Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. November 2001 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der 1977 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger ist blind. 1997 kam er als Spätaussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Er kann sich inzwischen auf Deutsch verständigen und Texte mit Hilfe der Brailleschrift “lesen”, ist aber bestrebt, seine deutschen Sprachkenntnisse in Wort und Schrift, insbesondere auch in der Orthographie, zu vervollkommnen. Im Rahmen seiner berufsfördernden Grundausbildung hat er gelernt, mit einem Personalcomputer (PC) zu arbeiten.
Die Beklagte hat 1999 den privaten PC des Klägers mit einem Lese-Sprech-Gerät ausgestattet. Es handelt sich um das Vorlesegerät “Poet” mit Scanner, Sprachausgabe, Spezialtastatur und entsprechender Spezialsoftware (Wert 8.769,60 DM). Streitig ist, ob der PC zusätzlich mit einer so genannten Braillezeile auszurüsten ist. Dabei geht es um ein Zusatzdisplay, auf dem ein vom Computer per Scanner eingelesener Text in vibrierenden Blindenschriftzeichen wiedergegeben wird. Die Kosten belaufen sich nach dem eingeholten Kostenvoranschlag auf rund 15.000 DM (jetzt ca 7.500 EUR).
Den Antrag des Klägers, ihn mit diesem Zusatzdisplay zu versorgen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 27. Dezember 1999, Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2000). Sie vertritt die Auffassung, der Kläger sei mit dem bereitgestellten Lese-Sprech-Gerät ausreichend versorgt. Nach Angaben der Lieferfirma könnten damit auch Arzneibeipackzettel, Kontoauszüge und Telefonbücher verarbeitet werden. Soweit der Kläger geltend mache, mit dem Zusatzdisplay besser die deutsche Sprache erlernen zu können, falle dies nicht in die Zuständigkeit der Krankenversicherung.
Dagegen hat der Kläger Klage erhoben. Er meint, der Erwerb guter deutscher Sprachkenntnisse in Wort und Schrift gehöre bei Menschen, die auf Dauer in Deutschland leben, zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Daher sei die Krankenversicherung leistungspflichtig.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 21. Februar 2001). Es hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, den Kläger mit einer Braillezeile zum Vorlesegerät “Poet” zu versorgen, und sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bezogen (Urteil vom 16. April 1998 – B 3 KR 6/97 R – SozR 3-2500 § 33 Nr 26). Nur durch die Braillezeile werde das Grundbedürfnis des Klägers auf umfassende Information aus gedruckten Texten aller Art hinreichend ausgeglichen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. November 2001): Die begehrte Braillezeile unterfalle nur dann der Leistungsverpflichtung der Krankenversicherung, wenn der behinderte Versicherte ohne das Zusatzdisplay nicht in der Lage sei, im Rahmen des allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke zu “lesen”. Die Lieferfirma habe aber mitgeteilt, dass hierfür das bewilligte Lese-Sprech-Gerät ausreiche; nach Angaben des Arztes komme der Kläger mit ihm auch sehr gut zurecht. Da der Kläger das Zusatzdisplay vor allem benötige, um als volljähriger Spätaussiedler die deutsche Rechtschreibung zu erlernen oder zu verbessern, sei die Krankenversicherung nicht leistungspflichtig. Die Förderung der sozialen und kulturellen Integration von Spätaussiedlern sei Sache der Sozialhilfeträger, die nach den speziellen Vorgaben des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ein solches Zusatzdisplay im Rahmen der Eingliederungshilfe zur Verfügung stellen müssten.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 33 Abs 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Seinem Grundbedürfnis auf Information werde das Lese-Sprech-Gerät allein nicht hinreichend gerecht. Schon das Zeitunglesen sei sehr umständlich und nur mit einer Hilfsperson möglich, weil von dieser die einzelnen Artikel vorher für das Gerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssten. Ferner sei das “Lesen” von Arzneibeipackzetteln, Kontoauszügen und Telefonbüchern nicht oder nur beschränkt möglich. Die Verbesserung der deutschen Sprachkenntnisse in Wort und Schrift sei ein zusätzlicher wesentlicher Aspekt; auch hierfür seien bei Spätaussiedlern die Krankenkassen zuständig, weil es um die Vermittlung elementarer Sprachkenntnisse und damit um ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens gehe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. November 2001 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 21. Februar 2001 zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Das Gericht konnte über die Revision gemäß § 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach Lage der Akten entscheiden, weil die Beteiligten im Termin nicht vertreten waren und sie auf diese Möglichkeit in der Ladung zur mündlichen Verhandlung hingewiesen worden waren (§§ 165, 153 Abs 1, 110 Abs 1 Satz 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Die bisher getroffenen Feststellungen des LSG lassen keine abschließende – positive oder negative – Entscheidung der Frage zu, ob die Beklagte dem Kläger die begehrte Braillezeile als Hilfsmittel der Krankenversicherung (§ 33 SGB V) zur Verfügung zu stellen hat.
Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V idF durch das Gesetz vom 19. Juni 2001 (BGBl I S 1046) haben Versicherte einen Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Fall), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Fall) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Fall), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V durch Rechtsverordnung ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung müssen auch Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, und sie dürfen das Maß des Notwendigen (Erforderlichen) nicht überschreiten; Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 SGB V). Die Braillezeíle ist als auf den Gebrauch durch Blinde zugeschnittenes Gerät weder ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand noch nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen.
Allerdings kann der von den Beteiligten in den Vordergrund gerückte Gesichtspunkt, die Hilfe beim Erlernen der deutschen Rechtschreibung, den Anspruch auf Ausstattung mit der Braillezeile nicht rechtfertigen. Insoweit ist der Auffassung des LSG zuzustimmen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die hinreichende Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift, insbesondere die Rechtschreibung, bei Erwachsenen generell und bei erwachsenen Spätaussiedlern im Besonderen ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens darstellt, das von der Krankenversicherung durch entsprechende behindertengerechte Lernhilfen (Hilfsmittel) zu unterstützen ist. Der Anspruch ist schon deshalb unbegründet, weil es für das Erlernen der deutschen Sprache in Wort und Schrift bereits Schul- und Lesebücher in Brailleschrift gibt. Sie sind ggf im Wege der Eingliederungshilfe nach dem BSHG zu finanzieren. Die Braillezeile ist insoweit kein zum Behinderungsausgleich “notwendiges” Hilfsmittel (§§ 2 Abs 4, 12 Abs 1, 33 Abs 1 SGB V).
Dies schließt einen Erfolg der Klage aber nicht aus.
Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 16. April 1998 – B 3 KR 6/97 R – SozR 3-2500 § 33 Nr 26), dass eine solche Braillezeile von den Krankenkassen als Behinderungsausgleich grundsätzlich allen blinden Versicherten zur Verfügung zu stellen ist, die über einen häuslichen PC nebst Lese-Sprech-Gerät verfügen und diesen selbst bedienen können, wenn sie zur Befriedigung ihres allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke und Texte mit Hilfe der Braillezeile “lesen” möchten, die von dem Lese-Sprech-Gerät nicht, unzulänglich oder nur mit unzumutbarem Aufwand erfasst und in verständliche Sprache umgesetzt werden können. Grundlage dieser Entscheidung war der technische Stand solcher Lese-Sprech-Geräte Mitte der 90er Jahre. Der Senat hat seinerzeit dazu ausgeführt, nach dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 9. August 1994 (BArbl 10/1994, 155), das die weit reichenden Erfahrungen der mit der Versorgung der Kriegsopfer befassten Behörden wiedergebe, sei mit einem Lese-Sprech-Gerät schon das Zeitunglesen sehr umständlich und nur mit einer Hilfsperson möglich, da von dieser die einzelnen Artikel vorher für das Lesegerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssten. Ferner sei das Lesen von Arzneibeipackzetteln, Kontoauszügen oder Telefonbüchern nicht oder nur beschränkt möglich, auch könnten die Geräte spezielle Druckarten – wie Vielfarbdruck, Inversdruck oder Großdruck – nur schlecht oder gar nicht verarbeiten. Umgekehrt sei mit der Braillezeile das “Lesen” jedes beliebigen gedruckten oder maschinenschriftlichen Textes möglich (zB Briefe, Kontoauszüge, Telefonrechnungen, Formulare usw). Das Lesen der Tageszeitung sei elementarer Bestandteil des allgemeinen Grundbedürfnisses “Information”. Schon von daher sei die Versorgung mit einer Braillezeile, die dieses Bedürfnis ohne größere Probleme befriedigen könne, geboten. Aber auch die selbstständige Erfassung von alltäglichen Schriftstücken wie Rechnungen, Kontoauszügen, Prospekten gehöre zu den Voraussetzungen, um sich im heutigen Leben zurecht zu finden. Auf die Hilfe von Familienangehörigen könne ein Betroffener nicht verwiesen werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18). Ebenso wenig könne allein der Kostenaufwand der Grund sein, ein als notwendig erkanntes Hilfsmittel zu verweigern.
An dieser Entscheidung ist grundsätzlich festzuhalten. Hiernach könnte ein Versorgungsanspruch nur dann abgelehnt werden, wenn (1.) ein im Umgang mit einem PC vertrauter Versicherter Schriftstücke und Texte der genannten Art auf Grund seiner persönlichen Lebenseinstellung und Bedürfnisse nicht oder nur in sehr geringem Umfang “lesen” möchte – was beim Kläger nach den vorhandenen Feststellungen des LSG auszuschließen ist – oder wenn (2.) auf Grund des zwischenzeitlich eingetretenen technischen Fortschritts die heutzutage auf dem Markt befindlichen Lese-Sprech-Geräte, insbesondere das dem Kläger zur Verfügung gestellte Gerät, so ausgereift und technisch vervollkommnet sind, dass die Mitte der 90er Jahre noch zu verzeichnenden Schwächen ganz oder nahezu vollständig beseitigt worden und dadurch Braillezeilen insoweit überflüssig geworden sind.
Dazu fehlt es an hinreichenden Feststellungen des LSG. Insbesondere kann aus der Feststellung, der Kläger komme subjektiv mit dem vorhandenen Lese-Sprech-Gerät “gut zurecht”, nicht geschlossen werden, dass die in der Entscheidung des Senats aus dem Jahre 1998 aufgezeigten Unzulänglichkeiten damals auf dem Markt erhältlicher Lese-Sprech-Geräte, die zur prinzipiellen Bejahung eines Anspruchs betroffener Versicherter auf eine zusätzliche Braillezeile geführt haben, infolge technischer Weiterentwicklung mittlerweile beseitigt sind, sodass vor allem fremde Hilfe bei der Lektüre von Zeitungen (und Zeitschriften) als Schwerpunkt der täglichen Informationsbeschaffung nicht mehr notwendig ist. Die weit gehende Unabhängigkeit behinderter Menschen von fremder Hilfe ist ein zentraler Aspekt der Hilfsmittelversorgung im Bereich des Behinderungsausgleichs (§ 33 SGB V, §§ 1, 2 Neuntes Buch Sozialgesetz ≪SGB IX≫).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen