Entscheidungsstichwort (Thema)
Ermittlung von Entgeltpunkten für nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit nachgezahlte freiwillige Beiträge bei Heiratserstattung. Rentenantragsfiktion
Leitsatz (amtlich)
1. Werden freiwillige Beiträge nach Eintritt des Leistungsfalls verminderter Erwerbsfähigkeit, aber während eines Beitragsverfahrens oder eines Verfahrens über einen Rentenanspruch gezahlt, so ist für die Ermittlung der Entgeltpunkte unerheblich, ob es sich um laufend gezahlte oder (aufgrund einer Sondernachentrichtungsvorschrift) nachentrichtete Beiträge handelt.
2. In diesem Sinne wird das Verfahren über einen Rentenanspruch auch durch die Rentenantragsfiktion bei Stellung eines Rehabilitationsantrags (§ 116 Abs 2 SGB 6) ausgelöst.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGB VI § 75 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Fassung: 1991-07-25, S. 2 Nr. 2 Fassung: 1991-07-25, § 116 Abs. 2, §§ 282, 44
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. März 1997 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung höherer Rente wegen EU unter Anrechnung der nach früherer Heiratserstattung nachgezahlten freiwilligen Beiträge für die Monate Januar 1956 bis März 1964.
Aufgrund ihres Antrags vom 7. November 1991 gewährte die Beklagte der Klägerin die vom 15. September bis 3. November 1992 durchgeführte medizinische Maßnahme zur Rehabilitation. Aufgrund ihres Antrags vom 13. November 1992 ließ die Beklagte die Klägerin durch Bescheid vom 12. Januar 1993 zur Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen für die Monate Januar 1956 bis März 1964 zu, für die eine Heiratserstattung durchgeführt worden war. Innerhalb der ihr gesetzten Zahlungsfrist entrichtete die Klägerin den Nachentrichtungsbetrag (Buchungstag: 2. Februar 1993 – laut Eingangsmitteilung vom 15. Februar 1993). Auf Ihren Antrag vom 8. Februar 1993 gewährte die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 23. Juni 1993 Rente wegen EU ab 4. November 1992 unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls vom 15. September 1992 (Beginn der Rehabilitationsmaßnahme). Bei der Berechnung der Rente ließ sie die nachgezahlten freiwilligen Beiträge wegen Heiratserstattung unberücksichtigt.
Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 1994). Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 6. Juli 1995 zur Berechnung der Rente der Klägerin unter Berücksichtigung der für die Zeit von Januar 1956 bis März 1964 nachgezahlten freiwilligen Beiträge verurteilt. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 14. März 1997) und zur Begründung ausgeführt: Der rentensteigernden Berücksichtigung der für Zeiten vor Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit am 15. September 1992 nachentrichteten Beiträge bei Berechnung der Rente wegen EU der Klägerin stehe nicht entgegen, daß gemäß § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI als Grundregel ua für freiwillige Beiträge, die nach Eintritt der für diese Rente maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden seien, Entgeltpunkte nicht ermittelt würden. Denn diese Regelung erfahre durch den nachfolgenden Abs 2 Satz 2 Nr 2 eine Einschränkung dahingehend, daß die freiwilligen Beiträge anrechenbar seien, sofern die Minderung der Erwerbsfähigkeit während eines Beitragsverfahrens oder eines Verfahrens über einen Rentenanspruch eingetreten sei. Ein solches Verfahren beginne mit Stellung des Rentenantrages (§ 115 Abs 1 SGB VI), bei Bewilligung erfolgloser medizinischer Maßnahmen zur Rehabilitation auch fiktiv gemäß § 116 Abs 2 SGB VI mit Stellung des Rehabilitationsantrags. Der Anwendungsbereich des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI umfasse nicht nur die Nachzahlung freiwilliger Beiträge gemäß §§ 197, 198 SGB VI, die für die Erhaltung der Anwartschaft auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erforderlich seien, sondern auch außerordentliche Möglichkeiten der Beitragsnachentrichtung, wie vorliegend die Nachentrichtung wegen Heiratserstattung gemäß § 282 SGB VI. Dies folge aus dem Wortlaut und der Systematik des § 75 Abs 2 SGB VI. Die Ausnahmeregelung des Abs 2 Satz 2 Nr 2 stelle generell und ohne Einschränkung auf „freiwillige Beiträge nach Satz 1 Nr 2” ab, umfasse ihrem Wortlaut nach daher alle Beitragsnachentrichtungen ungeachtet ihrer Rechtsgrundlage. Auch die Entstehungsgeschichte des § 75 Abs 2 SGB VI widerspreche dieser Auslegung nicht. Im Gesetzgebungsverfahren zum RRG 1992 habe sich die Einschränkung des Satzes 2 Nr 2 nur auf Verfahren bezogen, die nach § 198 SGB VI zur Fristenunterbrechung führten. Diese konkrete, auf die allgemeine Nachentrichtungsmöglichkeit des § 197 Abs 2 SGB VI abstellende und begrenzte Ausnahmeregelung sei jedoch durch Art 1 Nr 9 des Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S 1606) wieder gestrichen und dafür die umfassende derzeitige Ausnahmeregelung des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI normiert worden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Sie ist der Ansicht: Durch das RÜG sei lediglich klargestellt worden, daß die Ausnahmeregelung des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI nur zum Zuge kommen könne, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit während eines Beitrags- oder Rentenverfahrens eingetreten sei. Da eine weitergehende Änderung nicht beabsichtigt gewesen sei, sei weiterhin Voraussetzung, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit während eines Beitrags- oder Rentenverfahrens iS des § 198 SGB VI eingetreten sei. Da ein solches Verfahren aber nur die Frist des § 197 Abs 2 SGB VI unterbrechen könne, die sich nur auf laufend gezahlte, ordentliche freiwillige Beiträge beziehe, könne sich § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI auch nur auf solche freiwilligen Beiträge beziehen. Überdies sei die Umdeutung des Antrags auf Rehabilitation gemäß § 116 Abs 2 SGB VI in einen Rentenantrag im Rahmen des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI nicht zulässig.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. März 1997 und des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Juli 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Das SG hat zutreffend entschieden, daß der Berechnung der Rente wegen EU der Klägerin auch die für die Monate Januar 1956 bis März 1964 nachgezahlten freiwilligen Beiträge zugrunde zu legen sind.
Gemäß § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI werden bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für freiwillige Beiträge, die nach Eintritt der hierfür maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden sind, Entgeltpunkte nicht ermittelt. Dies gilt gemäß § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI nicht für freiwillige Beiträge nach Satz 1 Nr 2 der Vorschrift, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit während eines Beitragsverfahrens oder während eines Verfahrens über einen Rentenanspruch eingetreten ist. Die Klägerin hat freiwillige Beiträge nach Eintritt der maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt (1.). Sie erfüllt mithin die Voraussetzungen des Abs 2 Satz 1 Nr 2 des § 75 SGB VI. Die Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit ist aber auch während eines Verfahrens über einen Rentenanspruch iS des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI eingetreten, so daß für die freiwilligen Beiträge Entgeltpunkte zu ermitteln sind (2.).
1. § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI stellt allein auf den Zeitpunkt der Zahlung freiwilliger Beiträge ab. Die Vorschrift trifft keine Unterscheidung danach, ob es sich um laufende oder nachentrichtete Beiträge handelt. Darauf, daß § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI bis zur Rechtsänderung durch Art 1 Nr 9 RÜG für die Nichtermittlung von Entgeltpunkten auf freiwillige Beiträge abstellte, die nach Eintritt der hierfür maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit und nicht in einem Verfahren, das nach § 198 SGB VI zur Fristunterbrechung führt, gezahlt worden sind, kommt es nach dem heutigen Wortlaut der Vorschrift nicht mehr an. Die Formulierung, die § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI in der Neufassung durch das RÜG gefunden hat, läßt mehrere Deutungen der dort gebrauchten Worte – mithin eine andere Auslegungsmöglichkeit – nicht zu.
Damit sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt: Die Beklagte hat die Klägerin antragsgemäß mit Bescheid vom 12. Januar 1993 zur Beitragsnachzahlung zugelassen. Diese Beiträge hat die Klägerin umgehend (Buchungstag 2. Februar 1993) entrichtet (Eingangsmitteilung der Beklagten vom 15. Februar 1993). Da die Beklagte mit Rentenbescheid vom 23. Juni 1993 den Leistungsfall der EU auf den 15. September 1992 – Beginn der Rehabilitationsmaßnahme – festgelegt hat, liegt die Zahlung der freiwilligen Beiträge nach dem Eintritt der für die Rente maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit.
2. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist auch während eines Verfahrens über einen Rentenanspruch eingetreten. Ihr Rehabilitationsantrag datiert vom 7. November 1991, die Rentengewährung beruht auf einem Leistungsfall der EU vom 15. September 1992. Gemäß § 116 Abs 2 Nr 2 SGB VI gilt der Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation als Antrag auf Rente, wenn – wie vorliegend die Klägerin – der Versicherte erwerbsunfähig ist und Leistungen zur Rehabilitation nicht erfolgreich gewesen sind. Da die Antragsfiktion nach dem eindeutigen Wortlaut keine Einschränkung auf bestimmte Anwendungsbereiche findet, gilt sie auch im Rahmen des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI.
Auch der Normzweck läßt ein anderes Verständnis der Vorschrift nicht zu. § 116 Abs 2 SGB VI stellt sicher, daß sich die Rehabilitationsbereitschaft des Versicherten rentenrechtlich nicht nachteilig auswirken kann (vgl Begründung des RRG, BT-Drucks 11/4124 S 179 zu § 117 des Entwurfs). Den von dieser Vorschrift betroffenen Versicherten würde materiell-rechtlich (anstelle von Übergangsgeld) eine Rente zustehen, wenn ihnen die Rehabilitationsmaßnahme nicht bewilligt worden wäre (vgl BSG Urteile vom 29. November 1984 – 5b RJ 18/84 – SozR 2200 § 1241d Nr 8 und vom 30. September 1987 – 5b RJ 78/86 – SozR 2200 § 1241d Nr 12). Die Fiktion des § 116 Abs 2 SGB VI verwirklicht mithin in besonderer Weise den Grundsatz „Rehabilitation vor Rente” (BSG Urteil vom 25. Mai 1993 – 4 RA 26/91 – SozR 3-2200 § 1304a Nr 2). Zur Vermeidung von Nachteilen für Versicherte, die sich – wie die Klägerin – einer letztlich erfolglosen Rehabilitationsmaßnahme unterzogen haben, muß die Antragsfiktion daher auch dann gelten, wenn das Gesetz – wie in § 75 SGB VI – bei Gestaltungsrechten bzw für die Berücksichtigungsfähigkeit zulässig entrichteter freiwilliger Beiträge darauf abstellt, daß ein Verfahren über einen Rentenanspruch eingeleitet worden ist.
Mithin sind für die von der Klägerin gezahlten freiwilligen Beiträge von Januar 1956 bis März 1964 bei Berechnung ihrer Rente wegen EU abweichend von der Grundregel des § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI nach Satz 2 Nr 2 der Vorschrift Entgeltpunkte zu ermitteln.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175633 |
NZS 1998, 575 |
SozR 3-2600 § 75, Nr. 1 |
SozSi 1999, 299 |