Kindergeldanspruch für ein volljähriges behindertes Kind
Hintergrund: Verheiratetes Kind
M ist Mutter einer (1987 geborenen und damit im Streitzeitraum über 25-jährigen) Tochter (T). T war im Streitzeitraum (November 2018 bis Februar 2019) verheiratet und hatte mit ihrem Ehemann (EM) einen in 2017 geborenen Sohn (E), den Enkel der M. EM ist zudem Vater eines weiteren Kindes aus einer früheren Beziehung (X), für das er Unterhalt zahlt.
M bezog für T, die behindert ist, laufend Kindergeld. Nach Prüfung der finanziellen Situation der Familie der T hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes ab November 2018 auf.
Die dagegen gerichtete Klage wurde vom FG abgewiesen, da die von der Familienkasse ermittelten Bezüge der T über dem (unstreitigen) Bedarf der T lagen.
Entscheidung: Kindergeld bei Pflegegeld und Ehegattenunterhalt
Die Revision hatte zum Teil (Monate Januar/Februar 2019) Erfolg. Im Übrigen (Monate November/Dezember 2018) wurde die Revision zurückgewiesen. Der BFH klärt die Rechtslage für die Fallkonstellation, in der dem Kind Pflegegeld und ein Unterhaltsanspruch gegen seinen Ehepartner zusteht.
Kindergeld für ein behindertes Kind
Für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, besteht ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG).
Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (z.B. BFH v. 27.11.2019, III R 28/17, BStBl II 2021 S. 807, Rz. 16). Diese Prüfung ist für jeden Monat gesondert vorzunehmen (z.B. BFH v. 11.4.2013, III R 35/11, BStBl II 2013 S. 1037).
Grundbedarf
Der allgemeine Grundbedarf orientiert sich an dem Grundfreibetrag des § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG (BFH v. 13.4.2016, III R 28/15, BStBl II 2016 S. 648).
Behinderungsbedingter Mehrbedarf bei Pflegegeld
Der Mehrbedarf kann einzeln nachgewiesen oder mit dem Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) angesetzt werden. Wird Pflegegeld gezahlt, das den Behinderten-Pauschbetrag übersteigt, wird vermutet, dass mindestens ein Mehrbedarf in Höhe des gezahlten Pflegegeldes besteht (BFH v. 27.10.2021, III R 19/19, BStBl II 2022 S. 469, Rz. 16). Im Streitfall lag das Pflegegeld monatlich über dem anteiligen monatlichen Pauschbetrag. Es war daher als Mehrbedarf anzusetzen.
Pflegegeld als Bezug
Bezüge, die nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt sind, sondern immaterielle Beeinträchtigungen abmildern sollen, werden nicht als dem Kind zur Verfügung stehende Mittel berücksichtigt. Pflegegeld kommt eine derartige Sonderfunktion nicht zu. Es ist daher als ein für den Unterhalt geeigneter Bezug anzusetzen.
Anspruch des Kindes auf Ehegattenunterhalt
Unter die Bezüge des Kindes fallen auch Unterhaltsleistungen des Ehegatten. Bei der Ermittlung des Unterhaltsanspruchs sind (tatsächlich gezahlte) LSt, SolZ und KiSt vom Einkommen des Ehegatten abzuziehen. Diese Posten stehen für den Ehegatten tatsächlich nicht zur Verfügung (ebenso A 19.5 Satz 2 DA-KG 2022). Gleiches gilt für die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes und des Ehegatten.
Unterhalt des Ehemanns für sein Kind
Der von EM an X gezahlte Unterhalt mindert den an T zu leistenden Unterhalt. Denn der Anspruch des Ehegatten auf Ehegattenunterhalt ist gegenüber dem Unterhaltsanspruch minderjähriger Kinder nachrangig (§ 1609 BGB). Daher stehen die Mittel, die vom Ehegatten (EM) an ein nicht im gemeinsamen Haushalt lebendes Kind (X) gezahlt werden, nicht für den Unterhalt des Ehegatten zur Verfügung. Das Existenzminimum von X wird damit kindergeldrechtlich nicht unzulässig sowohl bei X als auch bei T berücksichtigt. Denn der an X gezahlte Unterhalt mindert den an T zu leistenden Unterhalt (um die Hälfte des von EM an X monatlich geschuldeten Unterhalts).
Unterhaltsleistungen an das gemeinsame Kind
Beide Elternteile sind ihrem mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebenden unverheirateten minderjährigen Kind gleichermaßen zum Unterhalt verpflichtet. Diese Verpflichtung geht der zum Unterhalt des Ehepartners vor (§ 1609 BGB). Für den Streitfall ergibt sich daraus, dass T von EM keinen Unterhalt beanspruchen kann, soweit dieser mit seinen Mitteln E unterhalten muss.
Der Aufwand des EM für den Unterhalt von E kann nach dem Mindestunterhalt der Düsseldorfer Tabelle bemessen werden. Diese differenziert allerdings nach dem Alter des Kindes, während der Freibetrag für das sächliche Existenzminimum nicht nach dem Alter unterscheidet (§ 32 Abs. 6 EStG). Der BFH führt aus, er neige dazu, von dem für den Barunterhalt erforderlichen Betrag lediglich das halbe Kindegeld abzuziehen, da das Kindergeld (über die Düsseldorfer Tabelle hinaus) auch zur Deckung des Betreuungs- Erziehungs- und Ausbildungsbedarfs dient.
Revision zum Teil begründet
Die Frage des teilweisen oder vollen Abzugs des Kindergeldes für das gemeinsame Kind E konnte im Streitfall für November/Dezember 2018 offenbleiben, weil selbst bei Abzug des vollen Kindergeldes der Bedarf der T gedeckt wird. Die Revision war insofern unbegründet. Für 2019 war die Revision begründet und führte zur entsprechenden Kindergeld-Festsetzung. Die Minderung des von EM an T gezahlten Unterhalts um die Hälfte des von EM an X gezahlten Unterhalts führte hier zum Unterschreiten des Bedarfs und zur Begründetheit der Revision.
Hinweis: Unterhaltsverpflichtung des behinderten Kindes gegenüber seinem Kind
Die Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes, für das Kindergeld begehrt wird, sind nicht wegen Unterhaltsverpflichtungen des Kindes gegenüber seinem Kind, d.h. dem Enkel der Eltern des behinderten Kindes (hier E), zu kürzen. Denn die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt bestimmt sich danach, ob Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes dessen existenziellen Lebensbedarf decken. Der Unterhaltsbedarf des Kindeskindes vermindert jedoch weder die Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes noch erhöht er dessen existenziellen Lebensbedarf.
BFH Urteil vom 20.10.2022 - III R 13/21 (veröffentlicht am 09.03.2023)
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