Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegeversicherung. gesetzliches Verbot bezüglich Vertragsabschluß mit Haushaltsangehörigen ist verfassungsgemäß. kein Herstellungs-, Folgenbeseitigungs- oder Schadensersatzanspruch bei Weigerung bezüglich Vertragsabschlusses vor Inkrafttreten des Verbots. Leistungsklage
Leitsatz (amtlich)
1. Das gesetzliche Verbot, Verträge zwischen Pflegekassen und Haushaltsangehörigen eines Pflegebedürftigen über die entgeltliche Erbringung von Pflegeleistungen abzuschließen, ist auch dann verfassungsgemäß, wenn die Pflegeperson eine ausgebildete Pflegekraft ist.
2. Die bereits vor Inkrafttreten des ausdrücklichen Verbots ausgesprochene Weigerung einer Pflegekasse, einen solchen Vertrag abzuschließen, begründet keine Herstellungs-, Folgenbeseitigungs- oder Schadensersatzansprüche.
Orientierungssatz
Die Klage auf Abschluß eines Vertrages nach § 77 Abs 1 SGB 11 ist auf Verurteilung zur Abgabe einer Willenserklärung gerichtet und als Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG auszulegen.
Normenkette
SGB XI § 77 Abs. 1, § 71 Abs. 1, 3 S. 1; GG Art 6 Abs. 1; GG Art 3 Abs. 1; GG Art 12 Abs. 1; SGG § 54 Abs. 5
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin ist von Beruf Kinderkrankenschwester und pflegt, unter gelegentlicher Beiziehung eines Pflegedienstes, ihren beigeladenen Ehemann, der an fortgeschrittenem Morbus Parkinson sowie einem Zustand nach Herzinfarkt leidet. Von der beklagten Pflegekasse erhält der Ehemann der Klägerin Kombinationsleistungen nach Pflegestufe III des Sozialgesetzbuches Elftes Buch (SGB XI).
Zum 1. April 1995 beantragte die Klägerin bei der Beklagten den Abschluß eines Vertrages über die Erbringung von Pflegeleistungen für ihren Ehemann. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 15. Mai 1995), da Angehörige als Vertragspartner nicht in Betracht kämen. Die Klägerin legte dagegen Widerspruch ein und erhob - nachdem der Erlaß eines Widerspruchsbescheides abgelehnt worden war - am 26. Februar 1997 Klage. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage wegen Versäumung der Klagefrist abgewiesen (Urteil vom 21. April 1997), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 26. März 1998). Das LSG hat ausgeführt, die Klagefrist sei zwar mangels Widerspruchsbescheides nicht versäumt, ein solcher wegen mehrfacher Ablehnung eines Vertragsabschlusses durch die Beklagte im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren aber auch nicht mehr erforderlich. Die Klage sei jedoch unbegründet, weil die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gültige Neufassung des § 77 Abs 1 SGB XI maßgeblich und danach Verträge mit Angehörigen des Pflegebedürftigen unzulässig seien; das habe dem gesetzgeberischen Willen auch schon vor der Neufassung entsprochen. Das Selbstbestimmungsrecht des Pflegebedürftigen finde an dieser Bestimmung seine Grenze. Ein Verstoß gegen Art 3 Grundgesetz (GG) liege nicht vor.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Anzuwenden sei entsprechend der Antragstellung und Aufnahme der Pflege die ursprüngliche weitere Fassung der Vorschrift. Die Pflege solle nach dem SGB XI möglichst wohnortnah, auf privater Basis, in einem engen Vertrauensverhältnis mit dem Pflegebedürftigen und wirtschaftlich durchgeführt werden. Da sie, die Klägerin, ausgebildete Kinderkrankenschwester sei, scheide auch ein Mißbrauch der Vertragsform aus. In dem Ausschluß Angehöriger aus dem Vertragsmodell liege ein Verstoß gegen die Art 3 und 6 GG.
Die Klägerin und der Beigeladene beantragen,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. März 1998 sowie das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 21. April 1997 und den Bescheid vom 15. Mai 1995 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, rückwirkend ab 1. April 1995 mit ihr als geeigneter Pflegekraft einen Vertrag zur Sicherstellung der häuslichen Pflege ihres Ehemannes zu schließen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Abschluß eines Pflegevertrages verneint.
1. Von Amts wegen zu beachtende Hindernisse für eine Sachentscheidung liegen nicht vor. Die Klage ist ohne Einhaltung einer Frist zulässig. Das Begehren der Klägerin zielt darauf ab, daß die Beklagte zum Abschluß eines Vertrages mit ihr als Einzelperson zur Pflege ihres Ehemannes nach § 77 Abs 1 SGB XI verurteilt wird, und zwar rückwirkend zum 1. April 1995. Die Klage ist damit auf Verurteilung zur Abgabe einer Willenserklärung gerichtet und als Leistungsklage nach § 54 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszulegen, weil die Klägerin einen Rechtsanspruch auf Abgabe eines Vertragsangebots und damit eine Schrumpfung des in § 77 Abs 1 Satz 1 SGG geregelten Ermessens der Beklagten (Leitherer in Kasseler Komm, Stand Juni 1998, SGB XI, § 77 RdNr 17; Spellbrink in Hauck/Wilde, SGB XI, Stand September 1997, § 77 RdNr 8; Spinnarke in LPK-SGB XI, 1998, SGB XI, § 77 RdNr 6; Udsching, SGB XI, 1995, § 77 RdNr 3) behauptet, was für die Klagebefugnis genügt (BSG SozR 1200 § 48 Nr 12).
Ein Verwaltungsakt hatte nicht zu ergehen. Die Verweigerung des Abschlusses eines Vertrages mit einer einzelnen Pflegekraft über die Erbringung von Pflegeleistungen bei häuslicher Pflege nach § 77 Abs 1 SGB XI ist ebenso wie die Kündigung eines solchen Vertrages (vgl dazu Urteil des Senats vom 18. März 1999 - B 3 P 9/98 R - zur Veröffentlichung vorgesehen) kein Verwaltungsakt, weil ein öffentlich-rechtlicher Status damit nicht verbunden ist. Das ist im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich klargestellt worden (BT-Drucks 12/5262, S 140 zu § 86 Abs 1 des Entwurfs). Auch Gesichtspunkte eines effektiven Rechtsschutzes gebieten eine solche Einordnung nicht.
2. Die Leistungsklage ist unbegründet. Die Beklagte hat zu Recht den Abschluß eines Pflegevertrages mit der Klägerin zum 1. April 1995 abgelehnt, weil schon die Voraussetzungen für das in § 77 Abs 1 Satz 1 SGB XI eingeräumte pflichtgemäße Ermessen nicht vorliegen und auch nicht vorgelegen haben. Deshalb kann sowohl offenbleiben, ob hier - anders als bei der Klage auf einen statusgewährenden Verwaltungsakt (insoweit verneinend BSGE 78, 243, 248 = SozR 3-2500 § 109 Nr 2) - überhaupt ein rückwirkender Vertragsabschluß in Betracht kommen könnte, als auch, ob es sich um einen privat- oder öffentlich-rechtlichen Vertrag handeln würde (vgl etwa Wigge in Wannagat, Sozialgesetzbuch, Soziale Pflegeversicherung, Stand Februar 1996, § 77 RdNr 6 einer- und Spellbrink, aaO, RdNr 17 andererseits, sowie die Rechtsprechung des Senats, wonach in der gesetzlichen Krankenversicherung Verträge mit nichtärztlichen Leistungserbringern dem privaten Recht zuzuordnen sind - BSG SozR 3-2500 § 125 Nr 5).
Durch das 1. Änderungsgesetz zum SGB XI (1. SGB XI-ÄndG) vom 14. Juni 1996 (BGBl I, 830) hat der Gesetzgeber in § 77 Abs 1 Satz 1 2. Halbsatz SGB XI mit Wirkung vom 25. Juni 1996 das gesetzliche Verbot eingefügt, zur Sicherstellung der Pflege Verträge zwischen einer Pflegekasse einerseits und Verwandten, Verschwägerten oder Haushaltsangehörigen andererseits abzuschließen. Die Klägerin ist als Ehefrau mit dem Pflegebedürftigen nicht verwandt und nicht verschwägert (vgl §§ 1589, 1590 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫); sie ist aber als Haushaltsangehörige von der Regelung erfaßt. Entgegen der von der Klägerin im Revisionsverfahren vertretenen Auffassung ist das Verbot des Vertragsschlusses mit pflegenden Angehörigen nach § 77 Abs 1 Satz 1 SGB XI nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Vertrag und die hiermit bewirkte Erhöhung des Leistungsrahmens einen offensichtlichen Mißbrauch des Leistungsrechts der Pflegeversicherung darstellen. Die vom Gesetzgeber als bloße Klarstellung verstandene Regelung wurde damit begründet, daß hierdurch ganz allgemein "eine Umgehung des Anspruchs auf Pflegegeld (§ 37) und damit eine Überschreitung des Finanzrahmens der Pflegeversicherung verhindert" (BT-Drucks 13/3696, 16, zu § 77, Buchstabe a) werden solle, also ohne daß es zusätzlich davon abhängen sollte, ob es sich um "Laienpflege" handelt oder etwa ein Mißverhältnis zwischen Pflegeleistung und Vergütung festzustellen ist.
Die Regelung ist nicht verfassungswidrig. Im Hinblick auf Art 12 Abs 1 GG stellt sie sich für die Klägerin als Eingriff von nur sehr geringer Intensität dar. Denn der Klägerin ist es nach wie vor nicht verwehrt, ihren eigentlichen - zuletzt allerdings nicht mehr praktizierten - Beruf einer gelernten Kinderkrankenschwester auszuüben. Die Klägerin ist auch nicht rechtlich gehindert, als "geeignete Pflegekraft" - das ist sie als Kinderkrankenschwester ohne weiteres (vgl § 71 Abs 3 Satz 1 SGB XI) - mit einer Pflegekasse einen Vertrag zur Erbringung erwerbsmäßiger Pflegeleistungen für Dritte nach § 77 Abs 1 SGB XI zu schließen und entsprechend tätig zu werden. Der Klägerin ist es lediglich versagt, einen Vertrag nach § 77 Abs 1 SGB XI in bezug auf wenige Personen - darunter ihren Ehemann - abzuschließen, auf diesem Wege "erwerbsmäßig" zu pflegen und so - anstelle des Pflegegeldes - die höher bemessenen Vergütungen für erwerbsmäßig erbrachte Pflegeleistungen gemäß § 36 Abs 3 SGB XI zu erlangen. Es handelt sich mithin um eine Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit lediglich in einer gewünschten Form. Die Klägerin unterscheidet sich von den allgemein von der erwerbsmäßigen Verwandten- und Haushaltsangehörigenpflege ausgeschlossenen Personen allerdings dadurch, daß sie einen Pflegeberuf erlernt hat und deshalb fachlich qualifiziert ist. Von dem Fall etwa einer Zulassung nach Bedarf, die wegen der Versicherungspflicht von 90 % der Bevölkerung einer objektiven Zugangssperre nahekäme (Neumann in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 4, Pflegeversicherungsrecht, 1997, § 21 RdNr 38), ist der vorliegende Fall aber weit entfernt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 85, 248, 259 - stRspr) genügen zur Rechtfertigung einer Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit "alle vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls, die den Berufstätigen nicht übermäßig und unzumutbar treffen". Derartige Gründe liegen hier vor.
Durch die mit dem 1. SGB XI-ÄndG vorgenommene Novellierung des § 77 Abs 1 SGB XI wollte der Gesetzgeber die zunehmend zu beobachtende Gefahr einer Umgehung der von ihm vorgesehenen Grundkonzeption unterbinden, bei einer Sicherstellung der Pflege durch vom Pflegebedürftigen selbstbeschaffte Pflegepersonen als Leistung der Pflegeversicherung nur Pflegegeld, nicht aber Pflegesachleistung zu gewähren (vgl BT-Drucks 13/3696, S 16). Gerade die Einbeziehung der Familien- und Haushaltsangehörigen als vertragliche Pflegekräfte in die Pflegesachleistung, die nach der ursprünglichen Fassung des § 77 Abs 1 SGB XI nicht ausdrücklich ausgeschlossen war, sah der Gesetzgeber als Gefährdung der Finanzierung der Pflegeversicherung an; diese Möglichkeit war bei der ursprünglichen Kalkulation der Gesamtkosten nicht in Erwägung gezogen worden (vgl hierzu Urteil des Senats vom 18. März 1999, B 3 P 9/98 R, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Der generelle Ausschluß der Angehörigenpflege ist durch nachvollziehbare Gründe des Gemeinwohlinteresses am Bestehen und der Finanzierbarkeit einer sozialen Pflegeversicherung gerechtfertigt. Der Gesetzgeber durfte bei der Konzeption der Pflegeversicherung davon ausgehen, daß die von Angehörigen erbrachten Pflegeleistungen nicht in demselben Umfang vergütet werden müssen wie die Pflege durch Pflegedienste oder in Pflegeheimen. Zum einen sind Ehegatten untereinander (gemäß § 1353 BGB) sowie Eltern und Kinder gegenseitig (gemäß § 1618a BGB) zur Beistandsleistung gesetzlich verpflichtet. Zum anderen entspricht die Pflege von Angehörigen auch einer sittlichen Pflicht. Die Verwaltungsgerichte sind in bezug auf den sozialhilferechtlichen Anspruch auf Pflege in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, daß eine Vergütung auch für solche Familienangehörige nicht in Betracht kommt, die über eine entsprechende Qualifikation, etwa zur Pflege von Schwerstpflegebedürftigen, verfügen (vgl BVerwGE 90, 217, 219 sowie Buchholz 436.0 § 69 BSHG Nr 15). Dies veranlaßte den Gesetzgeber, mit dem Pflegegeld für die "ehrenamtliche" Pflege (vgl BT-Drucks 12/5262, S 101) durch Angehörige lediglich eine finanzielle Anerkennung vorzusehen, die durch die soziale Absicherung der Pflegeperson in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung ergänzt wird (§ 44 SGB XI). Angesichts des begrenzten Finanzbudgets, das für die Pflegeversicherung zur Verfügung gestellt werden konnte, erschien eine umfassende Versorgung von Pflegefällen allein aus der Pflegeversicherung ohnehin nicht durchführbar (vgl hierzu im einzelnen Urteil des erkennenden Senats vom 19. Februar 1998, B 3 P 3/97 R, BSGE 82, 27, 35 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2). Dies wird im Hinblick auf die Leistungen bei häuslicher Pflege insbesondere aus § 4 Abs 2 Satz 1 SGB XI deutlich: Die Vorschrift stellt klar, daß die Leistungen bei häuslicher und teilstationärer Pflege gegenüber der fortbestehenden Notwendigkeit von Pflegeleistungen durch Familienangehörige, Nachbarn oder sonstige ehrenamtliche Pflegekräfte nur eine ergänzende Funktion haben.
Das Verbot des Vertragsschlusses mit Familienangehörigen ist auch in denjenigen Fällen nicht unverhältnismäßig, in denen Pflegeleistungen, wie hier, wegen der besonderen Fachkenntnisse in einer Qualität erbracht werden, die bei laienhafter Hilfe regelmäßig nicht erreicht wird. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, für Einzelfälle, in denen eine abweichende Regelung vertretbar wäre, Ausnahmen vorzunehmen (BVerfGE 77, 308, 338; 79, 87, 100). Der tragende Grund für die besondere Regelung der Angehörigenpflege gilt auch hier: Auch bei einer fachlich qualifizierten Pflege eines Familienangehörigen ändert sich nichts daran, daß ihr eine familienrechtliche oder sittliche Verpflichtung zugrunde liegt, die unentgeltlich zu erfüllen ist. Auch in diesem Fall wird der pflegende Familienangehörige aufgrund des Leistungssystems der Pflegeversicherung nicht verpflichtet, die Pflege über das familienrechtlich Zumutbare hinaus zu erbringen. Durch das Verbot, einen Vertrag mit der Pflegekasse abzuschließen, wird er keineswegs an der Pflege gehindert. Dem Wunsch des Pflegebedürftigen, von der Ehefrau gepflegt zu werden, steht von Gesetzes wegen nichts entgegen. Damit wird seinem Selbstbestimmungsrecht hinreichend Rechnung getragen. Die Pflegeversicherung stellt allerdings für die Angehörigenpflege nur das Pflegegeld zur Verfügung, das zwar hinter einer angemessenen Vergütung für eine erwerbsmäßige Pflege zurückbleibt, aber gleichwohl eine materielle Anerkennung der Pflegetätigkeit ermöglicht. Der Pflegebedürftige wird dadurch in die Lage versetzt, dieses Geld an die Pflegeperson weiterzugeben, um seine Anerkennung auszudrücken und die Bereitschaft der Pflegeperson zu weiterer Pflege zu fördern. Auch die Klägerin kann darauf zumutbar verwiesen werden.
Soweit die Klägerin einen Verstoß der gesetzlichen Regelung gegen das Schutzgebot für Ehe und Familie in Art 6 Abs 1 GG geltend macht, ist darauf hinzuweisen, daß sich das Verbot nicht auf Ehegatten und Familienangehörige beschränkt, sondern neben Verwandten und Verschwägerten bis zum dritten Grade alle Personen einbezieht, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben. Aber selbst wenn es in diesem Zusammenhang als ausreichend angesehen würde, daß jedenfalls in erster Linie Ehegatten oder Eltern und Kinder betroffen sind (sog versteckte Diskriminierung), gewährt das verfassungsrechtliche Schutzgebot für Ehe und Familie als solches keinen Anspruch auf Leistungen (BVerfGE 39, 316, 326; BSGE 69, 95, 99 = SozR 3-7833 § 7 Nr 1; zum Sonderfall des Kindergeldes als Leistung zur Gewährleistung des steuerrechtlichen Existenzminimums vgl BVerfG vom 10. November 1998 - 2 BvL 42/93 = BStBl II 1999, 174), und damit auch keinen Anspruch darauf, anstelle eines Pflegegeldes die übliche Vergütung für erwerbsmäßige Pflegeleistungen an den Ehegatten zu zahlen. Ein solcher Anspruch könnte sich nur unter dem besonderen Aspekt des Benachteiligungsverbots von Ehe und Familie gegenüber sonstigen gesellschaftlichen Gruppen und damit als Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art 3 Abs 1 GG ergeben. Dieser ist aber ebenfalls nicht verletzt. Zwischen der Gruppe der pflegenden Angehörigen und mit dem Pflegebedürftigen in Hausgemeinschaft lebenden Personen einerseits sowie derjenigen der externen professionellen Pflegekräfte andererseits bestehen die oben dargestellten Unterschiede, die eine Ungleichbehandlung sachlich rechtfertigen (vgl BVerfGE 55, 72, 88), auch wenn im Einzelfall ein nicht professionell Pflegender über berufliche Pflegekenntnisse verfügt (vgl zum Ganzen auch die Entscheidung des Senats vom gleichen Tage, B 3 P 9/98 R, zur Veröffentlichung vorgesehen).
3. Auch wenn das ausdrückliche gesetzliche Verbot zum Vertragsabschluß mit Verwandten, Verschwägerten oder sonstigen Haushaltsangehörigen erst am 25. Juni 1996 in Kraft getreten ist, zum Zeitpunkt des Vertragsangebotes der Klägerin mithin noch nicht bestanden hat, kommt ein (rückwirkender) Vertragsabschluß mit der Klägerin nicht mehr in Betracht. Ohnehin könnte die Verurteilung der Beklagten zu einem rückwirkenden Vertragsabschluß nur darauf hinauslaufen, die Klägerin im wirtschaftlichen Ergebnis so zu stellen, wie wenn von Anfang an vertragliche Beziehungen bestanden hätten; vertragliche Beziehungen als Dauerschuldverhältnis mit gegenseitigen Rechten und Pflichten lassen sich infolge des Zeitablaufs hingegen nicht rückwirkend herstellen. Es handelt sich somit um ein Begehren auf Behebung der Folgen einer gesetzeswidrigen Weigerung, mit der Klägerin rechtzeitig einen Pflegevertrag abzuschließen. Als Anspruchsgrundlagen kommen dafür ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, ein Anspruch auf Folgenbeseitigung oder ein Anspruch auf Schadensersatz in Betracht. Alle diese Anspruchsgrundlagen setzen aber zumindest voraus, daß sich die Beklagte rechtswidrig verhalten hat.
Die Ablehnung der Beklagten, einen Vertrag mit der Klägerin abzuschließen, erweist sich indessen schon nach altem Recht, auch ohne ausdrückliches gesetzliches Verbot, als rechtmäßig (vgl SG Kassel, Urteil vom 13. März 1996, S 12 P 8/95 = RsDE 34, 106, 111; für Mißbrauchsfälle auch Spellbrink, aaO, Stand März 1996, § 77 RdNr 11 mit Fn 10); die Gesetzesänderung kann insoweit nur als Klarstellung für die Zukunft und als nachträgliche Bestätigung für die Vergangenheit verstanden werden. Dem steht auch nicht entgegen, daß es in der Vergangenheit mit einigen Pflegekassen zu Vertragsabschlüssen, wie von der Klägerin begehrt, gekommen ist; diese stellen sich in der rückschauenden Betrachtung ebenfalls als rechtswidrig dar.
Die Unzulässigkeit des begehrten Vertragsabschlusses ergab sich auch vor der Gesetzesänderung bei systematischer Auslegung des Gesetzes aus der oben geschilderten Zweigleisigkeit von vorrangiger familiärer, verwandtschaftlicher, hausgemeinschaftlicher, nachbarschaftlicher und sonstiger ehrenamtlicher Pflege auf der Basis der Unentgeltlichkeit mit der niedrigeren Pflegegeldleistung einerseits sowie der ergänzenden professionellen Pflege mit weitaus höherer Sachleistungsausstattung andererseits. Diese Zweigleisigkeit war bereits in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes gezielt angelegt und durchgehalten. Sie beruht auf einer bewußten Anknüpfung des Gesetzgebers an die im Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) geregelten Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit (§§ 53 ff SGB V aF), die als Sachleistung häusliche Pflegehilfe als Ergänzung der häuslichen Pflege sowie anstelle dieser Leistung bei durch den Pflegebedürftigen selbst sichergestellter Pflege ein Pflegegeld vorsahen. Zwar konnte die Krankenkasse nach § 132 Abs 1 Satz 2 SGB V aF für die häusliche Pflegehilfe anstelle eigenen Personals bereits andere geeignete Personen, Einrichtungen oder Unternehmen in Anspruch nehmen, mit denen über die zu erbringenden Leistungen Verträge abzuschließen waren; Verträge mit pflegenden Angehörigen wurden im Gesetzgebungsverfahren aber von vornherein nicht in Erwägung gezogen. Auch die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 81 SGB XI (jetzt § 72), die auf die bisherige Regelung hinweist, erwähnt diese Möglichkeit nicht (vgl BR-Drucks 505/93 S 135), weil es bis dahin keinem Zweifel unterlag, daß für eine Angehörigenpflege nur die Zahlung von Pflegegeld in Betracht kam. Das sog Arbeitgebermodell, das im Sozialhilferecht (vgl die bereits oben erwähnte Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte) und in der Kriegsopferversorgung anerkannt ist (vgl § 35 Abs 2 Bundesversorgungsgesetz), wird nicht auf Familienangehörige erstreckt. In der Rechtsprechung ist es nur ausnahmsweise im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung gebilligt worden (vgl BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 6). Die Begründung des Entwurfs zu § 86 SGB XI (jetzt § 77), mit dem die häusliche Pflege durch Einzelpersonen nunmehr gesondert und abweichend von der Pflege durch Pflegeeinrichtungen geregelt werden sollte, läßt erkennen, daß diese Möglichkeit nur dazu dienen sollte, die Versorgungsangebote der ambulanten Pflegeeinrichtungen zu ergänzen, um den Sicherstellungsauftrag erfüllen zu können; dasselbe gilt für die Zulässigkeit der Anstellung eigener Pflegekräfte (vgl BR-Drucks 505/93 S 140). Damit sollte die Pflegekasse ihrer Sachleistungspflicht auch für den Fall nachkommen können, daß geeignete Pflegeeinrichtungen nicht zur Verfügung standen. Dieser in § 69 SGB XI und in der Gesetzessystematik hinreichend zum Ausdruck gekommene Regelungszweck schloß es von Anfang an aus, diese Möglichkeit der Vertragsgestaltung in Anspruch zu nehmen, um anstelle des für die selbst sichergestellte Angehörigenpflege vorgesehenen Pflegegeldes die höhere Vergütung als Leistungserbringer zu erhalten, weil von einer Gefährdung des Sicherstellungsauftrages hier nicht die Rede sein kann. Die Entscheidung der Beklagten, den Vertragsschluß abzulehnen, war danach von Anfang an rechtlich geboten; ein Ermessen stand ihr nicht zu, so daß sich die Frage der rechtmäßigen Ermessensausübung nicht stellt.
Der Gesetzgeber hat allerdings nachträglich unter bestimmten Voraussetzungen abgeschlossenen Verträgen, soweit damit Beschäftigungsverhältnisse begründet worden waren, Bestandsschutz in der Weise eingeräumt, daß er deren Weiterbestehen duldet (vgl § 77 Abs 1 Satz 5 SGB XI idF des 1. SGB XI-ÄndG), während alle anderen Verträge so bald wie möglich zu kündigen waren. Damit hat er aber nur dem Umstand Rechnung getragen, daß im Rahmen der Sozialhilfe, deren Leistungen zum Teil von der Pflegeversicherung übernommen worden sind, die Möglichkeit des Pflegebedürftigen anerkannt war, selbst mit Pflegekräften Arbeitsverträge abzuschließen, deren Kosten erstattet wurden. Soweit Pflegekassen diese Praxis fortgesetzt hatten, sollte es damit sein Bewenden haben. Daraus kann nur gefolgert werden, daß das Vertrauen der Betroffenen auf die Rechtmäßigkeit eines nicht der objektiven Gesetzeslage entsprechenden Verwaltungshandelns der Pflegekassen als schutzwürdig anerkannt worden ist, nicht aber, daß diese Praxis der Gesetzeslage entsprochen hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 2000, 1813 |
NZS 2000, 35 |
RsDE 2000, 54 |
SGb 1999, 354 |
SozR 3-3300 § 77, Nr. 1 |
Breith. 1999, 1004 |
KVuSR 2001, 81 |
SozSi 2000, 66 |