Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegeversicherung. Kündigung. Vertrag mit Haushaltsangehörigen. Verfassungsmäßigkeit. Begriff des Versorgungsvertrages. Beschäftigungsverhältnis
Leitsatz (amtlich)
1. Die gesetzliche Verpflichtung der Pflegekassen, Verträge über Leistungen der häuslichen Pflege zu kündigen, die sie mit Haushaltsangehörigen des Pflegebedürftigen geschlossen haben, ist verfassungsgemäß.
2. Zur rechtlichen Qualität einer solchen Kündigung.
Orientierungssatz
1. Der Begriff des Versorgungsvertrages wird im SGB 11 wie auch im SGB 5 für Verträge verwendet, die wegen ihrer Drittwirkungen auch eine statusbegründende Funktion haben, an der es beim Vertrag mit einzelnen Pflegekräften fehlt. Dieser ist als reiner Leistungsbeschaffungsvertrag anzusehen, mit dem die Erbringung der Sachleistung "Pflege" zugunsten eines einzelnen Versicherten sichergestellt werden soll.
2. Die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses kommt bei der Pflege vom Familienangehörigen grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn entweder eine familienrechtliche Beistandpflicht nicht besteht oder die Pflegeanforderungen so hoch sind, daß sie in der Regel eine berufsmäßige Pflegekraft erfordern (vgl BSG vom 29.11.1990 - 2 RU 18/90 = SozR 3-2200 § 539 Nr 6).
Normenkette
SGB XI § 77 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1996-06-14; GG Art 3 Abs. 1; SGB XI § 72 Abs. 2, § 77 Abs. 1 S. 4 Fassung: 1996-06-14; SGB11ÄndG 1 Fassung: 1996-06-14; BGB §§ 1353, 1618a; SGB X § 31; SGB XI § 72 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte einen mit der Klägerin abgeschlossenen Vertrag über die Erbringung von Pflegesachleistungen zum 31. März 1997 wirksam gekündigt hat.
Die Klägerin ist die Mutter des 1977 geborenen B S (Beigeladener), der wegen der Folgen eines 1993 erlittenen Unfalls vom Hals abwärts querschnittgelähmt ist. Im Februar 1996 schlossen die Klägerin und die beklagte Pflegekasse einen Vertrag nach § 77 Abs 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) über die Versorgung des Beigeladenen mit häuslicher Pflegehilfe. Nach § 6 dieses Vertrages sollte die Vergütung zunächst, weil ein Härtefall angenommen wurde, für die zurückliegende Zeit seit dem 1. April 1995 3.750 DM monatlich betragen, ab 1. Februar 1996 - nach einem gegenüber dem Beigeladenen erlassenen nicht bestandskräftigen Bescheid - 2.800 DM monatlich. Der Vertrag wurde auf unbestimmte Zeit geschlossen. Er konnte mit einer Frist von 6 Monaten zum Ende des Kalendervierteljahres schriftlich gekündigt werden.
Mit Schreiben vom 29. Juli 1996 kündigte die Beklagte den Vertrag mit Wirkung zum 31. August 1996 unter Hinweis darauf, daß das Erste SGB XI-Änderungsgesetz (1. SGB XI-ÄndG vom 14. Juni 1996, BGBl I S 830) mit Wirkung vom 25. Juni 1996 Verträge mit Einzelpersonen gemäß § 77 Abs 1 Satz 1 SGB XI dann untersage, wenn die Pflegekräfte mit dem Pflegebedürftigen verwandt seien. Auf den Widerspruch der Klägerin entschied der Widerspruchsausschuß der Beklagten, daß die Kündigung erst mit Wirkung zum 31. März 1997 wirksam werde. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in den Vorinstanzen ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts Nürnberg vom 7. April 1997 und des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 30. April 1998). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, das streitige Vertragsverhältnis sei privatrechtlicher Natur und von der Beklagten nach § 77 Abs 1 Satz 4 SGB XI nF wirksam gekündigt worden. Es liege keiner der in § 77 Abs 1 Satz 5 SGB XI genannten Ausnahmetatbestände vor; zwischen der Klägerin und ihrem Sohn habe insbesondere kein Beschäftigungsverhältnis bestanden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 77 SGB XI. Die Vorschriften über die Kündigung von Versorgungsverträgen in den §§ 73, 74 SGB XI seien entsprechend anzuwenden, zum anderen gelte die Bestandsschutzklausel in § 77 Abs 1 Satz 4 SGB XI hier sinngemäß. Die Kündigung des mit der Klägerin abgeschlossenen Vertrages führe zu einer schwerwiegenden pflegerischen Notlage des Pflegebedürftigen. Denn dieser sei auf eine umfassende psychologische Betreuung angewiesen, die zu den pflegerischen Leistungen hinzukomme. Die Betreuung könne wirkungsvoll nur durch eine ihm vertraute Person erfolgen. Der Gesetzgeber habe mit dem Änderungsgesetz lediglich den Mißbrauch von Pflegeverträgen innerhalb von Verwandtschaftsverhältnissen ausschließen wollen. Dieser Gesichtspunkt komme bei der Klägerin nicht zum Tragen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Nürnberg vom 7. April 1997 und des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. April 1998 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 1996 aufzuheben und festzustellen, daß der von der Beklagten gekündigte Vertrag weiter besteht.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene schließt sich dem Antrag der Klägerin an.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Die beklagte Pflegekasse hat den mit der Klägerin abgeschlossenen Pflegevertrag wirksam gekündigt, so daß er am 31. März 1997 geendet hat.
1. Die von der Klägerin in erster Linie erhobene Anfechtungsklage ist hier die unzutreffende Klageart und deshalb unzulässig. Die Kündigung eines mit einer einzelnen Pflegekraft nach § 77 Abs 1 SGB XI abgeschlossenen Vertrages über die Erbringung von Pflegeleistungen bei häuslicher Pflege ist kein Verwaltungsakt. Im Gegensatz zur Zulassung einer Versorgungseinrichtung iS von § 71 SGB XI durch Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI wird durch einen Vertrag nach § 77 Abs 1 SGB XI kein öffentlich-rechtlicher Status begründet. Pflegeeinrichtungen werden gem § 72 Abs 4 SGB XI durch den Abschluß des Versorgungsvertrages mit den Landesverbänden der Pflegekassen für die Dauer des Vertrages zur pflegerischen Versorgung der Versicherten zugelassen. Gleichzeitig wird die Pflegeeinrichtung durch die Zulassung zur pflegerischen Versorgung der Versicherten der sozialen Pflegeversicherung verpflichtet. Für die einzelnen Pflegekassen entsteht durch die Zulassung eine Vergütungspflicht (§ 72 Abs 4 Sätze 2 und 3 SGB XI). Die statusbegründende Funktion des Versorgungsvertrages liegt in seiner Verbindlichkeit für alle Träger der sozialen Pflegeversicherung (§ 72 Abs 2 Satz 2 SGB XI). Die Regelungen entsprechen denjenigen über die Zulassung von Krankenhäusern oder Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen nach §§ 109 Abs 4, 111 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V). Hier hat der Senat die Ablehnung der Verbände der Versicherungsträger, ein Krankenhaus durch Versorgungsvertrag zuzulassen, und die Kündigung eines Versorgungsvertrages wegen der hierin enthaltenen Aufhebung der Zulassung als Verwaltungsakt angesehen (vgl BSGE 78, 233, 235 = SozR 3-2500 § 109 Nr 1); ebenso hat er die Ablehnung, mit einem Heimträger einen Versorgungsvertrag abzuschließen, als Verwaltungsakt gewertet (Urteil vom 6. August 1998 - B 3 P 8/97 R - zur Veröffentlichung vorgesehen).
Nach der Vorstellung des Gesetzgebers ist mit der Zulassung der Pflegeeinrichtung deren Einbeziehung in ein öffentlich-rechtliches Sozialleistungssystem verbunden, aus dem sich für die Pflegeeinrichtung eine besondere Rechtsstellung ergebe (vgl BT-Drucks 12/5262, S 135, zu § 81 und S 137, zu § 81 Abs 4 des Entwurfs). Bei der Leistungserbringung durch einzelne Pflegekräfte war eine vergleichbare Statusbegründung vom Gesetzgeber aber nicht beabsichtigt. Entgegen einer teilweise im Schrifttum vertretenen Auffassung (vgl Leitherer, in: Kasseler Kommentar § 77 RdNr 18) enthält § 77 SGB XI keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß der Vertragsschluß mit einer einzelnen Pflegekraft mehr enthält als die Abrede der konkreten Rechte und Pflichten der beiden Vertragspartner Pflegekasse und Pflegekraft. Der Vertrag wird nur zwischen einer einzelnen Pflegekasse und einer Pflegekraft abgeschlossen; es fehlt in § 77 SGB XI eine Regelung, die die Rechtswirkungen des Vertrages auch auf andere Leistungsbeziehungen ausdehnt, wie dies in § 72 Abs 2 Satz 2 SGB XI angeordnet wird. Die Rechtsbeziehung zwischen einer einzelnen Pflegekraft und einer einzelnen Pflegekasse wird nicht durch einen Versorgungsvertrag geregelt (aA Neumann, in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 4, § 21 RdNr 42; derselbe, NZS 1995, 397). Der Begriff des Versorgungsvertrages wird im SGB XI wie auch im SGB V für Verträge verwendet, die wegen ihrer Drittwirkungen auch eine statusbegründende Funktion haben, an der es beim Vertrag mit einzelnen Pflegekräften gerade fehlt. Das ist im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich klargestellt worden (BT-Drucks 12/5262, S 140, zu § 86 Abs 1 des Entwurfs). Es handelt sich somit um einen reinen Leistungsbeschaffungsvertrag, mit dem die Erbringung der Sachleistung "Pflege" zugunsten eines einzelnen Versicherten sichergestellt werden soll. Dem steht auch die Regelung in § 72 Abs 1 Satz 1 SGB XI nicht entgegen, wonach die Pflegekassen ambulante und stationäre Pflege nur durch Pflegeeinrichtungen gewähren dürfen, mit denen ein Versorgungsvertrag besteht. Die Vorschrift bezieht sich allein auf die Erbringung von Pflegesachleistungen durch Pflegeeinrichtungen, dh ambulante Pflegedienste und Pflegeheime. Die Möglichkeit, daß Pflegekassen Pflegeleistungen auch aufgrund von Verträgen durch einzelne Pflegekräfte erbringen lassen, ist ausdrücklich als Ausnahme von diesem Grundsatz konzipiert. Rechtsschutzgründe gebieten es nicht, die Kündigung eines solchen Vertrages als Verwaltungsakt einzuordnen.
2. Die darüber hinaus erhobene Feststellungsklage ist zulässig, aber nicht begründet. Die Beklagte hat den mit der Klägerin geschlossenen Vertrag über die Pflege ihres Sohnes nach dem Inkrafttreten des 1. SGB XI-ÄndG wirksam gekündigt und hierbei auch die vertraglich vereinbarte Kündigungsfrist von sechs Monaten eingehalten. Das Kündigungsrecht der Beklagten hing nicht davon ab, daß die allgemeinen Voraussetzungen für die Kündigung eines öffentlich-rechtlichen Vertrages (vgl § 59 SGB X) vorlagen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats zum Recht der nichtärztlichen Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl insbesondere BSG SozR 3-2500 § 125 Nr 5) sind dort die Leistungsbeschaffungsverträge dem privaten Recht zuzuordnen. Dafür, daß gleiches hier zu gelten hat, spricht, daß das Vertragsverhältnis sich von einem Dienstvertrag unter Privatpersonen nicht wesentlich unterscheidet, insbesondere nicht durch öffentlich-rechtliche Vorschriften ausgestaltet oder überlagert wird, die für privatrechtliche Verträge untypisch sind.
Die Rechtsqualität des Vertrages kann jedoch dahinstehen, denn das Kündigungsrecht der Beklagten ergibt sich unmittelbar aus § 77 Abs 1 Satz 4 SGB XI idF des 1. SGB XI-ÄndG. Diese Vorschrift bezieht sich entgegen einer in Rechtsprechung und Schrifttum verbreiteten Auffassung (LSG Niedersachsen, Breithaupt 1998, 883, 885; Spellbrink, in Hauck/Wilde, SGB XI, § 77 RdNr 13; Knittel, in Krauskopf, SGB XI, § 77 RdNr 7) nicht nur auf Verträge zwischen einer Pflegekasse und einer Pflegekraft, denen ein Beschäftigungsverhältnis zwischen der Pflegekraft und dem Pflegebedürftigen zugrunde lag (Abs 1 Satz 3 des § 77 SGB XI), sondern auch auf Verträge zwischen einer Pflegekasse und Verwandten, Verschwägerten oder Haushaltsangehörigen iS von Abs 1 Satz 1 des § 77 SGB XI, bei denen es an einem Beschäftigungsverhältnis fehlte. Allenfalls die Stellung des hier maßgebenden Satzes 4 im Zusammenhang mit Satz 3 und insbesondere das in Satz 4 enthaltene Pronominaladverb "davon", das sich nur auf den vorangehenden Satz 3 zu beziehen scheint, könnte für eine unterschiedliche Behandlung sprechen. Eine Wortauslegung ist hier jedoch wenig aussagekräftig, wenn man die Umstände der Neuformulierung der Vorschrift berücksichtigt. Die Trennung der Nr 25 (idF des Regierungsentwurfs ≪BT-Drucks 13/3696, S 16≫, später Nr 26 ≪BR-Drucks 228/96, S 4≫) des Art 1 des 1. SGB XI-ÄndG in einen Buchstaben a, der die völlige Umgestaltung von Satz 1 des § 77 SGB XI enthielt, und einen Buchstaben b, der bis zum Vermittlungsverfahren nur die Sätze 3 und 4 anfügen sollte, ist nur dadurch zu erklären, daß Satz 2 der ursprünglichen Fassung unverändert erhalten bleiben sollte. Ausgehend von der eindeutigen Zielrichtung, die der Gesetzgeber mit der Neuregelung verfolgte, besteht jedoch kein Zweifel, daß sich Satz 4 sowohl auf Satz 3 als auch auf Satz 1 beziehen sollte und die beschriebenen Auslegungszweifel allein auf einer ungeschickten redaktionellen Fassung beruhen. Satz 4 hätte einleitend wie folgt gefaßt werden müssen: "Soweit abweichend von Satz 1 und 3 Verträge geschlossen sind, ...".
Durch die mit dem 1. SGB XI-ÄndG vorgenommene Novellierung des § 77 Abs 1 SGB XI wollte der Gesetzgeber im Hinblick auf beide Fallgruppen eine Umgehung der von ihm vorgesehenen Grundkonzeption, bei einer Sicherstellung der Pflege durch vom Pflegebedürftigen selbst beschaffte Pflegepersonen als Leistung der Pflegeversicherung nur Pflegegeld, nicht aber Pflegesachleistung zu gewähren, unterbinden (vgl BT-Drucks 13/3696, S 16). Für eine unterschiedliche Regelung des Kündigungsrechts gab es, abgesehen von den vom Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes geprägten Übergangsregelungen, auf die noch einzugehen ist, keinen sachlichen Grund. Gerade die Einbeziehung der Familien- und Haushaltsangehörigen als vertragliche Pflegekräfte in die Pflegesachleistung aufgrund der ursprünglichen Fassung des § 77 Abs 1 SGB XI sah der Gesetzgeber als Gefährdung der Finanzierung der Pflegeversicherung an; diese Möglichkeit war bei der ursprünglichen Kalkulation der Gesamtkosten offensichtlich nicht in Erwägung gezogen worden.
Im Gesetzgebungsverfahren war zur ursprünglichen Fassung des § 77 Abs 1 SGB XI die Auffassung vertreten worden, die Regelung diene - lediglich - dazu, die Versorgungsangebote der ambulanten Pflegeeinrichtungen durch gezielt eingesetzte, wohnortnahe Hilfen zu ergänzen. Daß hierzu auch Pflegekräfte aus dem Kreis der Angehörigen zählen konnten, hatte man - soweit ersichtlich - nicht erwogen, obwohl der Wortlaut der Vorschrift dies nicht ausschloß. Denn § 77 Abs 1 SGB XI ließ in seiner ursprünglichen Fassung für den Vertragsschluß, der in das Ermessen der Pflegekasse gestellt ist, nur die Eignung der Pflegekraft als Vorgabe erkennen. Die Eignung einer Pflegekraft setzte nicht voraus, daß sie eine einschlägige Ausbildung in einem Pflegeberuf durchlaufen hatte (vgl Udsching, SGB XI, § 77 RdNr 5). Daß in diesem Sinne auch Angehörige als Pflegepersonen "geeignet" sein können, ergibt sich schon daraus, daß andernfalls die für die Gewährung von Pflegegeld notwendige Voraussetzung, die Pflege durch selbstbeschaffte Pflegepersonen in geeigneter Weise sicherzustellen (§ 37 Abs 1 Satz 2 SGB XI), nicht erfüllt werden könnte. Soweit in den Gesetzesmaterialien die Auffassung anklingt, die Regelung habe gegenüber der Möglichkeit, die ambulante Versorgung der Versicherten durch Pflegedienste sicherzustellen, subsidiären Charakter (BT-Drucks 12/5262, S 140), hatte dies im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden (vgl Udsching, aaO, RdNr 4), so daß dem Wortlaut nach auch in allen Fällen der Angehörigenpflege der Abschluß eines Vertrages nach § 77 Abs 1 SGB XI in Betracht kam, verbunden mit dem im Vergleich zum Pflegegeld erheblich höheren Leistungsrahmen des § 36 Abs 3 SGB XI. Die Novellierung des § 77 Abs 1 SGB XI sollte der inzwischen erkannten Gefahr begegnen, daß es über eine solche Vertragslösung zu einer deutlichen Verschiebung des vorgesehenen Leistungskonzepts kommen würde. Das sog Arbeitgebermodell, dh die Pflege aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Pflegebedürftigen und einer externen Pflegekraft, hatte demgegenüber zahlenmäßig eine wesentlich geringere Bedeutung. Eine Kündigungsregelung nur für diese eher unbedeutende Fallgruppe hätte den angestrebten Zweck nicht erreichen können.
Entgegen der von der Klägerin im Revisionsverfahren vertretenen Auffassung ist das Verbot des Vertragsschlusses mit pflegenden Angehörigen des Pflegebedürftigen nach § 77 Abs 1 Satz 1 SGB XI und die in § 77 Abs 1 Satz 4 SGB XI angeordnete Kündigungspflicht nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Vertrag und die hiermit bewirkte Erhöhung des Leistungsrahmens einen offensichtlichen Mißbrauch des Leistungsrechts der Pflegeversicherung darstellen. Die vom Gesetzgeber als bloße Klarstellung verstandene Änderung wurde allgemein damit begründet, daß hierdurch eine Umgehung des Anspruchs auf Pflegegeld verhindert werden solle, also ohne daß es zusätzlich davon abhängen sollte, ob etwa ein Mißverhältnis zwischen Pflegeleistung und Vergütung festzustellen ist.
3. Der Kündigung des Vertrages standen die Regelungen in § 77 Abs 1 Satz 5 SGB XI nicht entgegen. Danach sind die Pflegekassen dann nicht zur Kündigung bestehender Verträge mit einzelnen Pflegekräften verpflichtet, wenn die Pflege aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses durchgeführt wurde, das vor dem 1. Mai 1996 bestanden hat, und wenn die vor diesem Zeitpunkt erbrachten Pflegeleistungen von der zuständigen Pflegekasse aufgrund eines von ihr mit der Pflegekraft abgeschlossenen Vertrages vergütet worden sind. Diese Vorschrift ist erst durch den Vermittlungsausschuß eingefügt (BT-Drucks 13/4688, S 3) und nicht begründet worden. Vorangegangen war im Vermittlungsverfahren jedoch der Versuch des Bundesrates, das sog Arbeitgeber- bzw Assistenzmodell im Rahmen des § 77 Abs 1 SGB XI beizubehalten und den betroffenen Pflegebedürftigen den im Vergleich zum Pflegegeld höheren Leistungsrahmen der Pflegesachleistungen (§ 36 Abs 3 SGB XI) zu erhalten. Hiermit konnte sich der Bundesrat für die Zukunft zwar nicht durchsetzen; er erreichte jedoch für in der Vergangenheit praktizierte Arbeitgebermodelle die als Satz 5 in § 77 Abs 1 SGB XI aufgenommene Vertrauensschutzregelung. Sie verlangt zunächst, daß dem Vertrag zwischen Pflegekraft und Pflegekasse ein Beschäftigungsverhältnis zwischen dem Pflegebedürftigen und der Pflegekraft zugrunde gelegen hat. Die Fortsetzung von Verträgen zwischen Pflegekassen und Pflegekräften aus dem Kreis der Verwandten, Verschwägerten oder Haushaltsangehörigen - ohne Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses - ist dagegen auch vom Bundesrat nicht gefordert worden und war nicht Gegenstand des Vermittlungsverfahrens.
An einem solchen Beschäftigungsverhältnis fehlte es hier. Die Eigenschaft der Pflegekraft als Familien- oder Haushaltsangehöriger schließt allein zwar nicht aus, daß die Pflege aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses erfolgt (vgl BSG SozR 2200 § 165 Nr 90). Ein Beschäftigungsverhältnis ist allerdings dann zu verneinen, wenn sich der Umfang der Pflegetätigkeit innerhalb der Grenzen bewegt, die durch familienrechtliche Pflichten gesteckt werden. § 1353 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) begründet für die eheliche Lebensgemeinschaft, § 1618a BGB für das Eltern-Kind-Verhältnis gegenseitige Beistandspflichten, die im Regelfall auch die Pflicht zur Pflege umschließen (BSG SozR 2200 § 539 Nr 134). Die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses kommt deshalb bei der Pflege von Familienangehörigen grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn entweder eine familienrechtliche Beistandspflicht nicht besteht oder die Pflegeanforderungen so hoch sind, daß sie in der Regel eine berufsmäßige Pflegekraft erfordern (BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 6). Letzteres kann hier zwar angenommen werden. Daraus ergibt sich aber noch nicht, daß der pflegebedürftige Sohn der Klägerin als Arbeitgeber der Klägerin angesehen werden muß. Angesichts der Tatsache, daß die Klägerin die Pflege völlig autonom durchführt und der Sohn ihr schon wegen seiner Hilflosigkeit keinerlei Weisungen erteilen kann, sowie unter Berücksichtigung der engen verwandtschaftlichen Beziehung könnte die Tätigkeit auch als selbständige gewertet werden. Für die Wertung einer Tätigkeit als selbständig oder abhängig ist in erster Linie auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen (vgl ua BSGE 36, 7, 8 = SozR Nr 72 zu § 165 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫). Spricht das sich hieraus ergebende Gesamtbild gleichermaßen für abhängige Beschäftigung wie für selbständige Tätigkeit, so ist auf den Inhalt der von den Betroffenen geschlossenen Vereinbarungen abzustellen (so die ständige Rspr des Bundessozialgerichts ≪BSG≫, vgl BSG SozR 2200 § 1227 Nr 19; BSG BB 1981, 1581). Hiervon ausgehend hat der 2. Senat des BSG bei vergleichbarer Fallgestaltung maßgebend auf den Willen des pflegenden Elternteils und des gepflegten Kindes abgestellt (BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 6) und aus der Existenz eines "vollgültigen Arbeitsvertrages" auf das Bestehen eines sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses geschlossen. Diese Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt. Zwischen der Klägerin und ihrem pflegebedürftigen Sohn ist nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG kein Arbeitsvertrag abgeschlossen und sind auch keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden. Ein Beschäftigungsverhältnis liegt schon der äußeren Form nach nicht vor, so daß es an den Voraussetzungen für den Bestandsschutz fehlt. Die von der Klägerin geforderte entsprechende Anwendung von § 77 Abs 1 Satz 5 SGB XI kommt nicht in Betracht, weil sie der Regelungsabsicht des Gesetzgebers genau widersprechen würde.
4. Das durch das 1. SGB XI-ÄndG in § 77 Abs 1 Satz 1 2. Halbsatz SGB XI eingefügte Verbot, zur Sicherstellung der Pflege Verträge zwischen einer Pflegekasse und Verwandten, Verschwägerten oder Haushaltsangehörigen abzuschließen, ist nicht verfassungswidrig. Da die Klägerin vor der Übernahme der Pflege ihres Sohnes keinen Pflegeberuf ausgeübt hat, kommt als Prüfungsmaßstab nur der allgemeine Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫) in Betracht. Ein Verstoß gegen das Schutzgebot für Ehe und Familie in Art 6 GG scheidet schon deshalb aus, weil sich das Verbot nicht auf Ehegatten und Familienangehörige beschränkt, sondern alle Personen einbezieht, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben. Art 3 Abs 1 GG ist ebenfalls nicht verletzt. Die Schlechterstellung dieses Personenkreises im Hinblick auf die Möglichkeit, mit den Pflegekassen Verträge über die Erbringung von Pflegeleistungen im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung abzuschließen, ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Zwischen der Gruppe der pflegenden Angehörigen und berufsmäßigen externen Pflegekräften bestehen Unterschiede, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen (vgl BVerfGE 55, 72, 88).
Der Gesetzgeber durfte bei der Konzeption der Pflegeversicherung davon ausgehen, daß die von Angehörigen erbrachten Pflegeleistungen nicht in demselben Umfang vergütet werden müssen wie die Pflege durch Pflegedienste oder in Pflegeheimen. Zum einen sind Ehegatten untereinander (gem § 1353 BGB) sowie Eltern und Kinder gegenseitig (gem § 1618a BGB) zur Beistandsleistung gesetzlich verpflichtet. Zum anderen entspricht die Pflege von Angehörigen auch einer sittlichen Pflicht. Dies veranlaßte den Gesetzgeber, mit dem Pflegegeld für die "ehrenamtliche" Pflege (vgl BT-Drucks 12/5262, S 101) durch Angehörige lediglich eine finanzielle Anerkennung vorzusehen, die durch die soziale Absicherung der Pflegeperson in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (gem § 44 SGB XI) ergänzt wird. Angesichts des begrenzten Finanzbudgets, das für die Pflegeversicherung zur Verfügung gestellt werden konnte, erschien eine umfassende Versorgung von Pflegefällen allein aus der Pflegeversicherung nicht durchführbar (vgl hierzu im einzelnen Urteil des erkennenden Senats vom 19. Februar 1998, B 3 P 3/97 R, BSGE 82, 27, 35 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2). Dies wird im Hinblick auf die Leistungen bei häuslicher Pflege insbesondere aus § 4 Abs 2 Satz 1 SGB XI deutlich: Die Vorschrift stellt klar, daß die Leistungen bei häuslicher und teilstationärer Pflege gegenüber der fortbestehenden Notwendigkeit von Pflegeleistungen durch Familienangehörige, Nachbarn oder sonstige ehrenamtliche Pflegekräfte nur eine ergänzende Funktion haben.
Die Auffassung, daß die Pflege durch Angehörige und andere nahestehende Personen grundsätzlich unentgeltlich zu leisten ist, entspricht im übrigen auch der ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu den sozialhilferechtlichen Pflegeleistungen, die der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des SGB XI vorfand (vgl BVerwGE 90, 217, 219). Danach kam eine Vergütung auch für solche Familienangehörige nicht in Betracht, die über eine entsprechende Qualifikation etwa zur Pflege von Schwerstpflegebedürftigen verfügten; auch sie konnten nicht als "besondere Pflegekraft" iS des § 69 Bundessozialhilfegesetz ≪BSHG≫ aF angesehen oder diesen gleichgestellt werden (BVerwG Buchholz 436.0 § 69 BSHG Nr 15).
Das Verbot des Vertragsschlusses mit Familienangehörigen ist auch in den Fällen nicht verfassungswidrig, in denen Pflegeleistungen, wie hier, in einem Umfang erbracht werden müssen, der die familienrechtliche Beistandspflicht überschreitet (vgl BSG SozR 3-2500 § 539 Nr 6). Denn der pflegende Familienangehörige wird aufgrund des Leistungssystems der Pflegeversicherung nicht verpflichtet, die Pflege über das familienrechtlich Zumutbare hinaus zu erbringen. Er wird auch nicht von der Pflege ausgeschlossen. Fragwürdig erscheint allenfalls, daß für Härtefälle im Gegensatz zur Pflegesachleistung (§ 36 Abs 4 SGB XI) und zur vollstationären Pflege (§ 43 Abs 3 und Abs 5 Satz 1 Nr 4 SGB XI) beim Pflegegeld keine Erhöhung vorgesehen ist. Das für die Pflegestufe III vorgesehene Pflegegeld in Höhe von 1.300 DM wird dem bei einem Härtefall bestehenden erheblichen Pflegemehraufwand, wie der vorliegende Fall deutlich macht, gemessen am Verhältnismäßigkeitsmaßstab nicht gerecht. Das führt aber nicht dazu, den Ausschluß der Angehörigenpflege bei der Pflegesachleistung als gleichheitswidrig einzustufen. Der Gesetzgeber ist möglicherweise davon ausgegangen, daß bei sehr schwerer Pflegebedürftigkeit in der Regel zumindest teilweise berufsmäßige Pflege erforderlich wird. Der vorliegende Fall erscheint danach als Sonderfall. Der Gesetzgeber ist aber von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, in einzelnen Fällen von der typisierenden Ordnung des Leistungs- bzw Leistungserbringerrechts der Pflegeversicherung abzuweichen und einen Vertragsschluß mit Familienangehörigen als Ausnahme vorzusehen. Auch wenn die Klägerin wegen der aufwendigen Pflege ihres Sohnes nicht in der Lage ist, für die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Familie zu sorgen, begründet dies keine Leistungspflicht der Pflegeversicherung über den gesetzlichen Rahmen hinaus. Dieser Notlage kann mit Hilfe des familienrechtlichen Unterhaltsrechts und/oder der Hilfe nach dem BSHG begegnet werden.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
DStR 2000, 605 |
NZS 1999, 610 |
RsDE 2000, 61 |
SGb 1999, 354 |
Breith. 1999, 840 |
KVuSR 1999, 107 |
KVuSR 2001, 84 |
SozSi 1999, 416 |