Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch. Erfüllung der Anwartschaftszeit. sonstiger Versicherungspflichtiger. Pflegeperson. Anwendung des § 26 Abs 2b S 1 SGB 3. unmittelbar vor Beginn der Pflegetätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Versicherungspflicht durch eine nicht erwerbsmäßige Pflegetätigkeit ab dem 1.1.2017 kann auch bestehen, wenn die Pflegetätigkeit bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Anschluss an eine unmittelbar vorbestehende Versicherungspflicht aufgenommen worden ist.
Normenkette
SGB III § 26 Abs. 2b S. 1, § 142 Abs. 1 S. 1, § 446 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) ab dem 4.11.2019, insbesondere darüber, ob der Kläger die Anwartschaftszeit erfüllt hat.
Der 1959 geborene Kläger war bis zum 30.6.2008 versicherungspflichtig beschäftigt und bezog vom 1.7.2008 bis zum 30.6.2009 Alg von der Beklagten. Seit 2006 pflegte er seine Mutter, die ab August 2006 Pflegegeld nach der Pflegestufe I, ab Oktober 2008 nach der Pflegestufe II und ab Januar 2017 nach dem Pflegegrad 4 erhielt. Die Pflege erfolgte in nicht erwerbsmäßiger Weise in häuslicher Umgebung wenigstens zehn Stunden wöchentlich, verteilt auf mindestens zwei Tage pro Woche. Die Pflegekasse entrichtete seit Oktober 2008 Rentenversicherungsbeiträge für den Kläger als Pflegeperson.
Nach dem Tod seiner Mutter am 27.10.2019 meldete sich der Kläger am 4.11.2019 bei der Beklagten persönlich arbeitslos und beantragte Alg. Auf Nachfrage der Beklagten gab die Pflegekasse an, für den Kläger keine Beiträge an die Arbeitslosenversicherung gezahlt zu haben.
Die Beklagte lehnte die Bewilligung von Alg mangels Erfüllung der Anwartschaftszeit ab (Bescheid vom 19.12.2019; Widerspruchsbescheid vom 24.1.2020) . Der Kläger habe zwar innerhalb der Rahmenfrist vom 4.11.2017 bis zum 3.11.2019 seine Mutter gepflegt, jedoch sei er vor der Neufassung des § 26 Abs 2b SGB III zum 1.1.2017 nicht versicherungspflichtig gewesen. Er habe weder ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag gemäß § 28a SGB III begründet noch eine Pflegezeit in Anspruch genommen. Der Kläger erfülle auch nicht die Voraussetzungen der Übergangsregelung des § 446 SGB III , die den Bestandsschutz für die bisher nach § 26 Abs 2b SGB III aF Versicherten bzw die Antragspflichtversicherten nach § 28a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III aF gewährleiste.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide antragsgemäß verurteilt, dem Kläger ab dem 4.11.2019 Alg zu bewilligen (Urteil vom 13.4.2021).
Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG "geändert" und die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.11.2021) . Der Kläger erfülle zwar die Voraussetzungen an die Pflegetätigkeit, jedoch nicht die Voraussetzungen des § 26 Abs 2b Satz 1 SGB III nF für eine Anbindung an die Arbeitslosenversicherung. Der Senat könne offenlassen, ob sich dies bereits daraus ergebe, dass der Kläger die Pflegetätigkeit 2006 aufgenommen habe, jedoch erst ab Juli 2008 arbeitslos geworden sei und noch bis zum 30.6.2009 Alg bezogen habe. Denn der Versicherungspflichttatbestand des § 26 Abs 2b Satz 1 SGB III sei erst zum 1.1.2017 in das SGB III aufgenommen worden. Intertemporale Grundsätze sprächen dafür, dass eine Norm tatbestandliche Voraussetzungen - wie hier das Ausüben einer Pflegetätigkeit - erst ab ihrem Inkrafttreten berücksichtige, weil sie den betreffenden Lebenssachverhalt erst ab diesem Zeitpunkt regele. Dementsprechend liege es nahe, dass nur solche Pflegetätigkeiten für eine Versicherungspflicht nach § 26 Abs 2b SGB III idF ab 1.1.2017 berücksichtigungsfähig seien, die sich ab dem 1.1.2017 unmittelbar an eine Versicherungspflicht der Pflegeperson in der Arbeitslosenversicherung bzw an den Anspruch der Pflegeperson auf eine laufende Entgeltersatzleistung nach dem SGB III angeschlossen hätten. Wer sich demgegenüber bereits vor längerer Zeit von der Arbeitslosenversicherung abgekehrt habe, für den werde durch eine Pflegetätigkeit iS des § 26 Abs 2b SGB III idF ab 1.1.2017 keine Versicherungspflicht begründet.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger, § 26 Abs 2b SGB III erfordere nicht, dass eine versicherungspflichtige Tätigkeit aufgegeben werde, um die Pflege zu beginnen, sondern dass die Pflegeperson unmittelbar zuvor versicherungspflichtig gewesen sei. Sachverhalte, bei denen die Pflegetätigkeit vor dem 1.1.2017 aufgenommen worden sei und die auch noch nach dem 1.1.2017 anhielt, fielen unter den Normtext. Eine intertemporale Begrenzung des Normtatbestands hätte mit einer Übergangsvorschrift geregelt werden müssen, nach der die Norm lediglich anwendbar sei, wenn die Pflegetätigkeit nach dem 1.1.2017 aufgenommen wurde.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. November 2021 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 13. April 2021 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet ( § 170 Abs 2 Satz 1 SGG ) . Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das der Klage stattgebende Urteil des SG zu Unrecht aufgehoben, denn es besteht ein Anspruch des Klägers auf Alg.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 19.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.1.2020 ( § 95 SGG ) , mit dem die Beklagte den Antrag des Klägers auf Alg abgelehnt hat. Der Kläger verfolgt sein Begehren auf Bewilligung von Alg ab dem 4.11.2019 zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage ( § 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG ) , gerichtet auf ein nach § 130 Abs 1 SGG zulässiges Grundurteil (zum notwendigen Inhalt und den prozessualen Voraussetzungen eines Grundurteils vgl nur BSG vom 20.4.1999 - B 1 KR 15/98 R - SozR 3-1500 § 141 Nr 8 S 11 f - juris RdNr 16 ff) .
Der angefochtene Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 19.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.1.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Ihm steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Alg ab dem 4.11.2019 zu.
Nach § 137 Abs 1 SGB III hat Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit, wer arbeitslos ist (Nr 1) , sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet (Nr 2) und die Anwartschaftszeit erfüllt (Nr 3) hat. Arbeitslos iS von § 137 Abs 1 Nr 1 SGB III ist gemäß § 138 Abs 1 SGB III , wer nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht. Diese Voraussetzungen sind nach dem Gesamtzusammenhang der für den Senat bindenden Feststellungen des LSG ( § 163 SGG ) im streitbefangenen Zeitraum erfüllt. Der Kläger hat sich am 4.11.2019 persönlich arbeitslos gemeldet und war arbeitslos, da sein letztes Beschäftigungsverhältnis bereits am 30.6.2008 geendet hatte; nach dem Tod seiner pflegebedürftigen Mutter stand er den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung.
Auch die Anwartschaftszeit gemäß § 142 Abs 1 Satz 1 SGB III hat der Kläger entgegen der Auffassung des LSG erfüllt, denn er hat in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden. Nach § 143 Abs 1 SGB III (in der vom 1.4.2012 bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011, BGBl I 2854) beträgt die Rahmenfrist zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg. In einem Versicherungspflichtverhältnis steht, wer als Beschäftigter oder aus sonstigen Gründen versicherungspflichtig ist ( § 24 Abs 1 SGB III ) . Aufgrund der Pflege seiner Mutter stand der Kläger in der vom 4.11.2017 bis zum 3.11.2019 verlaufenden Rahmenfrist mehr als zwölf Monate - durchgehend bis zum Tod seiner Mutter am 27.10.2019 - in einem Versicherungspflichtverhältnis. Dabei ist es für den Anspruch auf Alg unerheblich, dass keine Beiträge für ihn entrichtet worden sind (vgl BSG vom 18.4.1991 - 7 RAr 32/90 - SozR 3-4100 § 168 Nr 5 S 6) .
Nach § 26 Abs 2b Satz 1 SGB III (in der seit 1.1.2017 geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften - Zweites Pflegestärkungsgesetz - vom 21.12.2015, BGBl I 2424 - im Folgenden: nF) sind Personen in der Zeit versicherungspflichtig, in der sie als Pflegeperson einen Pflegebedürftigen mit mindestens Pflegegrad 2 im Sinne des SGB XI, der Leistungen aus der Pflegeversicherung nach dem SGB XI oder Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII oder gleichartige Leistungen nach anderen Vorschriften bezieht, nicht erwerbsmäßig wenigstens zehn Stunden wöchentlich, verteilt auf regelmäßig mindestens zwei Tage in der Woche, in seiner häuslichen Umgebung pflegen, wenn sie unmittelbar vor Beginn der Pflegetätigkeit versicherungspflichtig waren oder Anspruch auf eine laufende Entgeltersatzleistung nach dem SGB III hatten.
Diese Tatbestandsvoraussetzungen erfüllte der Kläger ab dem Inkrafttreten der Neufassung am 1.1.2017 und insbesondere durchgehend im hier relevanten Zeitraum vom 4.11.2017 bis 27.10.2019. Nach den Feststellungen des LSG pflegte er in dieser Zeit seine Mutter, die Pflegegeld entsprechend ihres Pflegegrads 4 erhielt, in nicht erwerbsmäßiger Weise wenigstens zehn Stunden wöchentlich, verteilt auf mindestens zwei Tage pro Woche, in ihrer häuslichen Umgebung bis zu ihrem Tod am 27.10.2019. Unmittelbar vor Beginn der bereits im Jahr 2006 aufgenommenen Pflegetätigkeit war er auch versicherungspflichtig aufgrund einer Beschäftigung ( § 25 Abs 1 Satz 1 SGB III ) . Dies reicht für den geforderten Unmittelbarkeitszusammenhang aus.
Entgegen der Auffassung des LSG ist § 26 Abs 2b Satz 1 SGB III nF nicht auf Pflegetätigkeiten beschränkt, die frühestens zum 1.1.2017 aufgenommen worden sind, sondern grundsätzlich auch auf Pflegetätigkeiten anwendbar, die bereits vor dem 1.1.2017 begonnen haben (so auch LSG Hamburg vom 11.8.2021 - L 2 AL 2/21 - juris RdNr 35 ; aA Wehrhahn in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 3. Aufl 2023, § 26 RdNr 51; Timme in Hauck/Noftz, SGB III, §26 RdNr 53 , Stand März 2023) .
Das Inkrafttreten einer Norm hat grundsätzlich nur Bedeutung für die Frage, ab wann eine bestimmte gesetzliche Rechtsfolge eintreten kann. Für die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen ist es daher nicht stets schädlich, wenn diese - wie hier - zum Teil bereits vor Inkrafttreten der Norm erfüllt waren; anderes gilt nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist (vgl BSG vom 18.12.2008 - B 11 AL 48/07 R - SozR 4-4300 § 158 Nr 4 RdNr 13; BSG vom 6.5.2009 - B 11 AL 10/08 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 19 RdNr 14; BSG vom 4.9.2013 - B 10 EG 6/12 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 24 RdNr 38; BSG vom 12.9.2017 - B 11 AL 18/16 R - juris RdNr 11 ) . Insbesondere neue Vorschriften, die einem Betroffenen zusätzliche Rechte einräumen, sind danach ab ihrem Inkrafttreten auf das bestehende Rechtsverhältnis anzuwenden ( BSG vom 28.4.2004 - B 2 U 12/03 R - SozR 4-2700 § 70 Nr 1 RdNr 13 = juris RdNr 22) . Da die Pflegetätigkeit des Klägers bei Einführung des § 26 Abs 2b SGB III nF noch andauerte, handelt es sich hier auch nicht um einen abgeschlossenen Sachverhalt (vgl zu einer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung bereits beendeten Rente: BSG vom 28.8.2007 - B 7/7a AL 50/06 R - BSGE 99, 42 = SozR 4-4300 § 123 Nr 4, RdNr 13) . Soll der Eintritt der Rechtsfolge dagegen davon abhängig sein, dass auch die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen erst nach Inkrafttreten der Neuregelung (erstmals) eingetreten sein darf, muss sich dies hinreichend deutlich aus dem Gesetz ergeben. Daran fehlt es hier, denn § 26 Abs 2b Satz 1 SGB III nF stellt nach seinem Wortlaut allein darauf ab, ob "unmittelbar vor Beginn der Pflegetätigkeit" Versicherungspflicht oder ein Anspruch auf eine Entgeltersatzleistung nach dem SGB III bestand, ohne dies auf Fälle zu begrenzen, in denen die Pflegetätigkeit am oder nach dem 1.1.2017 aufgenommen worden ist.
Dieser Auslegung steht die Normgeschichte nicht entgegen. § 26 Abs 2b SGB III wurde erstmals mWv 1.7.2008 durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung vom 28.5.2008 (BGBl I 874) eingeführt und sah eine Versicherungspflicht für Pflegepersonen während der auf sechs Monate begrenzten Pflegezeit nach § 3 Abs 1 Satz 1 PflegeZG vor. Nach Ablauf der sechsmonatigen Pflegezeit - aber auch unabhängig davon - bestand nach § 28a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III aF die Möglichkeit, die Versicherungspflicht auf Antrag fortzusetzen, wobei der Antrag binnen drei Monaten nach Beendigung der Pflegezeit oder nach Aufnahme der Pflegetätigkeit gestellt werden musste ( § 28a Abs 3 Satz 1 und 2 SGB III aF). Gleichzeitig mit dem Inkrafttreten der Neufassung des § 26 Abs 2b SGB III durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz vom 21.12.2015 (BGBl I 2424) am 1.1.2017 ist die Pflegezeit abgeschafft und die Versicherungspflicht auf Antrag nach § 28a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III aufgehoben worden (vgl BT-Drucks 18/5926 S 147). Der Gesetzgeber hat die Absicherung von Pflegepersonen ab dem 1.1.2017 umfassend "auf eine neue Grundlage" stellen wollen ( BT-Drucks 18/5926 S 146) und mit der Übergangsregelung des § 446 SGB III sichergestellt, dass für die bisher nach § 26 Abs 2b SGB III aF Versicherten bzw die Antragspflichtversicherten nach § 28a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III aF weiterhin Versicherungspflicht besteht. Für die bis zum Inkrafttreten der Neuregelung nicht versicherungspflichtigen Pflegepersonen ist keine ausdrückliche Regelung getroffen worden. Diese Normgeschichte bietet keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber Pflegepersonen nur dann von der Neuregelung mWz 1.1.2017 profitieren lassen wollte, wenn sie ihre Pflegetätigkeit am 1.1.2017 oder später aufgenommen haben.
Dem Unmittelbarkeitszusammenhang (hierzu ausführlich: BSG vom 23.2.2017 - B 11 AL 3/16 R - BSGE 122, 279 = SozR 4-4300 § 26 Nr 8, RdNr 18 ff; BSG vom 23.2.2017 - B 11 AL 4/16 R - juris RdNr 19 ff) steht nicht entgegen, dass seit der Aufnahme der Pflegetätigkeit 2006 bis zum Inkrafttreten des § 26 Abs 2b nF SGB III am 1.1.2017 keine Versicherungspflicht des Klägers bestand. Auch insoweit ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht, dass die Versicherten unmittelbar vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1.1.2017 bereits zu dem durch die Arbeitslosenversicherung geschützten Personenkreis gehört haben müssten (so auch Ulmer in BeckOK Sozialrecht, § 26 SGB III RdNr 6d, Stand 1.3.2023; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, §142 RdNr 109 , Stand Juni 2022) . Vielmehr reicht allein der Unmittelbarkeitszusammenhang zwischen einer Versicherungspflicht und dem Beginn der Pflegetätigkeit aus. Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger, da er bei Aufnahme der Pflegetätigkeit durch seine Beschäftigung zum geschützten Personenkreis gehörte.
Soweit die Beklagte einwendet, der Kläger habe von der Versicherungspflicht auf Antrag keinen Gebrauch gemacht und daher den Bezug zur Arbeitslosenversicherung verloren, steht auch dies einer Erfüllung der seit 1.1.2017 geltenden Voraussetzungen für eine Versicherungspflicht nach § 26 Abs 2b SGB III nicht entgegen. Der Gesetzgeber hat die bisherige Absicherung von Pflegepersonen in der Arbeitslosenversicherung als unzureichend angesehen und daher die gesetzliche Versicherungspflicht geschaffen, die nicht von einer Antragsfrist abhängt und nicht zeitlich begrenzt ist. Auf den Willen und die Disposition der Pflegeperson kommt es damit nicht mehr an - unabhängig davon, inwieweit sie von ihrem bisherigen Recht auf eine Antragspflichtversicherung Gebrauch gemacht hat. Es bestehen auch keine Manipulationsmöglichkeiten in Bezug auf die Versicherungspflicht, wenn lediglich auf die gesetzlichen Voraussetzungen abgestellt wird und nicht auf zur Disposition der Betroffenen stehende Umstände (vgl BSG vom 27.8.1998 - B 10 AL 7/97 R - SozR 3-4100 § 141e Nr 3 S 12).
Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Norm. § 26 Abs 2b SGB III nF dient dem Schutz von Personen, die durch die Pflege anderer an einer Beschäftigung mit Verbleib in der Versichertengemeinschaft gehindert sind. Um eine verbesserte Absicherung von Pflegepersonen in der Arbeitslosenversicherung zu erreichen, ist es konsequent, § 26 Abs 2b SGB III nF ab seinem Inkrafttreten auch auf Pflegetätigkeiten anzuwenden, deren Anbindung an die Arbeitslosenversicherung vor dem Inkrafttreten der Norm erfolgt ist, die aber nach der bis zum 31.12.2016 geltenden Rechtslage nicht versicherungspflichtig waren. Dem Schutzzweck würde es zuwiderlaufen, wenn gerade diejenigen von der neu geschaffenen Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung endgültig ausgeschlossen wären, die bereits länger ohne Absicherung ihrer Pflegetätigkeit nachgehen und die deshalb am stärksten auf Schutz angewiesen sind.
Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG zu der seit 1.1.2003 durch das Job-AQTIV-Gesetz vom 10.12.2001 (BGBl I 3443) eingeführten Versicherungspflicht von Kindererziehungszeiten nach § 26 Abs 2a SGB III , die ebenfalls eine unmittelbare Anbindung an das System der Arbeitslosenversicherung voraussetzt. Hierzu hat der Senat bereits entschieden, dass die Neuregelung zwar keine Versicherungspflicht für eine vor Inkrafttreten der Norm liegende Kindererziehungszeit begründet, die Versicherungspflicht jedoch für den Teil der Kindererziehungszeit gilt, der nach dem 1.1.2003 liegt ( BSG vom 19.1.2005 - B 11a/11 AL 35/04 R - SozR 4-4300 § 147 Nr 3 RdNr 20; BSG vom 29.5.2008 - B 11a/7a AL 64/06 R - juris RdNr 18 f). Auch in diesen Fällen fand die Anbindung an die Arbeitslosenversicherung vor dem Inkrafttreten der Norm statt und es bestand keine durchgehende Versicherungspflicht.
Dem Unmittelbarkeitszusammenhang zwischen Pflegetätigkeit und Versicherungspflicht steht schließlich auch nicht entgegen, dass die Pflege bereits 2006 begann und der Kläger zeitgleich noch bis 30.6.2008 arbeitete und bis 30.6.2009 Alg bezog. Die Überschneidung der Pflegetätigkeit mit Beschäftigungszeiten oder Alg-Bezug stellt im Grunde die stärkste Form des Unmittelbarkeitszusammenhangs dar. Gerade für diese Konstellation regelt im Übrigen § 26 Abs 3 Satz 5 SGB III ausdrücklich, dass die Versicherungspflicht nach § 26 Abs 2b SGB III nF nicht eintritt, solange eine anderweitige Versicherungspflicht oder ein Entgeltersatzleistungsbezug nach dem SGB III besteht. Diese Konkurrenzregelung wäre überflüssig, wenn in solchen Fällen schon keine Versicherungspflicht nach § 26 Abs 2b SGB III eintreten könnte. Es entspricht auch nicht Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitszusammenhangs, diejenigen Pflegepersonen von der Versicherungspflicht auszuschließen, die es zeitweise schaffen, neben der Pflege noch einer Tätigkeit oder der Arbeitsuche nachzugehen.
Daher ist es auch unschädlich, dass der Kläger seine Mutter zunächst pflegte, ohne dass diese bereits dem (erst zum 1.1.2017 eingeführten) Pflegegrad 2 im Sinne des SGB XI zugeordnet war. Andernfalls würde § 26 Abs 2b SGB III nF nur eingreifen, wenn die frühere Versicherungspflicht oder der Anspruch auf eine laufende Entgeltersatzleistung nach dem SGB III gerade dann endet, wenn alle Voraussetzungen des § 26 Abs 2b SGB III erfüllt sind. Damit würden aber gerade die typischen Verläufe, in denen die Pflegebedürftigkeit und entsprechend auch die Pflegetätigkeit nach und nach zunimmt, nicht erfasst, wenn etwa schon in einer früheren Phase der Pflegetätigkeit eine Beschäftigung aufgegeben worden ist. Eine solche Konsequenz vermag der Senat dem § 26 Abs 2b SGB III aber nicht zu entnehmen. Der Senat versteht das Tatbestandsmerkmal "vor Beginn der Pflegetätigkeit" in § 26 Abs 2b SGB III vielmehr so, dass es sich auf den Beginn der Pflegetätigkeit als solche bezieht, nicht aber auf eine Pflegetätigkeit, die die Voraussetzungen gerade des § 26 Abs 2b SGB III erfüllt. Etwas anderes hätte der Gesetzgeber etwa durch die Formulierung "vor Beginn einer solchen Pflegetätigkeit" regeln können.
Soweit die Beklagte auf das "Rundschreiben der Spitzenverbände der Sozialversicherung vom 13.12.2016 zur Renten- und Arbeitslosenversicherung der nicht erwerbsmäßig tätigen Pflegepersonen" verweist, dem offenbar eine andere Auslegung der hier anwendbaren Bestimmungen zugrunde liegt, besitzt dies keine Rechtsnormqualität iS des § 162 SGG und der Senat ist nicht daran gebunden (vgl BSG vom 18.12.2001 - B 12 KR 8/01 R - SozR 3-2400 § 7 Nr 19 S 74) .
Schließlich folgt auch aus den Grundsätzen des intertemporalen Rechts (hierzu ausführlich Kopp, SGb 1993, 593 ; vgl auch BSG vom 27.8.2008 - B 11 AL 11/07 R - SozR 4-4300 § 335 Nr 1 RdNr 13 mwN) nichts anderes, selbst wenn sich nach dem hierzu entwickelten Versicherungs- bzw Leistungsfallprinzip die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Rechtsverhältnisse grundsätzlich nach dem Recht beurteilen würde, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Umstände gegolten hat. Denn vorliegend ist gerade allein aufgrund von Versicherungszeiten, die nach der Rechtsänderung ab 1.1.2017 zurückgelegt wurden, ein Leistungsfall eingetreten, der diese Versicherungszeiten zur Anspruchsvoraussetzung hat. Das trägt dem Versicherungs- bzw Leistungsfallprinzip vollständig Rechnung. Dass der Unmittelbarkeitszusammenhang als rein tatsächliche Voraussetzung für die Versicherungszeit ebenfalls nach dem 1.1.2017 eingetreten sein muss, fordert nach dem oben Dargelegten das Gesetz indessen nicht.
Fundstellen
SGb 2023, 496 |
info-also 2024, 81 |