Entscheidungsstichwort (Thema)
Konkursausfallgeld. Versäumung der Ausschlußfrist. Beginn. Insolvenztatbestand. vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit. offensichtliche Masseunzulänglichkeit. Unkenntnis. Verschulden. Wiedereinsetzung
Orientierungssatz
1. Die Voraussetzungen des § 141b Abs 3 Nr 2 AFG, daß ein Konkursverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt, liegt bereits vor, wenn für einen unvoreingenommenen Betrachter alle äußeren Tatsachen (und insofern der Anschein) für Masseunzulänglichkeit sprechen (vgl BSG vom 23.11.1981 - 10/8b RAr 6/80 = BSGE 53, 1 = SozR 4100 § 141b Nr 21 und vom 29.2.1984 10 RAr 14/82 = SozR 4100 § 141b Nr 30).
2. Für den Beginn der Ausschlußfrist des § 141e Abs 1 S 2 AFG ist der Eintritt des jeweiligen Insolvenzfalles maßgebend und nicht der Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Arbeitnehmers von sämtlichen Merkmalen des Tatbestandes (vgl BSG vom 26.8.1983 - 10 RAr 1/82 = BSGE 55, 285 = SozR 4100 § 141e Nr 5 und vom 14.8.1984 - 10 RAr 18/83 = SozR 4100 § 141e Nr 6).
3. Soweit ein Arbeitnehmer die Antragstellung unterläßt, weil er den anspruchsauslösenden gesetzlichen Insolvenztatbestand - hier die vollständige Einstellung der Betriebstätigkeit - nicht erkennt, ohne sich rechtzeitig sachkundigen Rechtsrat zu verschaffen, hat er die Fristversäumung zu vertreten, so daß die Regelung des § 141e Abs 1 S 3 AFG nicht greift.
Normenkette
AFG § 141b Abs. 3 Nr. 2, § 141e Abs. 1 Sätze 2-4
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung von Konkursausfallgeld (Kaug) wegen Versäumung der Ausschlußfrist nach § 141e Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG).
Der Kläger war als Kraftfahrer bei der Spedition S. (S), Inhaber Wolfgang S, beschäftigt. Die Betriebstätigkeit der Spedition wurde mit dem 3. September 1993 eingestellt. Das Arbeitsverhältnis des Klägers endete durch Kündigung des Arbeitgebers vom 4. September 1993 zum Ende des Monats September 1993. Der Kläger, seit Oktober 1993 durch einen Rechtsanwalt vertreten, verklagte den Arbeitgeber beim Arbeitsgericht, nachdem das Amtsgericht dem Rechtsanwalt auf dessen Anfrage, ob ein Konkursverfahren beantragt, eingeleitet oder mangels Masse abgelehnt worden sei, mitgeteilt hatte, daß kein Konkursverfahren anhängig sei. Er erwirkte wegen des rückständigen Arbeitsentgelts für den Monat September 1993 einschließlich Urlaubsabgeltung in Höhe von 5.175,- DM sowie wegen vermögenswirksamer Leistungen für die Monate November 1992 bis September 1993 in Höhe von jeweils monatlich 78,- DM ein Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 25. März 1994.
Am 11. Februar 1994 beantragte der Kläger bei der Beklagten Kaug. Dabei gab er an, er habe jetzt erst erfahren, daß auch eine Betriebseinstellung einen Tatbestand für die Gewährung von Kaug darstelle. Er sei davon ausgegangen, daß Kaug nur bei einem Konkursverfahren gewährt werde. Das Arbeitsamt lehnte den Antrag mit der Begründung ab, spätestens mit dem 3. September 1993 seien infolge der Auflösung des Lagervertrages mit dem einzigen Vertragspartner der Spedition S alle Aktivitäten eingestellt worden. Der Antrag habe deshalb spätestens zum 4. November 1993 gestellt werden müssen. Selbst wenn man den Vortrag des Klägers als wahr unterstelle, er habe keine Kenntnis von der vollständigen Betriebsstillegung gehabt, so habe er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht (Bescheid vom 19. Januar 1995; Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1995).
Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe es schuldhaft versäumt, den Antrag auf Kaug innerhalb einer Ausschlußfrist von zwei Monaten nach Eintritt des maßgebenden Insolvenzereignisses zu stellen, das infolge der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit mit dem 3. September 1993 eingetreten sei. Die Nachfrist des § 141e Abs 1 Satz 3 AFG greife nicht ein. Der hier einschlägige Insolvenztatbestand, insbesondere dessen Merkmal der Offensichtlichkeit, sei dann erfüllt, wenn die Lohnzahlungen unter Hinweis auf die Zahlungsunfähigkeit eingestellt worden seien, der Arbeitgeber seine betriebliche Tätigkeit vollständig eingestellt habe und ein Konkurseröffnungsantrag nicht gestellt worden sei. Ausreichend sei, daß Tatsachen festgestellt worden seien, die den Schluß zuließen, daß der Arbeitgeber insolvent geworden sei. Dies gelte in gleicher Weise für den letztlich beweispflichtigen Kläger wie für die Beklagte. So berechtigten zB Zweifel an der Masseunzulänglichkeit, wie sie der Kläger darzutun versucht habe, die Beklagte nicht, den Antrag auf Kaug abzulehnen. Auch angesichts der sonst vorgetragenen Umstände - wie etwa der Unauffindbarkeit des Arbeitgebers - sei es mit Sinn und Zweck der Kaug-Regelung nicht zu vereinbaren, eine positive Kenntnis der Masseunzulänglichkeit zu verlangen. Die Ausschlußwirkung trete ein, obwohl die Abwicklung des Kaug-Verfahrens unabhängig vom Verhalten des Klägers längere Zeit in Anspruch genommen habe. Die Beklagte handle nicht schon dann treuwidrig, wenn sie die Bestimmung in einem solchen Fall anwende. Das Fristversäumnis beruhe auch auf Gründen, die der Kläger zu vertreten habe. Die fehlende Kenntnis gesetzlicher Bestimmungen werde davon erfaßt. Der Senat sei davon überzeugt, daß entgegen späteren Einlassungen bei der Klageerhebung beim Arbeitsgericht nicht etwa die Überlegung im Vordergrund gestanden habe, die Masseunzulänglichkeit als Voraussetzung gerade für den Insolvenztatbestand über die Erlangung eines Titels und anschließende erfolglose Vollstreckungsversuche festzustellen.
Der Kläger hat die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision eingelegt. Er rügt ua eine Verletzung des § 141e AFG sowie der §§ 103, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und trägt zur Begründung vor: Das LSG habe gegen die anerkannten juristischen Auslegungsregeln verstoßen, denn nach dem Willen des Gesetzgebers liege der Zweck der in § 141e AFG normierten Ausschlußfrist darin, den Gesamtumfang der Ansprüche auf Kaug nach einer verhältnismäßig kurzen Zeit festzustellen und die Arbeiten zügig abzuwickeln. Die Ausschlußfrist solle nicht die Verfolgung sachlich offensichtlich berechtigter Ansprüche wegen Fristablaufs unmöglich machen. Das Verhalten der Beklagten widerspreche insoweit auch dem Grundsatz von Treu und Glauben. Er habe die Antragsfrist im übrigen ohne Verschulden versäumt. Im Urteil des LSG fehle nämlich die Feststellung, wann ihm der Septemberlohn mit welcher Begründung verweigert worden sei. Den Feststellungen sei auch nicht zu entnehmen, ob und wann ihm der Umstand bekannt geworden sei, daß ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens nicht gestellt worden sei. Dabei komme es auf den Vertretungsumfang des damaligen Prozeßbevollmächtigten an. Hierzu habe das LSG jeweils von Amts wegen Ermittlungen anstellen müssen. Es könne im Hinblick auf die beim Arbeitsgericht eingeleiteten rechtlichen Schritte keine Rede davon sein, daß er sich nicht um die Durchsetzung seines Anspruchs gekümmert habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. März 1996 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. November 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Konkursausfallgeld in Höhe von 5.175,- DM brutto zzgl vermögenswirksamer Leistungen in Höhe von 156,- DM nebst 4% Zinsen seit dem 1. September 1994 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zurückzuweisen. Er hat keinen Anspruch auf Kaug, denn er hat den erforderlichen Antrag nicht innerhalb der hierfür vorgesehenen Ausschlußfrist gestellt.
Nach § 141e Abs 1 Satz 1 AFG wird das Kaug vom zuständigen Arbeitsamt auf Antrag gewährt. Der Antrag ist nach Satz 2 der Vorschrift innerhalb einer Ausschlußfrist von zwei Monaten nach Eröffnung des Konkursverfahrens zu stellen. Der Eröffnung des Konkursverfahrens steht der hier allein in Betracht kommende Insolvenztatbestand der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit iS des § 141b Abs 3 Nr 2 AFG auch hinsichtlich des Beginns der Ausschlußfrist gleich.
Der im vorliegenden Fall für den Beginn der Ausschlußfrist maßgebende Kaug-Tatbestand des § 141b Abs 3 Nr 2 AFG wird durch die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit im Geltungsbereich des Gesetzes erfüllt, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Konkursverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt. Nach den Feststellungen des LSG hatte S seine betriebliche Betätigung am 3. September 1993 vollständig beendigt. Ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens war nicht gestellt worden. Schließlich dürfte auch die weitere Voraussetzung des § 141b Abs 3 Nr 2 AFG, daß ein Konkursverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG zu diesem Merkmal (BSGE 53, 1, 3 = SozR 4100 § 141b Nr 21; SozR 4100 § 141b Nr 30) vorgelegen haben. Hiernach ist § 141b Abs 3 Nr 2 AFG ein Auffangtatbestand für die Fälle, in denen der Arbeitnehmer wegen der behaupteten und nicht leicht zu widerlegenden Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers keinen Lohn erhalten hat. "Offensichtlich" meint hier nicht zweifelsfrei und erlaubt daher nicht, bei Betriebsbeendigung und Zahlungseinstellung diesen Insolvenztatbestand zu verneinen, weil keine Tatsachen vorliegen, die den zwingenden Schluß zulassen, daß ein Konkursverfahren mangels Masse nicht in Betracht kommt. Es genügt vielmehr der aus äußeren Tatsachen ergebende Eindruck eines unvoreingenommenen Betrachters, dh wenn alle äußeren Tatsachen (und insofern der Anschein) für Masseunzulänglichkeit sprechen.
Für den Beginn der Ausschlußfrist des § 141e Abs 1 Satz 2 AFG ist der Eintritt des jeweiligen Insolvenzfalles maßgebend und nicht der Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Arbeitnehmers von sämtlichen Merkmalen des Tatbestandes (BSGE 55, 284, 285 = SozR 4100 § 141e Nr 5; BSG SozR 4100 § 141e Nr 6). Der Lauf der Frist wird auch nicht dadurch gehindert, daß die Beklagte ihrerseits längere Zeit für die Bearbeitung des Leistungsanspruchs benötigt hat. Den typischerweise bei Ausschlußfristen auftretenden Interessenkonflikt, nämlich den Konflikt zwischen dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der Frist und dem Interesse des Einzelnen an ihrer (nachträglichen) Wiedereröffnung, hat der Gesetzgeber bereits in § 141e Abs 1 Satz 3 und 4 AFG gelöst. Es ist nicht ersichtlich, daß zusätzlich noch ein Bedürfnis für weitergehende Ausnahmen anzuerkennen wäre.
Es kann im übrigen dahinstehen, ob die Annahme des LSG, die Masseunzulänglichkeit habe schon zum Zeitpunkt der Betriebsstillegung vorgelegen, durch ausreichende Tatsachenfeststellungen gedeckt ist. Der Revision ist allerdings zuzugeben, daß allein die Nichtzahlung des Lohns des Klägers für den Monat September 1993, der im September 1993 noch nicht fällig gewesen sein dürfte, einen derartigen Schluß noch nicht zuläßt. Dem brauchte der Senat jedoch nicht weiter nachzugehen, denn der Einwand der Revision führt jedenfalls im Ergebnis zu keiner anderen Beurteilung des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs. Der Insolvenztatbestand des § 141b Abs 3 Nr 2 AFG erfordert nämlich, daß die Masselosigkeit im Zeitpunkt der Betriebseinstellung vorliegt, also vorher oder gleichzeitig eingetreten ist (BSGE 48, 269, 271 = SozR 4100 § 141b Nr 11). Sollte also die Masselosigkeit oder gar die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erst zu einem späteren Zeitpunkt eingetreten sein, so könnte der Kläger schon mangels Insolvenzereignisses mit seinem Begehren derzeit keinen Erfolg haben.
Eine wirksame Antragstellung ist nach Ablauf der Frist des § 141e Abs 1 Satz 2 AFG nur noch möglich, wenn der Arbeitnehmer die Ausschlußfrist aus Gründen versäumt hat, die er nicht zu vertreten hat; dann ist der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 141e Abs 1 Satz 3 AFG). Die Regelung des § 141e Abs 1 Satz 3 AFG stellt eine spezialgesetzliche Ausprägung des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 27 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch; § 67 SGG) dar. Hierbei kommt es auf die fahrlässige Unkenntnis vom Insolvenzereignis an (BSGE 55, 284, 286 = SozR 4100 § 141e Nr 5). Das LSG hat zu Recht angenommen, daß der Kläger die Antragsfrist unter Außerachtlassung derjenigen Sorgfalt, die einem gewissenhaften Antragsteller zuzumuten war, versäumt hat. Denn zu den Sorgfaltspflichten iS des § 141e Abs 1 Satz 3 AFG gehört es auch für einen rechtsunkundigen Arbeitnehmer, sich rechtzeitig sachkundigen Rechtsrat zu verschaffen (vgl BSG USK 9013). Ein Vertretenmüssen liegt insbesondere dann vor, wenn der Berechtigte die Antragstellung unterläßt, weil er den anspruchsauslösenden gesetzlichen Insolvenztatbestand - hier die vollständige Einstellung der Betriebstätigkeit - nicht kennt.
Mit seinem Vorbringen legt der Kläger demgegenüber keine Umstände dar, die zu der Annahme führen könnten, er habe das Fristversäumnis nicht zu vertreten. Soweit er vorträgt, er habe am 3. September 1993 noch keine Kenntnis darüber haben können, daß er den Septemberlohn nicht erhalten würde, kann dies als zutreffend unterstellt werden. Denn soweit das Hindernis während des Laufes der ersten Frist wegfällt, wird die weitere Frist des § 141e Abs 1 Satz 3 AFG nicht eröffnet (BSGE 55, 284, 287 = SozR 4100 § 141e Nr 5; BSG SozR 4100 § 141e Nr 8). Selbst wenn also der Kläger erst im Laufe des Monats Oktober 1993 davon Kenntnis erlangt hätte, daß sein Lohnanspruch für den Monat September nicht mehr erfüllt würde, so hatte er noch vor Ablauf der Frist des § 141e Abs 1 Satz 2 AFG von diesem Umstand Kenntnis erlangt. Der verbleibende Zeitraum reichte jedenfalls aus, noch rechtzeitig einen Kaug-Antrag zu stellen.
Auch soweit der Kläger dem LSG vorwirft, es habe keine Feststellungen zu der Frage getroffen, zu welchem Zeitpunkt er Kenntnis darüber erlangt habe, daß ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens nicht gestellt worden sei, geht dies fehl. Auf die bezeichnete Tatsache kommt es nicht an, weil auch die auf Fahrlässigkeit beruhende Unkenntnis der rechtserheblichen Umstände den Kaug-Anspruch nach zwei Monaten ausschließt. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der Kläger sich nach der Betriebsstillegung und der Nichtzahlung des Septemberlohns durch eine Anfrage beim Gericht - wie durch seinen damaligen Prozeßbevollmächtigten auch tatsächlich geschehen - nicht über den Sachverhalt hätte erkundigen können. Auf die weitere Frage, ob ihm die Kenntnis seines Vertreters positiv zuzurechnen ist (vgl BSG SozR 3-4100 § 141e Nr 2), kommt es unter diesen Voraussetzungen nicht an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 542701 |
NZI 2001, 93 |
ZInsO 2000, 55 |