Entscheidungsstichwort (Thema)
Insolvenzgeld im Kalenderjahr des Zuflusses beim Kindergeld zu berücksichtigen
Leitsatz (NV)
1. Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sämtliche Zu- und Abflüsse in dem Kalenderjahr zu berücksichtigen, in dem sie anfallen.
2. Dies gilt auch für Insolvenzgeld, das zwar aufgrund einer beruflichen Tätigkeit im Vorjahr angefallen ist, jedoch erst im Folgejahr ausgezahlt wurde.
3. Auch bei Annahme einer Vollzeiterwerbstätigkeit des Kindes in einzelnen Monaten ist Kindergeld für das gesamte Jahr zu gewähren, wenn die Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag nicht überschreiten (Bestätigung des BFH-Urteils vom 16.11.2006 III R 15/06).
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 Sätze 2, 7
Verfahrensgang
Hessisches FG (Urteil vom 31.01.2005; Aktenzeichen 2 K 4491/03) |
Tatbestand
I. Zwischen den Beteiligten ist im Streit, ob der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für ihre im August 1982 geborene Tochter T im Hinblick auf die Höhe ihrer Einkünfte/Bezüge im Jahr 2002 ein Kindergeldanspruch zusteht.
T legte im Sommer 2001 das Abitur ab, wartete im Kalenderjahr 2002 von Januar bis September zunächst auf einen Studienplatz und studierte dann ab Oktober 2002. Während der Wartezeit war sie von Januar bis März 2002 erwerbstätig. Ihre Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bei einer Telekommunikationsfirma betrugen für diese drei Monate insgesamt 7 671 €. Außerdem erhielt T am 29. Januar 2002 Insolvenzgeld in Höhe von 2 333,35 € für Tätigkeiten in der Zeit vom 1. September 2001 bis 15. November 2001. Während ihres Studiums bezog T BAföG-Zuschüsse in Höhe von insgesamt 795 €. Insgesamt betrug das Einkommen danach 10 799,35 €.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) hob zunächst mit Bescheid vom 1. November 2002 die Kindergeldfestsetzung von Januar bis März 2002 wegen Aufnahme der Erwerbstätigkeit auf und forderte das gezahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 462 € zurück. In der Einspruchsentscheidung vom 31. Oktober 2003 hob die Familienkasse --nach vorherigem Hinweis auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung-- dann die Kindergeldfestsetzung für T für das gesamte Kalenderjahr 2002 wegen Überschreitens des Jahresgrenzbetrags auf und forderte das gezahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 1 848 € zurück. Die Familienkasse ging dabei von Einkünften und Bezügen in Höhe von 9 267,96 € aus.
Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen erhobene Klage als unbegründet ab. Zwar habe T grundsätzlich die Berücksichtigungsvoraussetzungen erfüllt, der Kindergeldanspruch sei aber deshalb nicht gegeben, weil die Einkünfte/Bezüge der T den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der im Streitjahr geltenden Höhe von 7 188 € überschritten hätten. T habe im Jahr ein Gesamteinkommen in Höhe von 10 799,35 € erzielt. Die Familienkasse habe in diese Berechnung zu Recht das im Januar 2002 gezahlte Insolvenzgeld in Höhe von 2 333,35 € mit einbezogen. Entgegen der Ansicht der Klägerin sei das Insolvenzgeld nicht auf den Zeitraum zu verteilen, für den es gezahlt worden sei. Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich, dass insoweit das Zuflussprinzip gelten solle. Diese Auslegung entspreche auch dem mit § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verfolgten Zweck, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern zu berücksichtigen. Sozialabgaben seien entgegen der Auffassung der Klägerin nicht von den Einkünften/ Bezügen abzusetzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) könnten Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen nicht abgezogen werden. Bei der gegebenen Sachlage komme es nicht mehr darauf an, ob die von der Klägerin geltend gemachten zusätzlichen Werbungskosten für drei Fahrten an den Studienort in Höhe von jeweils 120 € sowie Umzugskosten in Höhe von 265 € tatsächlich einkommensmindernd berücksichtigt werden müssten. Denn auch bei einer Berücksichtigung dieser Beträge sei der Grenzbetrag von 7 188 € deutlich überschritten.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin sinngemäß die Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Die Festsetzung des Kindergeldes sei zu Unrecht aufgehoben worden. Denn die Einkünfte und Bezüge der Tochter hätten den Jahresgrenzbetrag im Kalenderjahr 2002 nicht überschritten. Das FG habe weder das Insolvenzgeld noch die abgeführten Sozialabgaben als Einkünfte ansetzen dürfen. Außerdem seien weitere Aufwendungen in Höhe von 599 € für einen Flatscreenmonitor als Ausbildungskosten zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und den Bescheid der Familienkasse vom 1. November 2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 31. Oktober 2003 aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Mangels ausreichender Feststellungen des FG kann der Senat nicht entscheiden, ob und ggf. für welchen Zeitraum des Jahres 2002 der Klägerin Kindergeld zusteht. Die Klägerin hat Anspruch auf Kindergeld für die Monate Januar bis Dezember 2002, wenn die Einkünfte/Bezüge der Tochter 7 188 € im Kalenderjahr 2002 nicht überschreiten. Übersteigen die Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag, kann ein Anspruch auf Kindergeld für die Monate Mai bis Dezember 2002 bestehen, wenn T in den Monaten Januar bis März einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgegangen ist und deshalb nach der Rechtsprechung des Senats in diesen Monaten nicht nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG als Kind zu berücksichtigen ist mit der Folge, dass die in diesem Zeitraum bezogenen Einkünfte bei der Prüfung, ob der anteilige Jahresgrenzbetrag für den Zeitraum April bis Dezember 2002 überschritten ist, außer Betracht bleiben. Ob die Tochter eine Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeübt hat, kann der Senat mangels tatsächlicher Feststellungen des FG hierzu nicht abschließend entscheiden. Dies ist ein materieller Fehler, der auch ohne Rüge zur Aufhebung des FG-Urteils führt (Senatsurteil vom 4. November 2004 III R 73/03, BFHE 207, 327, BStBl II 2005, 290, m.w.N.).
1. Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wird ein volljähriges Kind, auch wenn grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 vorliegen, nur berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7 188 € im Kalenderjahr hat.
a) Das FG hat zutreffend entschieden, dass das am 29. Januar 2002 gezahlte Insolvenzgeld in Höhe von insgesamt 2 333,35 € als Einkünfte/Bezüge zu berücksichtigen ist, da es im Kalenderjahr 2002 der T zugeflossen ist.
Nach ständiger Rechtsprechung werden bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sämtliche Zu- und Abflüsse in dem Kalenderjahr berücksichtigt, in dem sie anfallen. Lediglich innerhalb des Kalenderjahres ist nicht nach dem Zuflusszeitpunkt, sondern nach der wirtschaftlichen Zurechnung zu bestimmen, auf welche Monate Einkünfte und Bezüge "entfallen" (z.B. BFH-Urteile vom 11. Dezember 2001 VI R 5/00, BFHE 197, 408, BStBl II 2002, 205; vom 16. April 2002 VIII R 76/01, BFHE 199, 116, BStBl II 2002, 525, und vom 22. Mai 2002 VIII R 74/99, BFH/NV 2002, 1430). Dies gilt nach den vorgenannten Entscheidungen für den Zufluss von BAföG-Zuschüssen, Rentennachzahlungen und zu Unrecht ausgezahltem Arbeitslohn.
Nichts anderes kann für das hier streitige Insolvenzgeld gelten, das zwar aufgrund einer beruflichen Tätigkeit im Vorjahr angefallen ist, jedoch erst im Januar des Folgejahres ausgezahlt wurde. Auch das Insolvenzgeld führt zu einer Minderung oder ggf. im Zusammenhang mit sonstigen Einkünften/Bezügen zu einem Wegfall der Bedürftigkeit des Kindes i.S. des § 1602 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), so dass der Unterhaltspflichtige eine Herabsetzung des Unterhalts verlangen kann. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann dem nicht entgegengehalten werden, dass die Zahlungen auf Zeiträume entfallen, in denen das Kind noch bedürftig gewesen sei (vgl. BFH-Urteil in BFHE 199, 116, BStBl II 2002, 525). § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sieht anders als § 32 Abs. 4 Sätze 6 und 8 EStG eine wirtschaftliche Zuordnung nicht vor.
b) Im Hinblick auf die Beiträge zur Sozialversicherung ist das FG zwar in Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 21. Juli 2000 VI R 153/99, BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566, und vom 4. November 2003 VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584) davon ausgegangen, dass Einkünfte und Bezüge i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht um die Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung zu mindern seien. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verstößt diese Auslegung jedoch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Der Begriff der Einkünfte sei zwar in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definiert und könne deshalb nicht als "zu versteuerndes Einkommen" interpretiert werden. Er sei aber verfassungskonform so auszulegen, dass der Relativsatz "die zur Bestreitung des Unterhalts (…) bestimmt oder geeignet sind" nicht nur auf Bezüge, sondern auch auf Einkünfte des Kindes zu beziehen sei. Daher sind auch Einkünfte des Kindes nur dann in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen, wenn sie zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind. Nicht als Einkünfte anzusetzen sind daher jedenfalls diejenigen Beträge, die --wie die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge-- von Gesetzes wegen dem Einkünfte erzielenden Kind oder dessen Eltern nicht zur Verfügung stehen und deshalb die Eltern finanziell nicht entlasten können (BVerfG-Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260). Danach müssen entgegen der Auffassung des FG die Arbeitnehmeranteile an der gesetzlichen Sozialversicherung in Höhe von insgesamt 1 576,35 € von den Einnahmen der T abgezogen werden.
Auch bei Berücksichtigung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung übersteigen die Einkünfte/Bezüge der Tochter aber den Jahresgrenzbetrag von 7 188 € (9 267,96 € - 1 576,35 € = 7 691,61 €). Die weiteren von der Klägerin erstmals in der Revisionsbegründung geltend gemachten Ausbildungskosten in Höhe von 599 € für die Anschaffung eines Flatscreenmonitors können als neues tatsächliches Vorbringen im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden.
2. Trotz Überschreitens des Jahresgrenzbetrags kann im Streitfall aber für die Monate April bis Dezember 2002 ein Anspruch auf Kindergeld für T bestehen, wenn diese in den Monaten Januar bis März 2002 eine Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeübt hat. Handelte es sich um eine Vollzeiterwerbstätigkeit, ist die Tochter nach der ständigen Rechtsprechung des BFH für diese Monate nicht nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG zu berücksichtigen, auch wenn die Voraussetzungen im Übrigen (hier nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) vorliegen. Anspruch auf Kindergeld kann dann im Streitfall für die Monate April bis Dezember 2002 bestehen, wenn die Einkünfte/Bezüge in diesem Zeitraum nicht über dem anteiligen Jahresgrenzbetrag (9/12 von 7 188 €, vgl. § 32 Abs. 4 Satz 7 EStG) lagen. Die in den Monaten Januar bis März 2002 erzielten Einkünfte bleiben außer Ansatz (s. im Einzelnen Senatsurteil vom 15. September 2005 III R 67/04, BFHE 211, 452, BStBl II 2006, 305).
Ob die Tochter der Klägerin einer Vollzeiterwerbstätigkeit im Sinne der Rechtsprechung des BFH nachgegangen ist, kann der Senat nicht beurteilen, weil das FG hierzu keine Feststellungen getroffen hat. Die Familienkasse ist offensichtlich von einer Vollzeiterwerbstätigkeit ausgegangen. Jedoch schloss nach damaliger Verwaltungsauffassung nur eine im Anschluss an einen berufsqualifizierenden Abschluss aufgenommene Vollzeiterwerbstätigkeit die Berücksichtigung als Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bis c EStG aus (vgl. Abschn. 63.3.2.6 Abs. 2a Satz 1 der Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des EStG). Das FG wird diese Feststellungen nachholen.
Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Klägerin im zweiten Rechtsgang beim FG --anders als im Revisionsverfahren-- neue Tatsachen auch hinsichtlich bisher im Klageverfahren nicht geltend gemachter Ausbildungskosten vorbringen kann. Wären diese Aufwendungen anzuerkennen und würden deshalb die Einkünfte/Bezüge den Jahresgrenzbetrag nicht überschreiten, wäre nach dem Senatsurteil vom 16. November 2006 III R 15/06 (BFH/NV 2007, 561) auch bei Annahme einer Vollzeiterwerbstätigkeit Kindergeld für das gesamte Jahr zu gewähren.
Fundstellen
Haufe-Index 1766252 |
BFH/NV 2007, 1481 |