Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Schätzung des Gewinns nichtbuchführender, jedoch buchführungspflichtiger Landwirte nach dem Vermögensvergleich
Leitsatz (NV)
Die Schätzung des Gewinns buchführungspflichtiger, jedoch keine Bücher führenden Landwirte unter Zuhilfenahme einer pauschalen Schätzungsmethode stellt als Notbehelf keinen Verzicht auf die Erfassung der tatsächlichen Gewinne durch Vermögensvergleich im Rahmen einer Betriebsprüfung dar.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt u. a. eine Landwirtschaft. Die landwirtschaftliche Nutzfläche betrug in den Streitjahren über 100 ha, wobei ein Teil der Flächen zugepachtet war.
Seiner seit dem Wirtschaftsjahr 1963/64 bestehenden Verpflichtung, Bücher zu führen und aufgrund jährlicher Bestandsaufnahmen regelmäßig Abschlüsse zu machen, kam der Kläger bis einschließlich dem Wirtschaftsjahr 1968/69 nach. Ab dem Wirtschaftsjahr 1969/70 führte er keine Bücher und fertigte auch keine Abschlüsse mehr. Es liegen seitdem auch keine sonstigen Aufzeichnungen über Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben vor. Aus diesem Grunde ermittelte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) ab dem Wirtschaftsjahr 1969/70 die Gewinne aus Land- und Forstwirtschaft nach den Schätzungsrichtlinien der Oberfinanzdirektion (OFD) München, die auf § 217 der Reichsabgabenordnung - AO - (§ 162 der Abgabenordnung - AO 1977 -) beruhen und von Schätzungsgrundbeträgen je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche ausgehen (sog. Bayerisches Schätzungsverfahren).
Die so ermittelten Gewinne legte das FA zeitanteilig den nach § 100 Abs. 2 AO vorläufigen Veranlagungen der Kalenderjahre 1970 bis 1972 zugrunde. Dabei setzte es für das Kalenderjahr 1970 neben den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft einen Verlust aus Gewerbebetrieb sowie Einkünfte aus Kapitalvermögen an. Danach betrug die Einkommensteuerschuld 1970 0 DM (Bescheid vom 5. Juli 1972). Für das Kalenderjahr 1971 setzte es neben den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft Einkünfte aus Gewerbebetrieb und Einkünfte aus Kapitalvermögen an und zog den im Jahr 1970 nicht ausgeglichenen Verlust aus Gewerbebetrieb nach § 10d des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab. Dies führte auch für das Kalenderjahr 1971 zu einer Einkommensteuerschuld von 0 DM (vorläufiger Bescheid vom 21. Februar 1973). Im Steuerbescheid für 1972 vom 29. Januar 1974 legte das FA Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb sowie aus Kapitalvermögen der Besteuerung zugrunde. Die Einkommensteuerschuld 1972 betrug 4 554 DM. Mit Bescheiden vom 1. Dezember 1975 erklärte das FA die Einkommensteuerbescheide 1970 und 1971 mit der Begründung, ,,daß die Voraussetzungen für eine Berichtigung gemäß § 222 AO für diesen Zeitraum nicht mehr vorlägen", nach § 225 AO für endgültig.
Entsprechend dem Ergebnis einer Betriebsprüfung (Bericht vom 30. September 1976) schätzte das FA die Gewinne aus Land- und Forstwirtschaft der Wirtschaftsjahre 1970/71 bis 1974/75 durch einen den Zeitraum 1. Juli 1970 bis 1975 umfassenden Betriebsvermögensvergleich. Den gegenüber den bisherigen Schätzungen errechneten Mehrgewinn von insgesamt 626 404 DM verteilte es auf die genannten Wirtschaftsjahre. Der Verlust aus Gewerbebetrieb 1970 wäre in vollem Umfang im Jahre 1970 ausgeglichen worden. Da die Einkommensteuer 1970 jedoch unverändert mit 0 DM festzusetzen gewesen wäre, änderte das FA den endgültigen Einkommensteuerbescheid 1970 nicht. Dementsprechend erließ das FA am 11. Januar 1977 einen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geänderten Einkommensteuerbescheid für 1971 sowie einen nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 geänderten endgültigen Einkommensteuerbescheid für 1972. Die dagegen eingelegten Einsprüche blieben erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 31. August 1977).
Mit der Klage trugen die Kläger im wesentlichen vor, daß eine Änderung des Einkommensteuerbescheides 1971 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht möglich sei, weil insoweit keine neuen Tatsachen vorlägen. Die Änderung des vorläufigen Einkommensteuerbescheides für 1972 fochten sie mit der Begründung an, daß nach dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung das FA auch bei diesem vorläufigen Einkommensteuerbescheid für 1972 von der Schätzung nach Richtsätzen nicht abgehen könne. Die Klage hatte hinsichtlich des Veranlagungszeitraums 1971 vollen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verneinte das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr 1 AO 1977. Für den Veranlagungszeitraum 1972 erkannte das FG die Änderung des ursprünglichen Bescheides aufgrund der Schätzung des Betriebsprüfers nach dem Vermögensvergleich dem Grunde nach an, berücksichtigte jedoch einen Verlustvortrag aus dem Jahre 1970.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen. Hilfsweise beantragt das FA, die Gewährung des Verlustabzuges nach § 10d EStG im Veranlagungszeitraum 1972 zu versagen.
Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet.
Das FA war - entgegen der Meinung des FG - berechtigt, den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid für 1971 aufgrund der Feststellungen der Betriebsprüfung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu ändern.
a) Bestandskräftige Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden die zu einer höheren Steuer führen.
Unstreitig ist eine Gewinnschätzung selbst keine Tatsache i. S. des § 173 AO 1977. Tatsachen in diesem Sinne sind jedoch neue Schätzungsgrundlagen, die erst durch eine Außenprüfung nachträglich bekanntwerden. Dazu gehören auch die für einen Vermögensvergleich erforderlichen, vom Betriebsprüfer erstmals festgestellten tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen und der sich daraus ergebende, gegenüber der ursprünglichen Schätzung wesentlich höhere Vermögenszuwachs einschließlich der festgestellten Einlagen und Entnahmen. Hat daher das FA den Gewinn eines buchführungspflichtigen, aber keine Bücher führenden Land- und Forstwirts zunächst nach Richtsätzen geschätzt, und werden erst durch eine Außenprüfung die für einen Vermögensvergleich erforderlichen tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen und ein sich daraus ergebender weit höherer Vermögenszuwachs bekannt, so liegt darin eine Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, die zu einer entsprechenden Änderung einer bestandskräftigen Veranlagung berechtigt, wenn das FA die Tatsachen, aus denen sich der Vermögenszuwachs ergibt, bei der ursprünglichen Veranlagung nicht gekannt hat und bei rechtzeitiger genauer Kenntnis dieser Tatsachen von vornherein die Schätzungen nicht nach Richtsätzen, sondern im Wege des Vermögensvergleiches vorgenommen hätte. Dazu hat der Senat im Beschluß vom 3. Dezember 1981 IV R 99/77 (BFHE 135, 45, BStBl II 1982, 273) ausgeführt: Diese Voraussetzung könne nach allgemeiner Erfahrung mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bejaht werden. Denn die Schätzungen in Anlehnung an die Gewinnermittlung nach Durchschnittsätzen oder nach Richtsätzen werden nur vorgenommen, wenn es bei ursprünglichen Veranlagungen an anderen geeigneten Schätzungsunterlagen fehle. Dem FA könne nicht entgegengehalten werden, es müsse die Tatsache des hohen Vermögenszuwachses gegen sich als bekannt gelten lassen, weil es bei den Veranlagungen bewußt darauf verzichtet habe, die Ermittlungen zur Feststellung der tatsächlichen Gewinne durchzuführen. Solche Ermittlungen seien dem FA bei nichtbuchführenden Landwirten mangels jeglicher Unterlagen im normalen Veranlagungsverfahren nicht zuzumuten; sie könnten im allgemeinen nur im Zuge einer Betriebsprüfung durchgeführt werden.
Der Senat sieht keine Veranlassung, von dieser Beurteilung zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO unter der Geltung des § 173 AO 1977, durch den sich die rechtliche Problematik in dieser Frage nicht geändert hat, abzuweichen. Das FA ist bei der Erstveranlagung solcher Landwirte auf eine Schätzungsmethode angewiesen, die nicht von dem wirklichen, jedoch unbekannten individuellen Vermögenszuwachs des betreffenden Land- und Forstwirtes ausgeht, sondern auf abstrakten Kalkulationen beruht, die zum Beispiel nur die Anbaufläche und die Anbauart als Grundlage haben und nicht die individuellen Verhältnisse des betreffenden Betriebes. Diese können erst durch eine Außenprüfung festgestellt werden. Schätzungen nach Richtsätzen, die wegen Fehlens der für die eigentliche Gewinnermittlung erforderlichen Besteuerungsgrundlagen notwendig sind, und Schätzungen aufgrund eines Gesamtvermögensvergleiches anhand einer Vermögenszuwachsrechnung unter Berücksichtigung der Einlagen und Entnahmen, die auf tatsächlichen individuellen Besteuerungsgrundlagen des betreffenden Landwirts beruhen, haben insofern nur wenig miteinander gemein. Sie können sich nicht gegenseitig ergänzen. Denn angesichts der neuen für die eigentliche Gewinnermittlung erforderlichen Schätzungsunterlagen, die einen weit höheren Vermögenszuwachs ergeben, versagt die bisherige Schätzungsmethode nach Richtsätzen im Sinne des Urteils des Bundesfinanzhofes (BFH) vom 2. März 1982 VIII R 225/80 (BFHE 136, 28) in vollem Umfange. Die Schätzungen nichtbuchführender, jedoch buchführungspflichtiger Landwirte unter Zuhilfenahme einer pauschalen Schätzungsmethode stellen einen Notbehelf dar; sie können nicht als ein genereller Verzicht auf die Erfassung der tatsächlichen Gewinne im Rahmen einer Betriebsprüfung gewertet werden. Wie schon im Beschluß in BFHE 135, 45, BStBl II 1982, 273 ausgeführt wurde, würde jede andere Beurteilung die vom Gesetzgeber gewollte grundsätzliche Unterscheidung in der Besteuerung der kleinen, nichtbuchführungspflichtigen Landwirte und der größeren buchführungspflichtigen Landwirte, die aber keine Bücher führen, weitgehend beseitigen. Auch würde sie die buchführungspflichtigen Landwirte, die keine Bücher führen, gegenüber den buchführungspflichtigen Landwirten, die ihre Gewinne aufgrund einer ordnungsgemäßen Buchführung ermitteln, in einer nicht vertretbaren Weise steuerlich begünstigen. Darin läge eine Ungleichbehandlung zugunsten einer Gruppe von Landwirten, die bewußt ihren steuerlichen Pflichten nicht nachkommen, gegenüber einer vergleichbaren Gruppe, die ihre Buchführungspflicht erfüllt, die von der Rechtsordnung nicht hingenommen werden kann.
b) Im Streitfall war der Kläger seit dem Wirtschaftsjahr 1963/64 buchführungspflichtiger Landwirt, der ab dem Wirtschaftsjahr 1969/70 keine Bücher und Aufzeichnungen mehr führte und keine Jahresabschlüsse erstellte. Seine tatsächlichen Gewinne waren daher seitdem unbekannt. Er hat seit dem Wirtschaftsjahr 1969/70 seine Buchführungspflicht und damit die Verpflichtung zur Ermittlung seiner tatsächlichen Gewinne in grober Weise verletzt. Die Gewinne aus Land- und Forstwirtschaft konnten daher nur durch Schätzungen ermittelt werden. Eine Schätzung nach dem Vermögensvergleich anhand einer Vermögenszuwachsrechnung unter Berücksichtigung der Einlagen und Entnahmen war den mit den Einkommensteuererklärungen vorgelegten Unterlagen nicht möglich. Möglich war nur eine pauschale Schätzung, entweder in Anlehnung an die Durchschnittsätze oder nach Richtsätzen, die von der bekannten Größe der landwirtschaftlichen Nutzflächen unter Berücksichtigung des Hackfruchtanbaus ausgingen und zu diesem gewonnen Grundbetrag Zu- und Abschläge vorsahen. Ob diese Richtsatzschätzungen, die das FA für die Streitjahre vornahm, an die tatsächlichen Gewinne des Klägers herankamen, war dem FA unbekannt. Erfahrungsgemäß konnte zwar vermutet werden, daß die Richtsatzgewinne erheblich darunterblieben. Ob diese Vermutung aber wirklich zutraf, konnte erst durch eine Außenprüfung festgestellt werden, mit der der Kläger rechnen mußte, auch wenn die Finanzverwaltung in vielen Einzelfällen in der Vergangenheit darauf verzichtet hat. Der Kläger konnte nicht darauf vertrauen, daß er zu den durch diese Versäumnisse Begünstigten gehört, denn es gibt keinen Gleichheitsgrundsatz des Inhalts, daß bestimmte Versäumnisse der Verwaltung allen Beteiligten in gleicher Weise zugute kommen müßten (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Februar 1969 1 BvR 687/62, BVerfGE 25, 216, BStBl II 1969, 364 unter Abschn. B II 2.).
c) Auch die Einwände des Klägers gegen die Zulässigkeit der angefochtenen Änderungsbescheide, die sich auf Treu und Glauben berufen und sich auch auf die Änderung des für vorläufig erklärten Einkommensteuerbescheides für 1972 beziehen, greifen schon im Hinblick auf den Umstand nicht durch, daß Ausgangspunkt und alleinige Ursache der nochmaligen Schätzungen durch den Betriebsprüfer und der darauf begründeten Änderungsbescheide die Pflichtverletzungen des Klägers bei der Erfüllung seiner Buchführungspflichten waren, durch die dem FA die Grundlagen für die Ermittlung seiner tatsächlichen Gewinne fehlten. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierzu auf die Ausführungen des Senats im Beschluß in BFHE 135, 45, BStBl II 1982, 273 unter II Abschn. 4 verwiesen.
Wenn das FA im Bescheid vom 1. Dezember 1975 die nach § 100 Abs. 2 AO vorläufigen Einkommensteuerbescheide für 1970 und 1971 gemäß § 225 AO mit der Begründung für endgültig erklärte, daß die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach § 222 AO nicht mehr vorlägen, so ist diese Begründung offensichtlich unrichtig; das Vorliegen der Voraussetzungen des § 222 AO hat mit der Erklärung der Endgültigkeit eines vorläufigen Bescheides nichts zu tun. Diese fehlerhafte Begründung des im Ergebnis nicht zu beanstandenden Bescheides kann schon deshalb keine Rechtswirkungen erzeugen.
Danach verbleibt es bei den vom FA aufgrund des Gesamtvermögensvergleiches geänderten Einkommensteuerbescheiden für 1971 und 1972. Die vom FG für erforderlich gehaltene Gewinnminderung wegen des Vortrages eines Verlustes aus Gewerbebetrieb aus dem Jahre 1970 ist nicht zutreffend. Der Verlust aus Gewerbebetrieb im Jahre 1970 wurde nach der zutreffenden Berechnung des FA im Veranlagungszeitraum 1970 in voller Höhe ausgeglichen, so daß die Berücksichtigung eines Restverlustes im Veranlagungszeitraum 1972 entfällt.
Fundstellen