Arbeitsunfälle sind heute im betrieblichen Alltag erfreulicherweise seltene Ereignisse. Dies ist sicherlich eine Folge der Reduzierung der sicherheitswidrigen Zustände und Verhaltensweisen – also der Gefährdungen. Bei der Arbeit gibt es jedoch weiterhin gefährliche Begebenheiten, bei denen jedoch "nichts passiert ist". Die in der Praxis häufig anzutreffende Vermutung, dass die Gefährdungen bei einem Beinaheunfall gering waren, sind – wie praktische Erfahrungen zeigen – falsch.
I. d. R. werden Beinaheunfälle in der Praxis nicht explizit betrachtet, weil sie nicht gemeldet, dokumentiert und analysiert werden. Die Chance, auch aus Beinaheunfällen zu lernen, ist damit sehr gering.
Aus Unfällen lernen
Fall 1: Bei Arbeiten auf einem Gerüst stößt der Bauarbeiter K. Mayer unbeabsichtigt an einen auf dem Arbeitsgerüst liegenden Hammer. Dieser fällt herunter und trifft seinen Kollegen P. Urban, der neben dem Gerüst arbeitet, an der Schulter. Peter Urban erleidet eine Fleischwunde und Prellungen. Hier liegt ein Unfall vor. Bei der Unfallanalyse zeigt sich, dass am Arbeitsgerüst die Seitenbretter (Bordbretter) fehlten und K. Mayer auf dem Gerüst den Hammer nicht korrekt abgelegt hatte. Die Seitenbretter wurden deshalb umgehend angebracht und alle Bauarbeiter entsprechend unterwiesen.
Fall 2: Gleiche Situation, nur landet der herunterfallende Hammer in diesem Fall einen halben Meter neben dem unten arbeitenden Mitarbeiter, P. Urban. Großer Schrecken, aber keine Verletzung bei P. Urban, der sich lautstark bei K. Mayer beschwert. Glück gehabt. Hier liegt kein Unfall vor, was häufig dazu führt, dass einfach weitergearbeitet wird, wenn nicht der Sicherheitsbeauftragte oder ein engagierter Mitarbeiter aktiv wird. Die Begebenheit wird deshalb weder gemeldet noch analysiert. D. h., die Ursachen dieser gefährlichen Begebenheit werden nicht ermittelt und damit auch keine geeigneten Schutzmaßnahmen ergriffen. Die Chance, aus der Begebenheit zu lernen (Korrektur- und Verbesserungsmaßnahmen einzuleiten), ist vertan. Würde diese gefährliche Begebenheit als Beinaheunfall erkannt und in vergleichbarer Weise wie ein Unfall analysiert, würden mit großer Wahrscheinlichkeit auch in diesem Fall die o. g. Präventionsmaßnahmen ergriffen und dadurch die Gefährdungen beseitigt bzw. reduziert.
Beinaheunfälle mehrheitlich einfach "hinzunehmen" – "es ist ja nichts passiert", ist eine in vielen Unternehmen anzutreffende Verhaltensweise und kennzeichnet auch die gelebte Sicherheitskultur.
Beinaheunfälle zum Thema machen
Die Unfallpyramide, die Schwere und Häufigkeit von Arbeitsunfällen in ein Verhältnis setzt, besagt, dass die Anzahl von Beinaheunfällen sehr viel höher ist als die der Unfälle. Hier bestehen gute Chancen, die Wirksamkeit des betrieblichen Arbeitsschutzes nachhaltig mit den Beschäftigten gemeinsam zu verbessern.
Nicht zu Beinaheunfällen zählen unsichere Zustände oder Situationen, also Gefahren, die zu einem Unfall oder einer Verletzung führen könnten, wenn keine Abhilfe geschaffen wird. Ein unsicherer Zustand kann durch fehlerhaftes Design, falsche Fertigungs- und Bauweise oder durch Mängel, die auf unzureichender Wartung beruhen, verursacht werden (Beispiele: verrostete Schutzabdeckung mit scharfen Kanten, Unebenheit in der Nähe eines Gehwegs, defekte Beleuchtung bei einer Außentreppe, die bei einem Notfall benutzt werden soll).