Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 24.07.1997) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Juli 1997 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung höherer Rente wegen EU unter Anrechnung der nach früherer Heiratserstattung nachgezahlten Beiträge für die Monate April 1961 bis April 1965.
Aufgrund ihres im Oktober 1994 gestellten Antrags gewährte die Beklagte der seit dem 24. Januar 1995 arbeitsunfähig erkrankten Klägerin medizinische Leistungen zur Rehabilitation in Form eines vom 24. Januar bis 21. Februar 1995 durchgeführten Heilverfahrens. Im Dezember 1994 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Rentenauskunft und eines Versicherungsverlaufs. Beides erhielt sie nicht vor März/April 1995. Aufgrund ihrer Anträge vom 28. März 1995 ließ die Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 16. August 1995 zur Nachzahlung freiwilliger Beiträge nach früherer Heiratserstattung für die Monate April 1961 bis April 1965 zu und gewährte ihr mit Bescheid vom 6. Oktober 1995 Rente wegen EU nach einem am 24. Januar 1995 eingetretenen Leistungsfall. Die am 28. August 1995 (Buchungstag) nachgezahlten freiwilligen Beiträge, über die die Beklagte der Klägerin die Beitragsbescheinigung vom 21. September 1995 ausstellte, blieben bei der Rentenberechnung unberücksichtigt.
Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 2. April 1996; Urteil des SG vom 12. November 1996). Durch Urteil vom 24. Juli 1997 hat das LSG die Beklagte unter Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils und Änderung des Rentenbescheids verurteilt, die der Klägerin gewährte Rente wegen EU unter Berücksichtigung der laut Bescheid vom 16. August 1995 nachgezahlten freiwilligen Beiträge neu zu berechnen. Zur Begründung hat es ausgeführt: § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI schließe die Berücksichtigung der von der Klägerin nach vorausgegangener Heiratserstattung nachgezahlten Beiträge nicht aus. Denn nach Satz 2 Nr 2 dieser Vorschrift, der auch in Fällen der Nachzahlung gemäß § 282 SGB VI Anwendung finde, seien die während eines Beitrags- oder Rentenverfahrens entrichteten freiwilligen Beiträge von dem Ausschluß der Anrechnung ausgenommen. Der Anwendungsbereich des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI weiche nach seinem eindeutigen Wortlaut nicht von dem des Satz 1 Nr 2 der Vorschrift ab; denn § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI beziehe sich ausdrücklich auf „freiwillige Beiträge nach Satz 1 Nr 2”. Dies könne nur so verstanden werden, daß freiwillige Beiträge iS von § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI stets auch freiwillige Beiträge iS von § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI seien. Der Versicherungsfall vom 24. Januar 1995 sei aber während eines schwebenden Beitragsverfahrens eingetreten. Die Klägerin habe nämlich im Dezember 1994 eine Rentenauskunft sowie die Übersendung eines Versicherungsverlaufs von der Beklagten erbeten, beides jedoch zum Zeitpunkt des Eintritts der EU im Januar 1995 noch nicht erhalten. Das diesbezügliche Verfahren sei ein Beitragsverfahren gewesen. Der Begriff des Beitragsverfahrens sei weit auszulegen. Er erfasse sowohl die von der Klägerin begehrte Kontenklärung als auch die erbetene Rentenauskunft, da diese Entscheidungsgrundlage für die Nachzahlung freiwilliger Beiträge sein könnten. Zudem habe die Klägerin im Oktober 1994 bei der Beklagten einen Rehabilitationsantrag gestellt, der jedenfalls nach dem im Antrag auf Rentenauskunft enthaltenen Hinweis auf eine mögliche Minderung der Erwebsfähigkeit auch einen Rentenantrag iS von § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI darstelle.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Sie trägt vor: Zwar habe wegen des im Dezember 1994 gestellten Antrags auf Rentenauskunft ein schwebendes „Beitragsverfahren” vorgelegen. Die nach § 282 SGB VI entrichteten Beiträge könnten jedoch bei der Rente wegen EU nicht berücksichtigt werden. Denn diese seien nach dem Eintritt der für die zu berechnenden Rente maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden. Nach dem Sinn der Vorschrift könnten die Beiträge auch nicht gemäß § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI Anrechnung finden. Dies ergebe sich aus der ursprünglichen Fassung der Vorschrift, die sich ausdrücklich auf §§ 197, 198 SGB VI bezogen habe. § 197 Abs 2 SGB VI normiere aber eine Frist, wonach „freiwillige Beiträge” wirksam seien, wenn sie bis zum 31. März des Jahres, das dem Jahre folge, für das sie gelten sollten, gezahlt würden. Mit dieser Fristsetzung hätten nachgezahlte Beiträge aufgrund von Sondervorschriften – wie vorliegend nach § 282 SGB VI – nichts zu tun. Die Änderung der Vorschrift durch das RÜG berücksichtige lediglich die neuere Rechtsprechung des BSG. Obwohl der Wortlaut des § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI den Ausschluß der Entgeltpunkte-Ermittlung nicht mehr wörtlich nur auf Beiträge beziehe, die nicht in einem Verfahren gezahlt würden, das nach § 198 SGB VI zur Fristunterbrechung geführt habe, könne die maßgebende Regelung in der seit dem RÜG geltenden Fassung zu keinem anderen Ergebnis führen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Juli 1997 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 12. November 1996 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Berechnung der Rente wegen EU der Klägerin auch die für die Monate April 1961 bis April 1965 nachgezahlten freiwilligen Beiträge zugrunde zu legen sind.
Gemäß § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI werden bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für freiwillige Beiträge, die nach Eintritt der hierfür maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt worden sind, Entgeltpunkte nicht ermittelt. Dies gilt gemäß § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI nicht für freiwillige Beiträge nach Satz 1 Nr 2, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit während eines Beitragsverfahrens oder während eines Verfahrens über einen Rentenanspruch eingetreten ist. Die Klägerin hat freiwillige Beiträge nach Eintritt der maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt (1.). Sie erfüllt mithin die Voraussetzungen des Abs 2 Satz 1 Nr 2 des § 75 SGB VI. Die Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit ist aber während eines „Beitragsverfahrens” iS des § 75 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI eingetreten, so daß für die freiwilligen Beiträge Entgeltpunkte zu ermitteln sind (2.).
1. § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI stellt allein auf den Zeitpunkt der Zahlung freiwilliger Beiträge ab. Die Vorschrift trifft keine Unterscheidung danach, ob es sich um laufende oder nachentrichtete Beiträge handelt. Darauf, daß § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI bis zur Rechtsänderung durch Art 1 Nr 9 RÜG für die Nichtermittlung von Entgeltpunkten auf freiwillige Beiträge abstellte, die nach Eintritt der hierfür maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit und nicht in einem Verfahren, das nach § 198 SGB VI zur Fristunterbrechung führt, gezahlt worden sind, kommt es nach dem heutigen Wortlaut der Vorschrift nicht mehr an. Die Formulierung, die § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI in der Neufassung durch das RÜG gefunden hat, läßt mehrere Deutungen der dort gebrauchten Worte – mithin eine andere Auslegungsmöglichkeit – nicht zu.
Damit sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt: Die Beklagte hat die Klägerin antragsgemäß mit Bescheid vom 16. August 1995 zur Beitragsnachzahlung zugelassen. Diese Beiträge hat die Klägerin umgehend (Buchungstag 28. August 1995) entrichtet, und die Beklagte hat ihr die Beitragsbescheinigung vom 21. September 1995 ausgestellt. Da die Beklagte mit Rentenbescheid vom 6. Oktober 1995 den Leistungsfall der EU auf den 24. Januar 1995 – Beginn dauernder Arbeitsunfähigkeit – festgelegt hat, liegt die Zahlung der freiwilligen Beiträge nach dem Eintritt der für die Rente maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit.
2. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist auch während eines Beitragsverfahrens eingetreten. Denn die Klägerin hat im Dezember 1994 einen Antrag auf Kontenklärung und Rentenauskunft gestellt. Dies reicht auch nach Ansicht der Beklagten aus, um von einem schwebenden „Beitragsverfahren” auszugehen. Dieser Begriff ist – wie das LSG zutreffend ausgeführt hat – weit auszulegen. Er erfaßt sowohl die von der Klägerin erbetene Kontenklärung als auch die Rentenauskunft, da diese Entscheidungsgrundlage für die Nachzahlung freiwilliger Beiträge sein können (Kasseler Komm-Peters, RdNr 5 zu § 198).
Mithin sind für die von der Klägerin gezahlten freiwilligen Beiträge von April 1961 bis April 1965 bei der Berechnung ihrer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit abweichend von der Grundregel des § 75 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI nach Satz 2 Nr 2 der Vorschrift Entgeltpunkte zu ermitteln.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175646 |
SGb 1998, 362 |