Entscheidungsstichwort (Thema)
Erhöhte Witwenrente wegen Erziehung waisenrentenberechtigter Kinder. Erziehungsbegriff. faktische Einwirkungsmöglichkeiten auch bei räumlicher Trennung von Mutter und Kindern. Portugal. Bundesrepublik Deutschland
Orientierungssatz
Zur Frage, ob einer im Bundesgebiet arbeitenden portugiesischen Staatsangehörigen die erhöhte Witwenrente gemäß RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 zusteht, obwohl ihre beiden waisenrentenberechtigten Kinder bei den Eltern in Portugal leben.
Normenkette
RVO § 1268 Abs 2 S 1 Nr 2 Fassung: 1975-05-07
Verfahrensgang
SG Köln (Entscheidung vom 20.01.1978; Aktenzeichen S 4 J 277/77) |
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin die erhöhte Witwenrente gemäß § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Die Klägerin - eine portugiesische Staatsangehörige - war mit dem im Januar 1976 verstorbenen Versicherten G. D. verheiratet. Aus der Ehe sind zwei - im November 1969 und Oktober 1973 geborene - Kinder hervorgegangen. Sie erhalten Halbwaisenrente und wohnen bei den Eltern der Klägerin in P. Die Klägerin selbst wohnt und arbeitet in der B D.
Die Klägerin erhält die einfache Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes. Ihr die erhöhte Witwenrente gemäß § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO zu gewähren lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin ihre Kinder nicht erziehe (Bescheid vom 12. April 1977; Widerspruchsbescheid vom 2. August 1977).
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Der Begriff der Erziehung sei in § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO ebensowenig wie im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) bestimmt. Führe man sich jedoch den Gesetzeszweck vor Augen, könne die Tatsache der Mutterschaft allein und das Innehaben des Erziehungsrechtes nicht ausreichen. Vielmehr wolle der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift ermöglichen, daß sich die Witwe ihrer Aufgabe als Mutter widmen könne und nicht zur Beschaffung der Unterhaltsmittel durch eine Lohnarbeit gezwungen sei. Wenn sich die Klägerin wie im vorliegenden Fall gerade von ihren Kindern getrennt habe, um einer Lohnarbeit nachgehen zu können, so habe sie von der vom Gesetzgeber eingeräumten Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht. Begreife man Erziehung als ein geistigseelisches Wirken für die Gesamtentwicklung des Kindes, so müsse dem Entwicklungszustand der Kinder Rechnung getragen werden. Bei einem älteren Kind könnten intensive Gespräche zur Erziehung ausreichen und daher auch bei einer länger dauernden räumlichen Trennung die Leitung des Kindes im Sinne des Erziehenden gewährleistet sein. Hier seien die Kinder jedoch erst vier und acht Jahre alt, ein Briefwechsel zwischen der Klägerin und ihren Kindern reiche daher nicht aus. Für einen häufigen telefonischen Kontakt sei wegen der damit verbundenen Kosten die Entfernung zu groß. Für eine unmittelbare persönliche Einflußnahme der Klägerin verblieben also lediglich die fünf Urlaubswochen im Jahr. Auch die Tatsache, daß die Eltern der Klägerin die Erziehung der Kinder übernommen hätten, könne nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Denn selbst wenn diese die Kinder tatsächlich weitgehend im Sinne der Klägerin erzögen, sei dies nicht gleichbedeutend mit einer Erziehung durch die Klägerin (Urteil vom 20. Januar 1978).
Die Klägerin hat mit Zustimmung der Beklagten die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine unrichtige Anwendung des § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO durch das Erstgericht.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. April 1977 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. August 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Witwenrente unter Anwendung des § 1268 Abs 2 Nr 2 RVO neu zu berechnen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Auf die gemäß § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Sprungrevision der Klägerin ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen. Nach § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO steht der Witwe die erhöhte Rente zu, solange sie ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht. Ob die Klägerin ihre beiden Kinder, die bereits Waisenrente erhalten, "erzieht", läßt sich aufgrund der bisher vom SG festgestellten Tatsachen nicht abschließend entscheiden.
Die Frage, ob eine räumliche Trennung von Mutter und Kind infolge auswärtiger Unterbringung des Kindes im allgemeinen einer Erziehung durch die Mutter entgegensteht, ist vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 30. August 1967 (SozR Nr 9 zu § 1268 RVO) bereits für den Anspruch auf erhöhte Witwenrente infolge Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes im Sinne des § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO mit dem Hinweis verneint worden, daß entgegen den ursprünglichen Vorstellungen des Gesetzgebers die endgültige Gesetzesfassung nicht die Erziehung des Kindes im eigenen Haushalt der Mutter verlangt. Damit im Einklang hat das BSG in einer weiteren Entscheidung vom 26. November 1970 (SozR Nr 18 zu § 1268 RVO) darauf hingewiesen, daß der Begriff der Erziehung im Rentenversicherungsrecht von Anfang an im tatsächlichen Sinne verstanden worden ist und dabei stets eine weite Auslegung erfahren hat. Es hat in diesem Zusammenhang betont, daß auch im Falle einer auswärtigen internatsmäßigen Unterbringung des Kindes konkrete Erziehungsmaßnahmen der Mutter - insbesondere durch persönliche Einwirkung auf das Kind, durch Einflußnahme auf die Anstaltsleitung oder duch Beendigung des auswärtigen Aufenthalts - möglich sind. Diese Interpretation des Erziehungsbegriffs im Sinne einer faktischen Einwirkungsmöglichkeit hat sich der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 29. März 1978 - 5 RJ 4/77 - (SozR 2200 § 1265 Nr 32) zu eigen gemacht.
Das SG hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, daß bei dem Alter der Kinder der Klägerin die Einflußnahme durch Briefe und durch Telefongespräche nicht die Bedeutung haben kann wie bei älteren Kindern. Daraus läßt sich aber nicht schließen, daß eine Erziehung bei Kindern dieses Alters - abweichend von dem Grundsatz in den genannten Entscheidungen des BSG - nur dann bejaht werden kann, wenn die Mutter und die Kinder zusammen in einem Haushalt leben. Vielmehr ist es auch im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen, daß die das Wohl der Kinder berührenden Maßnahmen von den Großeltern nur mit der Erziehungsberechtigten gemeinsam oder aufgrund besonderer, von der Erziehungsberechtigten erteilter Weisungen entschieden werden. Von den unmittelbar mit der Betreuung der Kinder befaßten Personen werden derartige Anweisungen in der Regel auch durchaus als Entlastung und Erleichterung der unmittelbaren Sorge für die Kinder verstanden werden. Die Frage, ob die Klägerin ihre Kinder erzieht, hängt somit davon ab, ob sie konkrete Erziehungsmaßnahmen - sei es auch über die Großeltern als Ausführende - für ihre Kinder trifft.
Der Rechtsstreit mußte deshalb an das SG zurückverwiesen werden, damit die hierfür notwendigen Feststellungen getroffen werden können (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen