale – trägt, welche die von ihm geltend gemachte Rechtsfolge begründen (vgl. schon BSGE 6, 70, 73; BSGE 71, 256, 260 mwN = SozR 3-4100 § 119 Nr. 7 mwN; ferner z. B. Leitherer in: Meyer-Ladewig, u a, aaO, § 103 RdNr. 19a mwN; Roller in: Handkommentar, aaO, § 103 RdNr.0 34 ).
Dieser Grundsatz greift gerade typischerweise in den Fällen, in denen die Beurteilungen der Arbeits(un)fähigkeit durch den behandelnden Arzt auf der einen Seite und durch den MDK auf der anderen Seite voneinander abweichen. Dementsprechend sind nach der ständigen Rechtsprechung des BSG Krankenkassen und Gerichte an den Inhalt einer ärztlichen Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit nicht gebunden. Einer Arbeit...