Leitsatz (amtlich)
1. Wird die für das Gericht bestimmte Post in ein Postschließfach gelegt, so geht sie nicht schon mit dem Einsortieren zu, sondern erst in dem Zeitpunkt, in dem das Postschließfach nach den vom Gericht getroffenen Vorkehrungen oder nach den Gepflogenheiten des Verkehrs geleert zu werden pflegt.
2. Erklärt der Kläger dem FG gegenüber nach Schluß der mündlichen Verhandlung und nach Verkündung des Urteils, er nehme die Klage zurück, und legt er gleichwohl gegen das FG-Urteil Revision ein, so wird die Klagerücknahme, wenn das FA nach Revisionseinlegung in die Klagerücknahme einwilligt, in der Revisionsinstanz wirksam. Damit wird das FG-Urteil unwirksam und die Revision des Klägers gegenstandslos. Der BFH hat als das zur Zeit mit der Sache befaßte Gericht das Verfahren durch Beschluß einzustellen.
Normenkette
FGO § 72
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hatte gegen den Bescheid über Lohnsteuer-Jahresausgleich 1976 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung Klage erhoben. Das Finanzgericht (FG) hatte die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung auf den 16. Februar 1978, 12.00 Uhr, geladen. Nach Schluß der mündlichen Verhandlung, zu der weder der Kläger noch sein Prozeßbevollmächtigter erschienen waren, verkündete der Vorsitzende das Urteil, mit dem die Klage abgewiesen wurde.
Am 17. Februar 1978 wurde dem Vorsitzenden ein Schreiben des Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 14. Februar 1978 vorgelegt, in dem dieser die Klage zurücknahm. Das Schreiben war dem FG mit der Post am 16. Februar 1978 zugegangen. Die für das FG bestimmte Post kommt in ein Postschließfach, das zweimal täglich, gegen 7.30 Uhr und 16.30 Uhr, geleert wird. Das Schreiben des Prozeßbevollmächtigten wurde nach der ersten Leerung im Laufe des 16. Februar 1978 in das Postschließfach gelegt und diesem mit der zweiten Leerung am Nachmittag entnommen.
Das FG stellte den Beteiligten das verkündete Urteil zu, gegen das der Prozeßbevollmächtigte des Klägers Revision einlegte. Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und nach den Anträgen in erster Instanz zu erkennen. In der Revisionsbegründung geht er nur auf die sachlichen Probleme, nicht aber auf die Klagerücknahme ein.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) hält die Revision für unzulässig und führt aus, der Kläger habe mit Schriftsatz vom 14. Februar 1978 die Klage im finanzgerichtlichen Verfahren vor Schluß der mündlichen Verhandlung zurückgenommen. Das FA erklärt für den Fall, daß der Schriftsatz erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung eingegangen sein sollte, sein Einverständnis mit der Rücknahme. Diese habe den Verlust der Klage zur Folge. Dem FG sei daher aufzugeben, die Einstellung des Verfahrens zu beschließen.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren ist durch Beschluß einzustellen, da der Kläger die Klage zurückgenommen und das FA in die Klagerücknahme eingewilligt hat (§ 72 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Der Kläger kann seine Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen (§ 72 Abs. 1 Satz 1 FGO). Nimmt der Kläger die Klage nach Schluß der mündlichen Verhandlung zurück, ist die Rücknahme nur mit Einwilligung des FA möglich (§ 72 Abs. 1 Satz 2 FGO).
Für die Rücknahme- und die Einwilligungserklärung sieht § 72 FGO keine besondere Form vor. Nach § 155 FGO i. V. m. § 269 Abs. 2 Satz 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) in der durch die Vereinfachungsnovelle vom 3. Dezember 1976 (BGBl I 1976, 3281) geänderten Fassung wird die Klage, wenn die Zurücknahme nicht in der mündlichen Verhandlung erklärt wird, durch Einreichung eines Schriftsatzes zurückgenommen (vgl. auch Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 5. März 1971 VI R 184/68, BFHE 101, 483, BStBl II 1971, 461). Dies gilt entsprechend für die Einwilligung in die Klagerücknahme (Gräber, Deutsches Steuerrecht 1967 S. 176 - DStR 1967, 176 -). Die in dieser Form einzureichenden Erklärungen sind in entsprechender Anwendung des § 269 Abs. 2 Satz 1 ZPO "dem Gericht" gegenüber abzugeben. Das ist das Gericht, das zur Zeit mit der Sache befaßt ist (BFH-Beschluß VI R 184/68; Gräber, a. a. O.).
Werden Rücknahme und Einwilligung schriftlich erklärt, so werden die Erklärungen in dem Zeitpunkt wirksam, in dem sie dem, für den sie bestimmt sind, zugehen (§ 130 BGB). Mithin ist maßgebend der Zeitpunkt des Zugangs bei dem zu dieser Zeit mit der Sache befaßten Gericht (Gräber, a. a. O.).
Eine Willenserklärung ist zugegangen, wenn sie derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, daß dieser unter normalen Umständen von ihr Kenntnis nehmen kann und die Kenntnisnahme nach den von ihm selbst getroffenen Vorkehrungen oder nach den Gepflogenheiten des Verkehrs auch erwartet werden kann (Urteil des Reichsgerichts - RG - vom 3. Mai 1934 IV 17/34, RGZ 144, 289; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 37. Aufl., § 130 Anm. 2 a; Kommentar von Reichsgerichtsräten und Bundesrichtern zum BGB - BGB-RGRK -, 12. Aufl., § 130 Rdnr. 9; Larenz, Bürgerliches Gesetzbuch AT, 4. Aufl., § 21 II b; Lange/Köhler, Bürgerliches Gesetzbuch AT, 16. Aufl., § 40 III 2 a, jeweils mit weiteren Nachweisen). Holt der Empfänger die Post aus dem Postschließfach ab, so sind Briefe nicht schon mit dem Einsortieren, sondern erst in dem Zeitpunkt zugegangen, in welchem das Postschließfach normalerweise geleert zu werden pflegt (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Mai 1960 V C 320/58, Neue Juristische Wochenschrift 1960 S. 1587; Palandt, a. a. O., Anm. 2 a aa; BGB-RGRK, a. a. O.; Larenz, a. a. O.), sofern nicht nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine frühere Entnahme erwartet werden konnte
Da das Postschließfach des FG nur zweimal täglich gegen 7.30 Uhr und 16.30 Uhr geleert wurde und die Rücknahmeerklärung im Zeitpunkt der ersten Leerung am Morgen noch nicht einsortiert war, konnte nach den vom FG getroffenen Vorkehrungen erst am Nachmittag mit der Abholung gerechnet werden. Eine frühere Abholung konnte auch nach den Gepflogenheiten des Verkehrs nicht erwartet werden. Somit ging die Rücknahmeerklärung dem FG erst nach Schluß der mündlichen Verhandlung zu, so daß nach § 72 Abs. 1 Satz 2 FGO die Einwilligung des FA notwendig war. Die Rücknahme war daher zunächst mangels Einwilligung des FA noch nicht wirksam, so daß der Rechtsstreit weiterzuführen war. Das FG durfte deshalb den Beteiligten das verkündete Urteil zustellen. Der Vorsitzende war auch nicht verpflichtet, zuvor eine Stellungnahme des FA zu der Rücknahmeerklärung einzuholen (BFH-Beschluß vom 3. März 1967 III R 136/66, BFHE 87, 559, BStBl III 1967, 225).
Mit dem Zugang der Einwilligungserklärung des FA beim BFH wurde die Klagerücknahme wirksam. Zu diesem Zeitpunkt war das FG-Urteil infolge der zulässigen Revision des Klägers noch nicht rechtskräftig. Da der BFH durch die Revisionseinlegung mit der Sache befaßt war, war er die zuständige Stelle für die Einwilligungserklärung (Beschluß VI R 184/68). Die Einlegung der Revision durch den Kläger war ohne Einfluß auf die Wirksamkeit seiner Rücknahmeerklärung. Denn er war an die Erklärung über die Klagerücknahme gebunden, solange die Einwilligung noch nicht versagt war. Als prozessuale Erklärung ist die Rücknahmeerklärung nicht nur bedingungsfeindlich, sondern auch unwiderruflich und unanfechtbar (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 8. Aufl., § 72 FGO Tz. 8; Gräber, Kommentar zur Finanzgerichtsordnung, § 72 Rdnr. 3 unter F, mit weiteren Nachweisen). Gründe, die ausnahmsweise dazu führen könnten, die Klagerücknahme als unwirksam zu behandeln (Drohung, Täuschung, unbewußte Irreführung durch die Behörde oder das Gericht, vgl. Gräber, a. a. O., § 72 Rdnr. 16), wurden im Streitfall nicht vorgetragen.
Dadurch, daß die Klagerücknahme mit der Einwilligung des FA wirksam wurde, wurden die Wirkungen der Rechtshängigkeit von Anfang an beseitigt. Das FG-Urteil wurde unwirksam (BFH-Beschlüsse VI R 184/68; vom 29. September 1977 V R 46/75, BFHE 123, 312, BStBl II 1978, 13). Das Verfahren war daher nach § 72 Abs. 2 Satz 2 FGO durch Beschluß einzustellen. Hierfür war der BFH, der im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Klagerücknahme als Rechtsmittelgericht mit der Sache befaßt war, zuständig.
Fundstellen
BStBl II 1978, 649 |
BFHE 1979, 498 |