Entscheidungsstichwort (Thema)
Beratung durch Rentenversicherungsträger in geeigneten Fällen
Leitsatz (amtlich)
Ein „geeigneter Fall” für die Korrektur einer versäumten Antragstellung über § 115 Abs 6 S 1 SGB 6 kommt nur in Betracht, wenn die Adressaten derartiger Hinweise ohne weitere Nachfrage – etwa aus dem Datenbestand des Versicherungsträgers – bestimmbar sind und die Regelung den Schutz der Einzelnen bezweckt.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGB VI § 115 Abs. 6 S. 1, §§ 99, 46 Abs. 2; SGB I §§ 13-14
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. November 1997 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin auch für die Zeit von Januar bis Oktober 1992 große Witwenrente anstatt der bezogenen kleinen Witwenrente zusteht.
Nach dem Tode des Versicherten Manfred J. … bezog die Klägerin als dessen Witwe zunächst große Witwenrente wegen der Erziehung des gemeinsamen Kindes Sylvia. Wegen des Wegfalls der Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes wurde die Rente ab Februar 1985 in eine kleine Witwenrente (§ 1268 Abs 1 RVO) umgewandelt. Durch Bescheid vom 13. August 1992 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 1. November 1992 von Amts wegen wieder große Witwenrente, weil die Klägerin das 45. Lebensjahr vollendet hatte.
Den im März 1996 gestellten Antrag der Klägerin, ihr bereits ab 1. Januar 1992 die große Witwenrente zu gewähren, weil sie ein am 7. Januar 1985 geborenes Kind erziehe und seit Inkrafttreten des § 46 Abs 2 SGB VI deswegen Anspruch auf große Witwenrente habe, hierauf aber von der Beklagten nie hingewiesen worden sei, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 10. Juni 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 1996 ab. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 23. Mai 1997; Urteil des LSG vom 18. November 1997). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Der Klägerin stehe für die streitige Zeit die große Witwenrente nicht zu, weil gemäß § 99 Abs 2 Satz 3 SGB VI eine Hinterbliebenenrente nicht für mehr als zwölf Monate vor dem Monat, in dem die Rente beantragt werde, geleistet werden könne. Sie könne auch nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als hätte sie den Antrag rechtzeitig gestellt. Denn die Beklagte habe keine der Klägerin gegenüber bestehende Informations- oder Beratungspflicht verletzt. Zwar sollten die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten gemäß § 115 Abs 6 Satz 1 SGB VI in geeigneten Fällen darauf hinweisen, daß sie eine Leistung erhalten könnten, wenn sie diese beantragten. Aus dem Wort „Berechtigten” lasse sich aber ersehen, daß geeignete Fälle iS dieser Vorschrift nur solche sein könnten, in denen der Rentenversicherungsträger von der Berechtigung des Versicherten auf gerade die fragliche Leistung Kenntnis habe oder zumindest eine entsprechende Annahme naheliege. Eine Gesetzesänderung, bei der – wie hier – der Kreis der Berechtigten nicht feststehe, verpflichte die Rentenversicherungsträger aber nicht, von sich aus alle theoretisch in Betracht kommenden Versicherten (hier: Bezieher einer kleinen Witwenrente) über die Gesetzesänderung zu informieren oder zunächst den berechtigten Personenkreis selbst zu ermitteln. Auch ein konkreter Anlaß zur Beratung iS des § 14 Satz 1 SGB I habe sich nicht schon aus dem Inkrafttreten des § 46 SGB VI ergeben. Denn es sei der Beklagten nicht erkennbar gewesen, daß die Klägerin, die bis dahin die Geburt ihres zweiten Kindes nicht angezeigt habe, von dieser Neuerung begünstigt werde.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 115 Abs 6 SGB VI. Sie ist der Ansicht: Zweck des § 115 Abs 6 SGB VI sei es, den nicht ausreichend Informierten vor Nachteilen aus dem Antragsprinzip zu bewahren. Ein „geeigneter Fall” iS der Vorschrift liege vor, weil es der Beklagten möglich gewesen wäre, sämtliche bei ihr in der Datenverarbeitung gespeicherten Bezieherinnen von kleinen Witwenrenten festzustellen und ihnen einen gezielten Hinweis auf die entscheidende Änderung der Rechtslage ab 1. Januar 1992 zu erteilen. Es entspreche den Üblichkeiten der heutigen Gesellschaft, daß Frauen bis zum Erreichen des 45. Lebensjahres noch Kinder gebären. Es könne auch kein Zweifel daran bestehen, daß sämtliche Bezieherinnen einer kleinen Witwenrente, die zwischenzeitlich weitere Kinder geboren hätten, bei entsprechender Information ohne weiteres den Antrag auf Umwandlung in die große Witwenrente gestellt hätten.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. November 1997 und des Sozialgerichts Köln vom 23. Mai 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. November 1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr große Witwenrente aus der Versicherung des Manfred J. … auch für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 1992 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 23. Mai 1997 zurückgewiesen und ebenfalls entschieden, daß die Klägerin für die Zeit von Januar bis Oktober 1992 keinen Anspruch auf große Witwenrente hat.
Gemäß § 46 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI hat zwar eine Witwe, die nicht wieder geheiratet hat, nach dem Tode des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, Anspruch auf große Witwenrente auch dann, wenn sie ein eigenes Kind erzieht, daß das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin für die streitige Zeit. Indes hat sie den entsprechenden Antrag erst im März 1996 gestellt. Gemäß § 99 Abs 2 Satz 3 wird eine Hinterbliebenenrente aber nicht für mehr als zwölf Kalendermonate vor dem Monat, in dem die Rente beantragt worden ist, geleistet. Da der streitige Zeitraum mehr als zwölf Monate vor der Rentenantragstellung im März 1996 liegt, ist ein Leistungsanspruch der Klägerin nicht gegeben.
Zutreffend hat das LSG ausgeführt, daß die Klägerin auch nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden kann, als hätte sie den Antrag rechtzeitig gestellt.
Eine Beratungspflicht iS des § 14 SGB I hat die Beklagte nicht verletzt. Denn während des streitigen Zeitraums war der Beklagten nicht bekannt, daß die Klägerin im Jahre 1985 ein weiteres Kind geboren hatte und damit in den Kreis der Berechtigten für eine große Witwenrente gemäß § 46 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI fiel. Für einen Beratungsbedarf der Klägerin gab es daher keine konkreten Anhaltspunkte.
Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch resultiert auch nicht aus einer Fehl- oder Nichtinformation der Klägerin, wobei als Pflicht, deren Verletzung grundsätzlich geeignet ist, einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu begründen, die aus § 115 Abs 6 Satz 1 SGB VI folgende Hinweispflicht in Betracht kommt (vgl Urteile des BSG vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 23/95 – SozR 3-2600 § 115 Nr 1 und vom 9. Dezember 1997 – 8 RKn 1/97). Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, daß sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. Unter „Berechtigte” sind dabei grundsätzlich alle in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten und deren Hinterbliebene zu fassen. Im Gegensatz zum LSG vermag der Senat diesem Wort eine restriktive Bedeutung im Sinne einer Kenntnis des Versicherungsträgers von der Leistungsberechtigung des Versicherten oder einer naheliegenden Annahme derselben nicht beizumessen, weil sich die mögliche Berechtigung des einzelnen gerade nach dem materiellen Recht beurteilt, auf das ggf vom Versicherungsträger hinzuweisen ist. Entscheidend kann danach nur sein, wann ein „geeigneter Fall” für die Hinweiserteilung vorliegt.
Mit dem Erlaß dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber die Aufklärungs-, Beratungs- und Auskunftspflicht gemäß §§ 13 bis 15 SGB I für einen Teilbereich des Sozialrechts konkretisiert, wobei die Beschränkung auf „geeignete Fälle” ihren Grund darin hat, daß die Informationspflicht wegen der unzureichenden Unterlagen nicht generell erfüllbar ist (vgl amtliche Begründung, BT-Drucks 11/5530 S 78 zu § 116 Abs 6 und S 108 zu Art 1 § 11; Hauck/Haines, SGB VI-Komm, M 050 S 78 und RdNrn 12, 13 zu K § 115; BerlKomm-Kahl, RdNr 22 zu § 115 SGB VI). Mithin kommt die Nachholung einer versäumten Antragstellung über § 115 Abs 6 Satz 1 SGB VI nur in Betracht, wenn die Adressaten derartiger Hinweise – anders als bei § 13 SGB I – bestimmbar sind und die Regelung den Schutz der einzelnen bezweckt. Dann soll den Versicherten auch ein subjektives Recht auf Erteilung eines Hinweises zustehen (BSG Urteil vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 23/95 – SozR 3-2600 § 115 Nr 1).
Dieses Ergebnis wird auch getragen von der historischen Entwicklung des Begriffs „geeignete Fälle”. In den Beratungen zum RRG 1992 war nämlich im Hinblick auf die Möglichkeiten der automatisierten Datenverarbeitung erwogen worden anzuordnen, Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung von Amts wegen zu erbringen. Angesichts der vermuteten Gefahr größerer Nachzahlungen wurde dies jedoch nicht umgesetzt (vgl BSG Urteil vom 22. Oktober 1996 – 13 RJ 23/95 – SozR 3-2600 § 115 Nr 1 mwN). Vermittelnd schlug dann der BT-Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vor, es solle ein entsprechender Hinweis in den Fällen erfolgen, in denen es naheliege, daß Versicherte Leistungen in Anspruch nehmen wollten, wie zB bei der Regelaltersrente und bei der Hinterbliebenenrente. Dies sei ein geeigneter Bereich zum Ausbau in eine konkrete Informationspflicht (Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung -11. Ausschuß, BT-Drucks 11/5530, S 46 zu § 116 Abs 6).
Der Gesetzgeber ist mithin von typischen Sachverhalten ausgegangen, bei denen eine Hinweispflicht bestehen soll. Sowohl bei der beispielhaft genannten Regelaltersrente als auch bei der Hinterbliebenenrente verfügt der Versicherungsträger aber in der Regel über alle Daten, die erforderlich sind, um das Vorliegen der Rentenanspruchsvoraussetzungen festzustellen. Bei der Regelaltersrente wird im Regelfall bereits im Rahmen des für das 55. Lebensjahr vorgesehenen Kontenklärungsverfahrens festgestellt, ob die Wartezeit erfüllt ist; bei der Hinterbliebenenrente erfährt der Rentenversicherungsträger in der Regel von den Hinterbliebenen oder von der Krankenkasse vom Ableben des Versicherten. Anders ist dies im Fall der Anspruchsberechtigung auf große Hinterbliebenenrente wegen der Erziehung eines eigenen Kindes, das das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Hier liegt ein typischer Sachverhalt iS des og Ausschußberichts, bei dem eine Hinweispflicht bestünde, nicht vor. Diese Daten sind dem Rentenversicherungsträger regelmäßig nicht bekannt.
Ein „geeigneter Fall” iS des § 115 Abs 6 Satz 1 SGB VI liegt mithin im Fall der Klägerin nicht vor. Die Beklagte konnte das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nicht generell aufgrund des Versichertenkontos ohne Befragung der Klägerin feststellen. Überdies handelte es sich um Leistungen, die von Versicherten nur in bestimmten Situationen und nicht im Regelfall von allen Versicherten in Anspruch genommen werden. Nur solche Leistungen sind aber mit den Beispielsfällen der Regelalters- und der Hinterbliebenenrente im Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung benannt worden. Bei den Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung großer Witwenrente nach § 46 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI handelt es sich nicht um einen solchen typischen Sachverhalt (vgl hierzu: Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Anm 8 zu § 115 SGB VI, die als typische Sachverhalte benennen: Hinterbliebenenrente bei Todesmeldung des Versicherten; Beitragserstattung; Rentenabfindung; KVdR-Zuschuß und Rentenerhöhungen aufgrund weiterer rentenrechtlicher Zeiten).
Aufgrund des § 115 Abs 6 Satz 1 SGB VI war die Beklagte daher nicht verpflichtet, alle Bezieherinnen kleiner Witwenrenten zu ermitteln und bei diesen nachzufragen, ob sie zwischenzeitlich weitere Kinder geboren hätten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
NZS 1999, 148 |
SozR 3-2600 § 115, Nr. 3 |
SozSi 1999, 299 |