Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenerstattung für operative Beinverlängerung. psychische Erkrankung
Orientierungssatz
Ein Versicherter hat Anspruch auf Kostenerstattung für eine operative Beinverlängerung, wenn diese zwar nicht durch das Vorliegen eines regelwidrigen Körperzustands (hier: Körperlänge von 164 cm) gerechtfertigt ist, jedoch die einzig taugliche und dringend indizierte Maßnahme zur Behandlung einer schweren psychischen Erkrankung darstellt.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 31. Januar 1986 sowie der Bescheid der Beklagten vom 5. Dezember 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 1985 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten der beim Beigeladenen in den Jahren 1984 bis 1986 in Q-Stadt durchgeführten Distraktionsepiphyseolyse sowie die notwendigen Reisekosten in gesetzlichem Umfang zu erstatten.
II. Die Beklagte hat dem Kläger und dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist im wesentlichen, ob die Beklagte die Kosten einer beim Sohn des Klägers (Beigeladener) mit Unterbrechungen in der Zeit vom 6. Dezember 1984 bis 1986 in der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Akademie Q-Stadt durchgeführten Distraktionsepiphyseolyse, durch die eine Verlängerung der Körpergröße von 164 cm auf 178 cm erreicht wurde, zu übernehmen hat.
Der Kläger war zur fraglichen Zeit Pflichtmitglied der Beklagten. Der 1961 geborene Beigeladene war Student der Zahnmedizin und ohne eigenes Einkommen. Wegen eines ihn sehr belastenden minderen Körperwuchses wurde er von seinen Eltern seit 1976/77 wiederholt Ärzten der Universitätskinderklinik W-Stadt vorgestellt, die jedoch meinten, daß keine Besonderheiten vorlägen und der Beigeladene noch wachsen und mindestens 175 bis 178 cm groß werden würde. Im Alter von 19 Jahren betrug die Körpergröße aber nur etwa 154 cm. Der Beigeladene wurde deshalb und wegen einer erheblichen Entwicklungsverzögerung im Gesamterscheinungsbild mit ausgesprochen kindlichem Aussehen Mitte 1980 zur Behandlung an die Universitätsklinik E-Stadt, Abteilung für Endokrinologie, überwiesen, wo eine Störung der Zwischenhirn-Hirnanhangsdrüsen-Achse mit Verzögerung der Knochenreifung und der sexuellen Entwicklung festgestellt wurde. Durch eine verspätete hormonelle Behandlung u.a. durch Dr. QQ. konnte bis zum Jahre 1984 noch eine Körpergröße von 164 cm erreicht werden. Der Beigeladene litt jedoch zunehmend unter seinem äußeren Erscheinungsbild und unterbrach nach Ablegung des Physikums im Wintersemester 1983/84 aus gesundheitlichen Gründen mit Bescheinigung des Dr. QQ. sein Studium. Nachdem er von der Möglichkeit der operativen Beinverlängerung erfahren hatte, beschäftigte er sich nur noch mit diesem Thema. Am 18. Mai 1984 stellte er sich auf Anraten des Arztes für Orthopädie und Sportmedizin Dr. WW., W-Stadt, erstmals wegen einer Beinverlängerung nach der sowjetischen Ilisarov-Methode bei Prof. Dr. EE. in der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Akademie Q-Stadt vor, der meinte, daß der Beigeladene eine ausreichende Körpergröße habe, sicher noch 167 cm groß werde und ihm ebenso wie u.a. Dr. QQ. vergeblich von der Operation abriet sowie seine Entscheidung von dessen Beurteilung und der des behandelnden Psychiaters abhängig machte (Schreiben Dr. QQ. an Prof. Dr. EE. vom 27. August 1984 und 21. September 1984, Schreiben Prof. Dr. EE. an Dr. QQ. vom 11, September 1984). In einem Schreiben vom 8. Oktober 1984 an Prof. Dr. EE. äußerte sich Dr. Dipl. Psych. RR. von der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätskliniken E-Stadt dann dahin, daß der Beigeladene bei der zweimaligen Vorstellung psychisch sehr auffällig und völlig auf seine Körpergröße fixiert gewesen sei, und sogar mit Selbstmord gedroht habe. Eine prinzipiell sinnvolle psychotherapeutische Behandlung sei derzeit undurchführbar. Der vorgesehenen Operation werde deshalb voll zugestimmt. In einer Bescheinigung für die Beklagte vom 21. September 1984 bestätigte Dr. QQ., daß beim Beigeladenen wegen der geringen Körpergröße eine extreme psychische Beeinträchtigung vorliege. Dr. TT. von der Psychiatrischen Klinik der Universitätskliniken W-Stadt, wo der Beigeladene am 3., 4. und 7. September 1984 vorstellig geworden war, erklärte, daß der Beigeladene unter ausgeprägten depressiven Verstimmungen leide, für die er ausschließlich seinen relativen Minderwuchs verantwortlich mache. Prof. Dr. ZZ. und Dr. UU. vom Zentrum der Psychiatrie der Universitätskliniken E-Stadt vertraten in einer ausführlichen Stellungnahme vom 11. Dezember 1984 die Auffassung, daß die vorgesehene Distraktionsepiphyseolyse nach Ilisarov unbedingt vorgenommen und von der Beklagten bezahlt werden müsse, da es dazu keine realisierbare erfolgversprechende Alternative gebe. Der Beigeladene sei derzeit stark suizidgefährdet und leide unter zahlreichen chronischen psychosomatis...