Beteiligte
2. Bundesanstalt für Arbeit |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. November 1998 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der 1953 geborene Kläger ist Portugiese. Er heuerte am 26. Dezember 1986 im Hafen von Leixoes in Portugal als Deckshelfer auf dem der beigeladenen Reederei gehörenden, unter deutscher Flagge fahrenden Küstenmotorschiff „B.” für eine am selben Tag bevorstehende Überfahrt nach England an. Das Schiff wurde am Nachmittag des 26. Dezember 1986 von der Mannschaft unter Mitwirkung des Klägers beladen und ging noch in der Nacht in See. Während der Überfahrt fiel der Kläger dem Kapitän und den anderen Besatzungsmitgliedern durch ein verwirrtes Verhalten auf. Er habe sich zumeist auf der Brücke aufgehalten und dies damit begründet, daß in seiner Kabine Hunde und Katzen seien und er das Maschinengeräusch nicht ertragen könne. Zeitweise habe er halluziniert und gezittert, als ob er Fieber habe, und man habe ihn mehrfach beruhigen müssen. Ob und in welchem Umfang er trotz dieses Zustandes im Verlauf der fünf Tage dauernden Überfahrt in der Kombüse und an Deck gearbeitet hat, ist nicht aufklärbar gewesen. Beim Anlegen und Festmachen des MS „B.” im Hafen von Teignmouth in England am 30. Dezember 1986 stürzte der Kläger unter nicht geklärten Umständen vom Schiff auf die Kaianlagen. Er erlitt eine Fraktur der Halswirbelsäule und ist seither querschnittsgelähmt. Ob ihm wegen des Ereignisses vom 30. Dezember 1986 Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen, ist noch nicht abschließend entschieden; der Prozeß darüber ist beim Landessozialgericht (LSG) in der Berufungsinstanz anhängig.
Die beklagte Seekasse – See-Krankenkasse – lehnte mit Bescheiden vom 17. Februar 1987 und 1. Dezember 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. April 1991 Leistungen der Krankenhilfe ab, weil es sich bei der Tätigkeit des Klägers auf der MS „B.” um einen mißglückten Arbeitsversuch gehandelt habe, der nicht als versicherungspflichtige Beschäftigung gewertet werden könne. Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) hat die Bescheide aufgehoben und festgestellt, daß der Kläger ab 26. Dezember 1986 bei der beigeladenen Reederei in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden habe(Urteil vom 6. Oktober 1992). Die Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen(Urteil vom 24. November 1998). Es hat ausgeführt, der Kläger habe nach der Anmusterung am 26. Dezember 1986 seine Tätigkeit unstreitig aufgenommen und beim Beladen des Schiffes mitgearbeitet. Die Beweiserhebung habe keinen Anhalt dafür ergeben, daß er von vornherein zu der übernommenen Arbeit aus gesundheitlichen Gründen nicht imstande gewesen sei. Damit sei ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zustande gekommen. Die von der Beklagten zur Begründung ihres gegenteiligen Standpunkts herangezogene Rechtsprechung zum mißglückten Arbeitsversuch habe das Bundessozialgericht (BSG) zwischenzeitlich aufgegeben. Die dazu ergangenen Entscheidungen bezögen sich zwar ausdrücklich nur auf die Rechtslage seit Inkrafttreten des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) am 1. Januar 1989. Für die Zeit davor könne jedoch nichts anderes gelten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das Rechtsinstitut des mißglückten Arbeitsversuchs behalte angesichts unterschiedlicher rechtlicher Rahmenbedingungen in der Zeit vor und nach 1989 für die Vergangenheit seine Berechtigung. Das BSG habe daran deshalb auch trotz der in der Literatur geäußerten Bedenken für die Geltungsdauer der Reichsversicherungsordnung (RVO) stets festgehalten und lediglich eine restriktive Handhabung gefordert. Bei Zugrundelegung der danach maßgebenden Kriterien sei eine versicherungspflichtige Beschäftigung zu verneinen. Insbesondere stehe rückschauend fest, daß der Kläger schon bei Aufnahme seiner Tätigkeit am 26. Dezember 1986 arbeitsunfähig gewesen sei. Die gegenteilige Annahme des LSG sei mit dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht vereinbar und überschreite die Grenzen freier Beweiswürdigung.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. November 1998 und des Sozialgerichts Hamburg vom 6. Oktober 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.
II
Die Revision der Beklagten bleibt ohne Erfolg.
Gegen die Zulässigkeit der vom Kläger erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage sind durchgreifende Bedenken nicht zu erheben. Der auch im sozialgerichtlichen Verfahren zu beachtende Grundsatz der Subsidiarität der Feststellungsklage steht ihr nicht entgegen. Zwar sind mit den angefochtenen Bescheiden Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung abgelehnt worden. Der Kläger hat deshalb sein Ziel ursprünglich auch mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage verfolgt und ist erst später – offenbar auf Anregung des SG – auf eine Feststellungsklage übergegangen. Dieses Vorgehen ist hier aber schon deshalb nicht zu beanstanden, weil die Bescheide genaugenommen nicht über konkrete Leistungen der Krankenhilfe, sondern allgemein über die Frage der Leistungspflicht der Beklagten aufgrund eines durch die Tätigkeit des Klägers auf der MS „B.” begründeten Versicherungsverhältnisses entschieden und damit ihrerseits letztlich feststellenden Charakter haben. Bei dieser Konstellation ist die Feststellungsklage auch deshalb zulässig, weil sie im Vergleich zur Aufhebungs- und Leistungsklage eine umfassendere Klärung des streitigen Rechtsverhältnisses, insbesondere auch im Hinblick auf noch nicht konkret geltend gemachte Ansprüche ermöglicht(vgl zu diesem Aspekt: BSGE 57, 184, 186 = SozR 2200 § 385 Nr 10 S 40; BSGE 59, 266, 267 = SozR 2200 § 182a Nr 7 S 22 f; Bley in: SGB-SozVers-Gesamtkommentar, Stand: 1994, § 55 SGG Anm 6c). Unschädlich ist schließlich, daß der Kläger zuletzt nicht mehr die Leistungspflicht der Beklagten, sondern nur noch das Bestehen der Versicherungspflicht als für den Leistungsanspruch vorgreifliches Rechtsverhältnis zum Gegenstand seines Feststellungsbegehrens gemacht hat. Auch die Feststellung eines für das umfassende Rechtsverhältnis vorgreiflichen anderen Rechtsverhältnisses, ja sogar eines bloßen Elements dieses Rechtsverhältnisses ist vom BSG ausnahmsweise als zulässig angesehen worden, wenn zu erwarten war, daß dadurch der Streit der Beteiligten im Ganzen bereinigt wird, was auch hier angenommen werden kann(BSGE 31, 235, 239 f = SozR Nr 14 zu § 141 SGG Bl Da 8; BSGE 48, 238, 240 = SozR 2200 § 250 Nr 5 S 21). Ob dieser Rechtsprechung vorbehaltlos zu folgen ist, läßt der Senat offen; ihre Aufgabe wäre jedenfalls im vorliegenden Fall nicht sachgerecht, nachdem die Vorinstanzen sie ihrer prozessualen Beurteilung zugrunde gelegt haben und eine Zurückverweisung der Sache die Erledigung des seit dreizehn Jahren schwebenden Verfahrens nochmals verzögern würde.
Auch in der Sache selbst verletzt das angefochtene Urteil kein Bundesrecht. Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die der Senat mangels zulässiger und begründeter Verfahrensrügen seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, begegnet die Feststellung, der Kläger habe ab dem 26. Dezember 1986 bei der beigeladenen Reederei in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden, keinen rechtlichen Bedenken.
In der Krankenversicherung versicherungspflichtig waren nach den hier noch maßgebenden Bestimmungen der RVO ua Besatzungsmitglieder deutscher Seefahrzeuge, die wie der Kläger als Arbeiter („Schiffsmann”) gegen Entgelt beschäftigt wurden(§ 165 Abs 1 Nr 1 und Abs 2, § 477 Nr 1 RVO iVm § 6 Seemannsgesetz). Für die Begründung der Versicherungspflicht war weiter erforderlich, daß der Arbeitnehmer in die Beschäftigung eintrat. Erst mit dem Tag des Eintritts in die Beschäftigung, dh im Regelfall mit der Aufnahme der Arbeit, begann die Mitgliedschaft bei der Krankenkasse(§ 306 Abs 1 RVO). Nach diesen Kriterien hat im vorliegenden Fall ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorgelegen, denn der Kläger hatte nach dem Anheuern am Nachmittag des 26. Dezember 1986 unstreitig seine Arbeit aufgenommen und das Schiff bis zum Abend desselben Tages zusammen mit den anderen Besatzungsmitgliedern beladen. Ob er auch nach dem Ablegen auf See noch wirtschaftlich verwertbare Arbeit geleistet hat, ist unerheblich, da das einmal begründete Beschäftigungsverhältnis jedenfalls bis zu dem Unfallereignis am 30. Dezember 1986 fortbestanden hat.
Der Versicherungsschutz entfällt entgegen der Ansicht der Beklagten nicht deshalb, weil die Tätigkeit des Klägers als mißglückter Arbeitsversuch zu werten wäre. Mit diesem Begriff hat das BSG in der Vergangenheit Fallgestaltungen gekennzeichnet, bei denen bereits im Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme objektiv feststand, daß der Beschäftigte seine Tätigkeit wegen einer Erkrankung nicht oder nur bei schwerwiegender Gefährdung seiner Gesundheit werde verrichten können und bei denen er die Arbeit entsprechend der darauf gegründeten Erwartung tatsächlich vor Ablauf einer wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeit wieder aufgegeben hatte. Um eine mißbräuchliche Inanspruchnahme des Krankenversicherungsschutzes zu verhindern und das Versicherungsprinzip zu wahren, wurde angenommen, daß in einem solchen Fall trotz Vorliegens eines wirksamen Arbeitsvertrages und tatsächlich geleisteter Arbeit keine Versicherungspflicht in der Krankenversicherung eintrete(BSGE 72, 221, 222 ff = SozR 3-2200 § 165 Nr 10 S 20 ff mwN). Die erwähnte Rechtsprechung haben sowohl der 12. Senat des BSG für das Beitragsrecht als auch der erkennende Senat für das Leistungsrecht der Krankenversicherung inzwischen aufgegeben, weil sie im Gesetz keine ausreichende Grundlage hat(Urteil des 12. Senats vom 4. Dezember 1997 - BSGE 81, 231 = SozR 3-2500 § 5 Nr 37; Urteil des 1. Senats des BSG vom 29. September 1998 - SozR 3-2500 § 5 Nr 40). Beide Senate haben die Aussage, daß die Rechtsfigur des mißglückten Arbeitsversuchs nicht mehr anzuwenden sei, allerdings auf den Rechtszustand seit Inkrafttreten des SGB V beschränkt, weil nur hierüber zu befinden war. Ob dasselbe auch für die zurückliegende Zeit zu gelten hat oder ob für den Geltungszeitraum der RVO die frühere Rechtslage maßgebend bleibt, ist offen geblieben. Die Frage bedarf auch im jetzigen Rechtsstreit keiner Klärung, weil im Fall des Klägers ein mißglückter Arbeitsversuch zu verneinen ist und somit auch nach den Kriterien der früheren Rechtsprechung ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorgelegen hat.
Das LSG hat den Aussagen der im Verwaltungsverfahren und im Parallelprozeß gegen den Unfallversicherungsträger gehörten Besatzungsmitglieder entnommen, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger zu den übertragenen Arbeiten von vornherein aus körperlichen oder seelischen Gründen nicht in der Lage gewesen sei. Für eine Epilepsie oder eine Geisteskrankheit hätten sich ebensowenig Belege gefunden wie für eine vom beratenden Nervenarzt der Beklagten vermutete halluzinatorische Psychose unter Alkohol- oder Drogenentzug. Näher liege es, daß der Kläger sich an Bord eine hoch fieberhafte Erkrankung der Atemwege zugezogen habe, zumal wenige Tage später im Hospital in England eine schwere, lebensbedrohliche Bronchopneumonie diagnostiziert worden sei. Nach diesen Feststellungen ist nicht bewiesen, daß der Kläger bereits im Zeitpunkt des Eintritts in die Beschäftigung am 26. Dezember 1986 arbeitsunfähig war. Damit fehlt die wesentliche Voraussetzung für die Annahme eines mißglückten Arbeitsversuchs. Die Beweislosigkeit geht zu Lasten der Beklagten, denn sie beruft sich auf einen Sachverhalt, der den Versicherungsschutz trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen ausnahmsweise ausschließen soll.
Die erwähnten Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts sind für den Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend und deshalb der revisionsgerichtlichen Prüfung und Entscheidung zugrunde zu legen. Die gegen sie erhobenen verfahrensrechtlichen Einwände greifen nicht durch. Die Beklagte beanstandet im wesentlichen die Beweiswürdigung des LSG, insbesondere was die Annahme betrifft, der Kläger sei bei Aufnahme seiner Tätigkeit noch arbeitsfähig gewesen und erst später während der Überfahrt erkrankt. Diese Bewertung sei mit dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht zu vereinbaren und widerspreche den eigenen Feststellungen des Berufungsgerichts. Eine Lungenentzündung von lebensbedrohlichem Ausmaß, wie sie nach dem Unfall im Krankenhaus in Teignmouth festgestellt und vom LSG als möglicher Grund für das auffällige Verhalten des Klägers an Bord in Erwägung gezogen worden sei, könne sich nicht innerhalb weniger Tage entwickeln, sondern müsse schon bei der Anmusterung bestanden haben. Diese Argumentation läßt außer acht, daß das Gericht nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG über den Rechtsstreit nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet. Die Rüge einer unrichtigen oder nicht erschöpfenden Beweiswürdigung bezeichnet keinen Verfahrensmangel, sondern einen Mangel in der Urteilsfindung. Sie ist deshalb grundsätzlich unbeachtlich, es sei denn, es würde ein Verstoß gegen Denk- oder Erfahrungssätze und damit eine Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung geltend gemacht. Letzteres ist nicht geschehen. Die Beklagte übersieht, daß das LSG eine fiebrige Erkrankung lediglich als eine von mehreren möglichen Ursachen der Verwirrtheitszustände des Klägers diskutiert und auf Grund der unauffälligen Arbeitsleistung beim Beladen des Schiffes gemutmaßt hat, daß die Krankheit erst während der Überfahrt voll zum Ausbruch gekommen ist und Arbeitsunfähigkeit verursacht hat. Daß dies eine medizinischen Erfahrungssätzen widersprechende Schlußfolgerung sei, wird nicht begründet. Abgesehen davon ist ein früherer Beginn der Erkrankung im angefochtenen Urteil nicht ausgeschlossen, sondern lediglich als nicht bewiesen angesehen worden. Inwiefern dies mit den festgestellten Tatsachen und dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht in Einklang zu bringen sein sollte, ist der Revisionsbegründung nicht zu entnehmen.
Die Revision der Beklagten erweist sich nach alledem als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
DStR 2001, 38 |
SozSi 2001, 322 |