Entscheidungsstichwort (Thema)
Tatsächliche Verständigung - Anforderungen an die Revisionsbegründung
Leitsatz (amtlich)
Eine im Rahmen einer Außenprüfung getroffene zulässige und wirksame "tatsächliche Verständigung" über eine bestimmte Behandlung von Sachfragen bindet die Finanzbehörde bereits vor Erlaß der darauf beruhenden Bescheide (Weiterführung der bisherigen Rechtsprechung).
Orientierungssatz
1. "Tatsächliche Verständigungen" haben ihre Grundlage in dem bestehenden, konkreten Steuerrechtsverhältnis zwischen FA und dem Steuerpflichtigen. Sie betreffen in der Regel (nur) einen --von beiden Beteiligten zu konkretisierenden-- Ausschnitt aus dem gesamten jeweils zu beurteilenden Besteuerungssachverhalt und dienen dem Ziel, insoweit Unsicherheiten und Ungenauigkeiten zu beseitigen. Sie sind wirksam, sofern sie nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führen. Erforderlich ist, daß auf Seiten der Finanzbehörde ein Amtsträger beteiligt ist, der zur Entscheidung über die Steuerfestsetzung befugt ist. Einer besonderen Form bedürfen tatsächliche Verständigungen nicht. Wenn auch eine schriftliche Niederlegung und die Unterzeichnung durch die Beteiligten sinnvoll erscheinen, ist nicht ausgeschlossen, den Nachweis des Abschlusses einer tatsächlichen Verständigung auch durch andere Beweismittel zu führen. Hier: tatsächliche Verständigung über die Erlöse eines Gastwirts aus seiner Gaststätte aufgrund des Wareneinsatzes und der Aufschlagsätze im Schätzungsweg.
2. § 120 Abs.2 FGO will bloße Formalbegründungen verhindern. Eine umfassende Erörterung der streitigen Rechtsfragen wird nicht gefordert. Die Bezeichnung einzelner verletzter Bestimmungen ist nicht erforderlich, wenn der sachliche Bezug eindeutig erkennbar ist.
Normenkette
AO 1977 §§ 85, 88, § 88 ff., §§ 90, 90ff, 162; BGB § 242; FGO § 120 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. 1. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielt u.a. Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus dem Betrieb einer Gaststätte. Dort führte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) von November 1992 bis Juli 1993 für die Streitjahre eine betriebsnahe Veranlagung durch. Dabei stellte die Prüferin fest, daß der Kläger über seine Betriebseinnahmen keine Aufzeichnungen geführt, sondern die Umsätze im Wege einer Gesamtkalkulation ermittelt hatte. Sie korrigierte diese Kalkulation auf der Grundlage der von ihr festgestellten Wareneinsätze und Aufschlagsätze. Aufgrund dieser (und anderer) Feststellungen erließ das FA geänderte Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre.
Im Klageverfahren begehrte der Kläger, die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für 1989 sowie den Einkommensteuerbescheid für 1990 zu ändern und die jeweiligen Steuern u.a. unter Berücksichtigung einer Vereinbarung, die bei einer Besprechung vom 17. März 1993 beim FA getroffen worden sei, festzusetzen; an dieser Besprechung habe die Prüferin und ihr Vorgesetzter teilgenommen.
2. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1996, 45). Es führte aus, nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) seien zwar tatsächliche Verständigungen über konkrete, der Besteuerung zugrunde zu legende Sachverhalte möglich. Ihre Grundlage fänden sie im bestehenden Steuerrechtsverhältnis und dem Grundsatz von Treu und Glauben. Daher sei zu unterscheiden zwischen dem Zustandekommen einer tatsächlichen Verständigung einerseits und dem Eintritt einer Bindungswirkung andererseits. Bindungswirkung entfalte eine zustandegekommene tatsächliche Verständigung nämlich nur, wenn einer der Beteiligten im Vertrauen auf die Verständigung bestimmte Dispositionen getroffen habe, die über die bloße Verständigung hinausgehen müßten. Seitens der Verwaltung finde eine derartige Disposition in der Regel erst statt, wenn sie die Verständigung in entsprechende Bescheide umsetze, von denen sie nicht ohne weiteres wieder Abstand nehmen könne. Wollten die Beteiligten eine sofortige Bindungswirkung eintreten lassen, bedürfe dies einer zusätzlichen Erklärung ähnlich einer verbindlichen Zusage (§ 205 der Abgabenordnung --AO 1977--).
Im Streitfall hätten der Kläger und das FA unterschiedliche Darstellungen der Besprechung vom 17. März 1993 gegeben. Ein Protokoll oder schriftliche Erklärungen seien nicht erstellt worden. Auf eine weitere Aufklärung mittels Beweisaufnahme könne aber verzichtet werden, da auch unter Zugrundelegung der Darstellung des Klägers eine Bindung an diese Verständigung nicht eingetreten wäre. Denn Bescheide im Sinne der behaupteten Verständigung seien vom FA nicht erlassen worden. Vielmehr lägen den Änderungsbescheiden die von der Prüferin ermittelten Daten zugrunde.
3. Mit seiner Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts. Er hält die Voraussetzungen für die Annahme einer wirksamen tatsächlichen Verständigung für gegeben, da an der streitigen Besprechung, wie Zeugen bestätigen könnten, der für die betriebsnahe Veranlagung und Steuerfestsetzung zuständige Sachgebietsleiter teilgenommen habe. Diese Verständigung habe ihren Ausgangspunkt in dem bestehenden konkreten Steuerrechtsverhältnis und binde die Beteiligten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben und unter dem Gesichtspunkt eines öffentlich-rechtlichen Vertrages. Indem es sich nicht an die Verständigung halte, verstoße das FA daher gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zum Zwecke der Beweiserhebung über die tatsächliche Verständigung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA hält die Revision für unzulässig, jedenfalls aber unbegründet.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Revision ist zulässig erhoben. Entgegen der Auffassung des FA ist sie (noch) hinreichend begründet worden (§ 120 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zwar enthält die Revisionsschrift zunächst überwiegend die Darstellung des vorangegangenen Verwaltungs- und Klageverfahrens. Sie läßt aber danach --vor allem unter Berücksichtigung seines Revisionsantrages-- die Auffassung des Klägers erkennen, daß unter den von ihm geschilderten Umständen nicht nur eine tatsächliche Verständigung zustandegekommen ist, sondern ihr entgegen der Vorentscheidung vor Erlaß darauf beruhender Bescheide auch Bindungswirkung zukommt. Damit hat der Kläger dargetan, welche Ausführungen der Vorinstanz aus welchen Gründen unrichtig sein sollen und welche Punkte des angefochtenen Urteils er für änderungsbedürftig hält (Senatsurteile vom 6. Mai 1993 XI R 46/90, BFH/NV 1994, 47, m.w.N.; vom 7. März 1995 XI R 81/94, BFH/NV 1995, 815; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 120 Anm.32 f.). Die Bezeichnung einzelner verletzter Bestimmungen ist nicht erforderlich, wenn der sachliche Bezug eindeutig erkennbar ist. Die Vorschrift des § 120 Abs.2 FGO will bloße Formalbegründungen hindern. Eine umfassende Erörterung der streitigen Rechtsfragen wird nicht gefordert (BFH-Urteil vom 8. Mai 1995 I R 108/81, BFHE 144, 40, BStBl II 1995, 523; Gräber/Ruban, a.a.O., Anm. 33).
2. Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
Zwar geht die Vorentscheidung zu Recht von der grundsätzlichen Zulässigkeit einer tatsächlichen Verständigung über eine bestimmte Behandlung von Sachfragen aus. Zu Unrecht mißt das FG aber einer solchen Verständigung Bindungswirkung für die Verwaltung regelmäßig nur und erst zu, wenn diese Dispositionen in Form des Erlasses eines auf der Verständigung beruhenden Bescheides getroffen hat.
a) In der Rechtsprechung des BFH ist die Zulässigkeit tatsächlicher Verständigungen grundsätzlich anerkannt (BFH-Urteile vom 11. Dezember 1984 VIII R 131/76, BFHE 142, 549, BStBl II 1985, 354; vom 5. Oktober 1990 III R 19/88, BFHE 162, 211, BStBl II 1991, 45; vom 6. Februar 1991 I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673; Senatsurteil vom 28. Juli 1993 XI R 68/92, BFH/NV 1994, 290). Zwar sind Vergleiche über Steueransprüche wegen der Gesetzmäßigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht möglich. Dagegen dient es in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung der Förderung und Beschleunigung des Besteuerungsverfahrens und allgemein dem Rechtsfrieden, besondere Vereinbarungen über eine bestimmte (steuerliche) Behandlung von Sachverhalten (nicht aber über das anzuwendende Recht) zuzulassen. Dies gilt insbesondere in Schätzungsfällen. Derartige "tatsächliche" Verständigungen betreffen in der Regel (nur) einen --von beiden Beteiligten zu konkretisierenden-- Ausschnitt aus dem gesamten jeweils zu beurteilenden Besteuerungssachverhalt und dienen dem Ziel, insoweit Unsicherheiten und Ungenauigkeiten zu beseitigen. Sie sind wirksam, sofern sie nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führen (BFH-Urteil in BFHE 142, 549, 553 ff., BStBl II 1985, 354). Zudem ist erforderlich, daß auf Seiten der Finanzbehörde ein Amtsträger beteiligt ist, der zur Entscheidung über die Steuerfestsetzung befugt ist (BFH-Urteile in BFHE 162, 211, BStBl II 1991, 45; in BFH/NV 1994, 290). Einer besonderen Form bedürfen tatsächliche Verständigungen nicht. Wenn auch --vor allem bei schwierig aufzuklärenden und zu beurteilenden Fallgestaltungen-- eine schriftliche Niederlegung und die Unterzeichnung durch die Beteiligten sinnvoll erscheinen (vgl. auch v. Wedelstädt, Der Betrieb 1991, 515, 517), ist nicht ausgeschlossen, den Nachweis des Abschlusses einer tatsächlichen Verständigung auch durch andere Beweismittel (z.B. Zeugenvernehmung) zu führen.
Tatsächliche Verständigungen haben ihre Grundlage in dem bestehenden, konkreten Steuerrechtsverhältnis zwischen dem FA und dem Steuerpflichtigen (demgegenüber für öffentlich-rechtlichen Vertrag z.B. v. Wedelstädt, a.a.O., m.w.N.). Aus ihm ergeben sich die gesetzlich festgelegten Pflichten des FA zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§§ 88 ff. AO 1977) und die entsprechenden Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen (§§ 90 ff. AO 1977).
b) An einer zulässigen und wirksamen "tatsächlichen Verständigung" müssen sich die Beteiligten festhalten lassen. Dies entspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben, der im Steuerrecht als allgemeine Rechtsgrundlage uneingeschränkt anerkannt ist (BFH-Urteil vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, 33 ff., BStBl II 1989, 990). Der Grundsatz von Treu und Glauben gebietet, daß im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt (BFH-Urteil vom 4. November 1975 VII R 28/72, BFHE 117, 317, 321), auf das der andere Teil vertraut und im Hinblick darauf bestimmte Dispositionen getroffen hat (BFH-Urteile in BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673; vom 13. Juli 1994 I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37, 39). Daraus ergibt sich --entgegen der Auffassung des FG-- für die Verwaltung eine Bindungswirkung aber nicht erst, wenn diese ihrerseits durch "Erlaß entsprechender Bescheide disponiert" hat. Denn dies würde bedeuten, daß einer im Rahmen einer Außenprüfung getroffenen tatsächlichen Verständigung vor dem Erlaß entsprechender Bescheide Bindungswirkung nicht zukommen könnte. Der Sinn des Instituts der tatsächlichen Verständigung liegt hingegen gerade darin, eine entsprechende Vereinbarung (mit Bindungswirkung) zu jedem Zeitpunkt des Besteuerungsverfahrens zu ermöglichen, wenn bestimmte Sachbehandlungen in Frage stehen und deren (endgültige) Klärung notwendig ist, um die Festsetzung der Steuer zu fördern. Dies betrifft insbesondere die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen. Eine abschließende und damit beide Beteiligte bindende Verständigung muß daher --unter der Voraussetzung der Beteiligung eines zur Entscheidung über die Steuerfestsetzung befugten Amtsträgers-- auch im Rahmen einer Außenprüfung "von vornherein" (BFH-Urteile in BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673, m.w.N.; in BFHE 162, 211, BStBl II 1991, 45; in BFH/NV 1994, 290) erzielbar sein. Dem entspricht es, die Dispositionen der Beteiligten darin zu sehen, daß sie unter Aufgabe ihrer unterschiedlichen Ausgangspositionen einvernehmlich auf weitere Ermittlungen in bezug auf den durch die tatsächliche Verständigung festgelegten Sachverhalt verzichten. Die gegenseitige Bindung beider Beteiligter ist einer tatsächlichen Verständigung daher immanent, ohne daß es einer entsprechenden ausdrücklichen Erklärung bedarf. Bei anderer Beurteilung wäre auch das Erfordernis der Anwesenheit eines für die Steuerfestsetzung zuständigen Amtsträgers nicht verständlich; denn durch sie soll eine Bindung gerade im Hinblick auf die zu erlassenden Bescheide gesetzt werden.
Dem FG ist zwar zuzugeben, daß vor einer Bindung der Beteiligten an eine Verständigung vor allem bei komplex gestalteten Sachverhalten ein Zeitraum für Überlegung und Nachprüfung regelmäßig sinnvoll ist. Es ist aber nicht einzusehen, warum die Beteiligten die erforderliche Aufklärung und Prüfung nicht vor dem Abschluß der tatsächlichen Verständigung vornehmen können. Zudem kann einer tatsächlichen Verständigung durch ausdrücklichen Vorbehalt eines Beteiligten die Bindungswirkung auch versagt werden.
3. Im Streitfall waren im Rahmen der betriebsnahen Veranlagung die Erlöse des Klägers aus seiner Gaststätte aufgrund des Wareneinsatzes und der Aufschlagsätze zu schätzen. Wie ausgeführt, handelt es sich damit um einen Bereich, in dem die Erzielung tatsächlicher Verständigungen sinnvoll sein kann (BFH-Urteil in BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673). Ob eine solche wirksam zustandegekommen ist, kann aufgrund der Feststellungen des FG nicht beurteilt werden. Das FG wird daher die erforderlichen Feststellungen nachzuholen und den Streitfall aufgrund der aufgezeigten Rechtsgrundsätze neu zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 65863 |
BFH/NV 1997, 3 |
BStBl II 1996, 625 |
BFHE 181, 103 |
BFHE 1997, 103 |
BB 1996, 2506 (Leitsatz) |
DB 1996, 2475-2576 (Leitsatz und Gründe) |
DStR 1996, 1891-1892 (Kurzwiedergabe) |
DStZ 1997, 127-128 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1997, 65-66 (Leitsatz) |
StE 1996, 765 (Kurzwiedergabe) |