Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 04.12.1991) |
SG Gießen (Urteil vom 31.01.1986) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 4. Dezember 1991 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 31. Januar 1986 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Krankenkasse verpflichtet ist, dem Kläger die Kosten für eine beim Beigeladenen durchgeführte Distraktionsepiphyseolyse zu zahlen, durch die seine Körpergröße von 164 cm auf 178 cm verändert wurde.
Der 1961 geborene Beigeladene wurde wegen minderen Körperwuchses von seinen Eltern seit 1976/77 wiederholt Ärzten der Universitätskinderklinik Gießen vorgestellt, die jedoch die Auffassung vertraten, daß der Beigeladene noch wachsen und mindestens 175 bis 178 cm groß werden würde. Im Alter von 19 Jahren betrug die Körpergröße aber nur etwa 154 cm. Der Beigeladene wurde deshalb und wegen einer erheblichen Entwicklungsverzögerung im Gesamterscheinungsbild mit ausgesprochen kindlichem Aussehen Mitte 1980 zur Behandlung an die Universitätsklinik Frankfurt am Main, Abteilung für Endokrinologie, überwiesen, wo eine Störung der Zwischenhirn-Hirnanhangsdrüsen-Achse mit Verzögerung der Knochenreifung und der sexuellen Entwicklung festgestellt wurde. Durch eine hormonelle Behandlung konnte bis zum Jahre 1984 noch eine Körpergröße von 164 cm erreicht werden. Der Beigeladene litt jedoch zunehmend unter seinem äußeren Erscheinungsbild und unterbrach nach Ablegung des Physikums im Wintersemester 1983/84 aus gesundheitlichen Gründen sein Studium. Nachdem er von der Möglichkeit der operativen Beinverlängerung erfahren hatte, beschäftigte er sich nur noch mit diesem Thema. Am 18. Mai 1984 stellte er sich erstmals wegen einer Beinverlängerung nach der Ilisarov-Methode bei Prof. Dr. F … in der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Akademie Erfurt vor. Dr. F … vertrat die Ansicht, der Beigeladene habe eine ausreichende Körpergröße und werde sicher noch 167 cm groß werden. Er riet dem Beigeladenen vergeblich von einer Operation ab. In einem Schreiben vom 8. Oktober 1984 an Prof. Dr. F … äußerte sich der Diplom-Psychologe Dr. J … von der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätskliniken Frankfurt am Main dahin, daß der Beigeladene bei der zweimaligen Vorstellung psychisch sehr auffällig und völlig auf seine Körpergröße fixiert gewesen sei und sogar mit Selbstmord gedroht habe. Eine prinzipiell sinnvolle psychotherapeutische Behandlung sei derzeit undurchführbar. Der vorgesehenen Operation werde deshalb zugestimmt. In einer Bescheinigung für die beklagte Krankenkasse vom 21. September 1984 bestätigte Dr. R …, daß beim Beigeladenen wegen der geringen Körpergröße eine extreme psychische Beeinträchtigung vorliege. Dr. S … von der Psychiatrischen Klinik der Universitätskliniken Gießen erklärte, daß der Beigeladene unter ausgeprägten depressiven Verstimmungen leide, für die er ausschließlich seinen relativen Minderwuchs verantwortlich mache. Prof. Dr. O … und Dr. J … vom Zentrum der Psychiatrie der Universitätskliniken Frankfurt am Main vertraten in einer ausführlichen Stellungnahme vom 11. Dezember 1984 die Auffassung, daß die vorgesehene Distraktionsepiphyseolyse nach Ilisarov unbedingt vorgenommen und von der Beklagten bezahlt werden müsse, da es dazu keine realisierbare, erfolgversprechende Alternative gebe. Der Beigeladene sei derzeit stark suizidgefährdet und leide unter zahlreichen chronischen psychosomatischen Störungen, die eindeutig auf seine Krankheit zurückzuführen seien, unter der er seit frühester Kindheit leide. Die vielen kränkenden Situationen, die er deshalb habe erleiden müssen, habe er nicht adäquat verarbeiten können. Demgegenüber verwies Frau Dr. S … von der Sozialärztlichen Dienststelle der Landesversicherungsanstalt (LVA) Hessen darauf, daß es sich nicht um einen Minderwuchs, sondern lediglich um eine Variante im Normbereich handele, daß daneben auch das jugendliche Aussehen des Beigeladenen eine Rolle spiele und eine sinnvolle Therapie nur in einer psychosomatischen Behandlung liegen könne. Auch dem Landesvertrauensarzt erschien die beabsichtigte Beinverlängerung als nicht geeignet, die vorliegenden krankhaften psychischen Störungen zu überwinden. Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 5. Dezember 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 1985 die Übernahme der Kosten ab.
Das Sozialgericht (SG) Gießen hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers ist die Beklagte verurteilt worden, dem Kläger die Kosten der beim Beigeladenen mit Unterbrechung in der Zeit vom 6. Dezember 1984 bis 1986 in der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Akademie Erfurt durchgeführten Distraktionsepiphyseolyse sowie die hierfür notwendigen Reisekosten zu erstatten. In den Entscheidungsgründen wird ua ausgeführt: Der Kläger habe im Rahmen der Familienhilfe Anspruch auf Erstattung der Kosten der bei seinem – damals einkommenslosen – Sohn durchgeführten Distraktionsepiphyseolyse. Die Kostenerstattung scheitere nicht schon deshalb, weil sie in der ehemaligen DDR stattgefunden habe. Denn die beklagte Krankenkasse müsse auch die im Ausland durchgeführte Krankenhauspflege übernehmen, wenn die Behandlung gerade dort notwendig sei, dh eine ausreichende, die Chance eines Heilungserfolges bietende Behandlungsmöglichkeit in einer inländischen Klinik nicht bestehe. Nach den eingeholten Auskünften verschiedener orthopädischer Universitätskliniken und den sonstigen ärztlichen Äußerungen sei insoweit unter den Beteiligten inzwischen unstreitig, daß eine Beinverlängerung nach der Methode Ilisarov, wie sie Prof. Dr. F … vorgenommen habe, seinerzeit im Bundesgebiet noch nicht durchgeführt worden sei. Dem geltend gemachten Anspruch stehe auch nicht entgegen, daß die ärztliche Behandlung hier nicht unmittelbar an der eigentlichen Krankheit – der psychischen Störung – selbst angesetzt habe. Die Krankenkassen müßten jedoch, wenn dies zur Behebung oder Linderung einer bereits eingetretenen oder drohenden geistig-seelischen Erkrankung erforderlich sei, auch die Kosten für einen chirurgischen Eingriff übernehmen. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Da die Körpergröße des Beigeladenen von 164 cm bei Beginn der Distraktionsepiphyseolyse im Normbereich gelegen habe, sei die beiderseitige Beinverlängerung zwar aus physischen Gründen nicht indiziert gewesen. Der Beigeladene habe aber – wie aufgrund der umfangreichen Beweisaufnahme feststehe – damals unter einer schweren, behandlungsbedürftigen reaktiven Depression mit suizidalen Vorstellungen gelitten,
die allein oder jedenfalls wesentlich durch den ursprünglichen Minderwuchs, die seit Kindheit dadurch erfahrenen zahlreichen Kränkungen und die subjektiv weiterhin als zu gering empfundene Körpergröße verursacht worden sei. Eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung habe er abgelehnt. Trotz der mit einer Verlängerungsosteotomie verbundenen Risiken und Schmerzen, auf die er hingewiesen worden sei, habe er an dem Wunsch nach der genannten Operation festgehalten. Die behandelnden Ärzte hätten sich zwar bemüht, den Beigeladenen für eine psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung zu gewinnen. Wegen der Ablehnung durch den Patienten sei aber eine solche Behandlung auch nicht erfolgversprechend gewesen. Dem Beigeladenen habe insoweit – krankheitsbedingt -die notwendige Einsicht gefehlt. Der Distraktionsepiphyseolyse sei deshalb aus psychiatrischer Sicht voll zugestimmt und der operative Eingriff als die derzeit einzig erfolgversprechende und sogar dringend indizierte Maßnahme zur Behandlung des psychischen Leidens angesehen worden, um eine weitere Entwicklung und Chronifizierung des Krankheitsbildes zu verhindern und eine größere Offenheit für eine eventuelle anschließende psychotherapeutische Behandlung zu erreichen. Die Operation habe dann auch Erfolg gehabt. Aufgrund der ärztlichen Äußerungen bestehe kein Zweifel, daß sie das psychische Leiden tatsächlich positiv beeinflußt habe. Der Beigeladene sei nach der Operation bereit gewesen, auch die zunächst abgelehnte Behandlung der gestörten Sexualität zu akzeptieren, die ua zu einem männlichen Aussehen geführt habe. Außerdem sei von ihm das im Wintersemester 1986/87 wiederaufgenommene Studium inzwischen erfolgreich beendet worden. Er sei in der Zahnmedizin der Universitätsklinik Gießen beschäftigt und arbeite an seiner Promotion. Hinweise für eine Depression oder gar für Suizidalität oder sonstige psychische Krankheiten hätten sich bei der Untersuchung im Psychiatrischen Krankenhaus Eichberg nicht mehr gefunden. Nach allem müsse die durchgeführte Distraktionsepiphyseolyse hier als zweckmäßige und geeignete Behandlung eines psychischen Leidens angesehen werden. Die Beklagte sei daher verpflichtet, die Kosten für die in Erfurt durchgeführte Behandlung zu übernehmen. Sie sei auch verpflichtet, die dem Beigeladenen dadurch entstandenen Reisekosten als akzessorische Nebenleistung zu tragen.
Mit der – vom Landessozialgericht (LSG) zugelassenen – Revision macht die Beklagte ua geltend: Eine Leistungspflicht nach §§ 182 Abs 1 und 2 sowie 184 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestehe nicht. Die Körpergröße des Beigeladenen habe vor dem operativen Eingriff im Normbereich gelegen. Ein Mensch mit einer Körpergröße von 164 cm sei nicht als minderwüchsig, sondern als mittelgroß anzusehen. Es habe somit – jedenfalls soweit es um die Körpergröße gehe – keine Behandlungsbedürftigkeit vorgelegen. Das Berufungsgericht verkenne den Begriff der ausreichenden und zweckmäßigen Krankenpflege, indem es davon ausgehe, die vorgenommene Operation sei die einzige Möglichkeit der Behandlung des psychischen Leidens gewesen. Vielmehr müsse eine solche Erkrankung psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt werden. Versage der Patient – wie hier – die erforderliche Mitwirkung, so sei die Krankenheit zunächst nicht behandlungsfähig. Selbst bei Annahme von Suizidgefahr bestehe nicht die Pflicht der Krankenkassen, statt einer psychiatrisch/psychotherapeutischen Behandlung die Kosten für eine Distraktionsepiphyseolyse zu übernehmen. Bei ernsthafter Suizidgefährdung sei vielmehr eine stationäre psychiatrische Behandlung anzuordnen. Da Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Selbstmorddrohung des Beigeladenen bestanden hätten, hätten die Ärzte warten können, bis der Patient seine Bereitschaft zur psychotherapeutischen Behandlung erklärt und sich freiwillig einer Hormonbehandlung unterzogen hätte. Die Operation stelle sich damit nicht als einzige Reaktionsmöglichkeit auf die psychische Krankheit dar. Auch nach einer zeitlichen Verzögerung wäre eine erfolgreiche psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung noch möglich gewesen. Darüber hinaus gehe das Berufungsgericht selbst davon aus, daß die Behandlung psychischer Leiden durch operative Maßnahmen – wie sie die Distraktionsepiphyseolyse nach Ilisarov darstelle – umstritten und ihre Zweckmäßigkeit bzw Eignung und Wirksamkeit nicht allgemein anerkannt seien. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könne eine Behandlung mit wissenschaftlich umstrittenen Methoden jedoch nur dann als gesetzliche Leistung im Rahmen der RVO angesehen werden, wenn im Einzelfalle keine andere Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung stehe und ein Therapieerfolg medizinisch-wissenschaftlich wenigstens möglich erscheine.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 4. Dezember 1991 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 31. Januar 1986 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision hat Erfolg. Die beklagte Krankenkasse ist nicht verpflichtet, dem Kläger die Kosten für die beim Beigeladenen durchgeführte Distraktionsepiphyseolyse zu erstatten.
Das LSG ist zwar zu Recht davon ausgegangen, daß der Kläger für seinen 1961 geborenen Sohn in der Zeit, in der die Behandlung in Erfurt erfolgte (1984 bis 1986) nach § 205 Abs 1 RVO familienhilfeberechtigt war. Denn der Beigeladene hatte sein Studium unterbrochen und verfügte über kein eigenes Einkommen.
Der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch scheitert auch nicht daran, daß der Beigeladene sich die Behandlung selbst beschafft hat. Nach dem Recht, das bis zum Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) am 1. Januar 1989 gegolten hat, war eine Kostenerstattung – in Abweichung vom Sachleistungsprinzip – ua dann ausnahmsweise zulässig, wenn die Krankenkasse einen Antrag des Versicherten auf Gewährung der Sachleistung abgelehnt und ihn dadurch zur Behandlung auf eigene Kosten gezwungen hatte (BSGE 34, 172, 174 = SozR Nr 6 zu § 368a RVO; BSG SozR 2200 § 182 Nrn 74 und 86 mwN). Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Kläger hatte sich vor der am 6. Dezember 1984 aufgenommenen Behandlung in der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Akademie Erfurt an die Beklagte gewendet und die Übernahme der Kosten beantragt. Sein Antrag ist noch vor Beginn der Distraktionsepiphyseolyse abgelehnt worden, und zwar mit Bescheid vom 5. Dezember 1984.
Dem geltend gemachten Anspruch steht schließlich nicht entgegen, daß eine Klinik außerhalb des damaligen Bundesgebiets die Operation vorgenommen hat. Denn Versicherte hatten auch nach altem Recht Anspruch auf Krankenhauspflege im Ausland (hier: in der damaligen DDR), wenn die notwendige Behandlung im Inland nicht möglich war (BSG SozR 2200 § 257a Nr 9). Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG, die mit zulässigen Verfahrensrügen nicht angegriffen sind und an die der Senat deshalb gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden ist, gab es in den Jahren 1984 bis 1986 kein Krankenhaus in der Bundesrepublik Deutschland, das Operationen zur beidseitigen Beinverlängerung durchführte.
Es besteht jedoch kein Anspruch auf Übernahme der durch den operativen Eingriff und die Reisen nach Erfurt entstandenen Kosten, weil die beim beigeladenen Sohn des Klägers durchgeführte Distraktionsepiphyseolyse keine erforderliche Krankenbehandlung darstellt.
Die Krankenhilfe (vgl § 182 Abs 1 und 2 sowie § 184 Abs 1 RVO) setzt eine behandlungsbedürftige Krankheit voraus. Krankheit iS des Versicherungsrechts ist ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder – zugleich oder ausschließlich – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSGE 35, 10, 12 mwN = SozR Nr 52 zu § 182 RVO; BSG SozR 2200 § 182 Nr 9). Als „regelwidrig” ist dabei ein Zustand anzusehen, der von der Norm, vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht (BSGE 26, 240, 242 = SozR Nr 23 zu § 182 RVO; BSGE 59, 119, 120 mwN und 66, 248, 249).
Diese Voraussetzungen waren – soweit es die Körpergröße des Beigeladenen betrifft – nicht erfüllt. Vor der Distraktionsepiphyseolyse betrug seine Größe 164 cm. Das liegt nach den Tatsachenfeststellungen des LSG im Normbereich. Von einer Abweichung, die im Wege einer Operation hätte behoben werden müssen, kann also keine Rede sein.
Dagegen bestand damals bei dem Beigeladenen eine psychische Störung. Er war krankhaft darauf fixiert, daß er zu klein sei und daß ihm nur durch die von ihm gewünschte Distraktionsepiphyseolyse geholfen werden könne. Die Beseitigung seiner Fehlvorstellungen und damit des bei ihm vorliegenden regelwidrigen Geisteszustandes erforderte eine psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung, die die Beklagte auch bereit war, zu gewähren.
Entgegen der Auffassung des LSG ist die Beklagte nicht deshalb leistungspflichtig, weil der Beigeladene – krankheitsbedingt – eine psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung vor der von ihm gewünschten Operation abgelehnt hat. Auch wenn die Distraktionsepiphyseolyse damit die einzige Möglichkeit darstellte, die mit Suizidgefahr verbundene psychische Erkrankung zu beheben, können die Kosten für die Operation und die durch die Reisen des Beigeladenen nach Erfurt dem Kläger erwachsenen Kosten nicht der Beklagten aufgebürdet werden. Es würde zu einer mit den Vorschriften der §§ 182 und 184 Abs 1 RVO unvereinbaren Ausweitung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen führen, wenn der Versicherte oder ein mitversicherter Familienangehöriger auf Kosten der Krankenkasse operative Eingriffe vornehmen lassen könnte, um einen im Normbereich liegenden Körperzustand zu verändern, nur weil er psychisch auf die gewünschten Änderungen fixiert ist. Anderenfalls müßten die Krankenkassen – bei entsprechender psychischer Fixierung – den Versicherten auch kostspielige Schönheitsoperationen gewähren, wenn sie an ihrem – vom Durchschnitt nicht abweichenden – Aussehen leiden. Eine Grenzziehung wäre kaum möglich. Außerdem hätte die Krankenversicherung – unabhängig von der Frage, ob sie zur Übernahme der Kosten für den operativen Eingriff verpflichtet ist – in jedem Falle für Folgeschäden solcher Operationen aufzukommen. Die Leistungspflicht ginge ins Uferlose. Zu Recht hat die Rechtsprechung die Krankenkassen daher bislang nur in den Fällen als leistungsverpflichtet angesehen, in den die Krankenbehandlung unmittelbar an der eigentlichen Krankheit ansetzt. Daraus folgt: Liegt eine psychische Störung vor, so ist sie mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln. Jedenfalls umfaßt die Leistungspflicht der Krankenkasse nicht die Kosten für operative Eingriffe in einen regelrechten Körperzustand, um auf diesem Wege eine psychische Störung zu beheben oder zu lindern. Dies gilt selbst dann,
wenn – wie hier – wegen der krankheitsbedingten Ablehnung der psychiatrisch/ psychotherapeutischen Behandlung keine andere Möglichkeit der ärztlichen Hilfe besteht.
Soweit der 3. Senat des BSG in seinem Urteil vom 24. Januar 1990 (SozR 3 – 2200 § 182 Nr 1) hormonelle Antikonzeptiva ausnahmsweise als verordnungsfähige Arzneimittel anerkannt hat, wenn sie mittelbar wirken, um gesundheitliche Auswirkungen des Hauptmittels zu verhindern, ist dieser Fall mit den hier zu lösenden Rechtsfragen nicht vergleichbar. Denn bei der Anwendung der an sich nicht als Arzneimittel verordnungsfähigen hormonellen Antikonzeptiva ging es lediglich darum, die möglichen Nebenwirkungen des zur Behandlung einer Hauterkrankung eingesetzten Mittels zu vermeiden. Im vorliegenden Falle wurde jedoch in einen regelrechten Körperzustand mit dem Risiko von Nebenschäden eingegriffen, um mittelbar auf eine psychische Störung einzuwirken.
Aber auch das Urteil des 3. Senats des BSG vom 6. August 1987 (BSGE 62, 83) zur geschlechtsangleichenden Operation bei Transsexualität spricht nicht für die Auffassung des Klägers, weil bei dieser Störung der Gesamtzustand des Patienten regelwidrig ist. Es besteht eine innere Spannung zwischen seinem körperlichen Geschlecht und der seelischen Identifizierung mit dem anderen Geschlecht. Die Spannung kann zu einem schweren Leidensdruck führen, so daß die Transsexualität im Einzelfalle eine behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne des Krankenversicherungsrechts darstellt. Nur wenn psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis nicht zu lindern oder zu beseitigen vermögen, gehört es nach Auffassung des BSG zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen, die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation zu tragen. Der Unterschied zum vorliegenden Fall liegt darin, daß die geschlechtsangleichende Operation in den genannten Ausnahmefällen – unabhängig von der Zustimmung des Transsexuellen zu einer psychiatrisch/psychotherapeutischen Behandlung – die einzige Möglichkeit der Hilfe darstellt.
Nach alledem waren das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen die klagabweisende Entscheidung des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1173362 |
BSGE, 96 |
NJW 1993, 2398 |