Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I
Der Kläger, ein Sozialhilfeträger, verlangt von der Beklagten, einer Betriebskrankenkasse, Ersatz der Kosten, die er für die Beschaffung einer Sennheiser-Mikroport-Anlage (SMP-Anlage) aufgewendet hat.
Der Beigeladene war in der streitbefangenen Zeit Mitglied der Beklagten. Sein 1968 geborener Sohn J… leidet bereits seit 1974 an einer hochgradigen Schallempfindungsschwerhörigkeit links und einer mittelgradigen Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts. Die Beklagte hatte 1974 und 1978 Kosten für zwei Hörgeräte im Werte von 1.861,- DM und 2.165,94 DM übernommen. Durch diese Geräte war die Hörbehinderung des Kindes nicht völlig ausgeglichen worden. Insbesondere war J… infolge des beeinträchtigten Hörvermögens nicht fähig, dem Unterricht an der Volksschule zu folgen und hatte deshalb in den Jahren 1975 bis 1977 die Gehörlosenschule in W… besucht. Nach Erprobung der SMP-Anlage konnte J… am Unterricht an der Volksschule B… ohne Verständigungsschwierigkeiten teilnehmen.
Die SMP-Anlage ist eine drahtlose Hörhilfe, die aus einem Sender und einem Empfänger besteht und der besseren akustischen Verständigung zwischen dem Vortragenden und hörgeschädigten Zuhörern dient. Dabei ist der Vortragende mit dem Sender, der Zuhörer mit dem Empfänger ausgestattet. Dies ermöglicht einen optimalen Hörerfolg auch dann, wenn der Vortragende seinen Standort gegenüber den Zuhörern wechselt, wie es etwa in Schulen üblich ist.
Nachdem fachärztlicherseits die Verwendung einer kompletten SMP-Anlage für J… befürwortet worden war, übernahm der Kläger die Kosten dieser Anlage als örtlicher Träger der Sozialhilfe im Rahmen der Eingliederungsbeihilfe, wobei er verfügte, daß der Beigeladene einen Kostenanteil von 1.200,- DM selbst zu tragen habe (Bescheid vom 6. März 1979). Mit Schreiben vom gleichen Tag machte er gegenüber der Beklagten einen Ersatzanspruch in Höhe von 1.022,04 DM geltend, den diese ablehnte.
Das Sozialgericht (SG) Würzburg hat die hiergegen erhobene Klage auf Erstattung von 2.222,04 DM abgewiesen (Urteil vom 29. Januar 1980). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 25. November 1981 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach zur Erstattung der Kosten verurteilt, die der Kläger an ihrer Stelle für die Beschaffung der SMP-Anlage aufgewendet hat. Es hat zur Begründung ausgeführt, diese Anlage sei ein Hilfsmittel i.S. von § 182 b der Reichsversicherungsordnung (RVO). Es diene dem Ausgleich der körperlichen Behinderung selbst und beschränke sich nicht auf den Ausgleich von Folgen und Auswirkungen der Behinderung in besonderen Lebensbereichen. Die Anlage überschreite auch nicht Grenzen des medizinisch Notwendigen (§ 182 Abs. 2 RVO). Ein zum unmittelbaren Behinderungsausgleich benötigtes Hilfsmittel müsse so gewährt werden, daß es den Funktionsausfall möglichst weitgehend im Rahmen einer normalen Lebensführung ausgleiche.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung des § 182 b RVO. Die SMP-Anlage diene dem Ausgleich negativer Folgen der Schwerhörigkeit nur im schulischen Bereich. Werde sie als Hilfsmittel i.S. von § 182 b RVO angesehen, führe dies zu einer Ausstattung von Behindertenschulen auf Kosten der Krankenkassen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 1981 aufzuheben.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Dem Kläger hat, wie das LSG zu Recht entschieden hat, dem Grunde nach einen Ersatzanspruch aus § 1531 RVO gegen die Beklagte. Er hat dem Beigeladenen im Wege der Eingliederungsbeihilfe nach §§ 39 ff. Bundessozialhilfegesetz (BSHG) die Anschaffung einer SMP-Höranlage für seinen Sohn J… ermöglicht, auf die der Beigeladene einen Anspruch gegen die beklagte Betriebskrankenkasse hatte.
Nach der Vorschrift des § 182 b RVO, die hier in der bis 31. Dezember 1981 gültig gewesenen Fassung anzuwenden ist, hat der Versicherte auch für ein unterhaltsberechtigtes Kind im Rahmen der Familienkrankenhilfe nach § 205 RVO einen Anspruch auf Ausstattung mit Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder eine körperliche Behinderung auszugleichen. Im vorliegenden Fall kommt allein ein Behinderungsausgleich in Betracht.
Der Sohn des Beigeladenen leidet - nach den für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) - an einer beidseitigen Schallempfindungsschwerhörigkeit. Diese krankhafte Funktionsbeeinträchtigung seines Gehörs wird durch die SMP-Anlage weitgehend ausgeglichen, weil sie es ermöglicht, daß akustische Signale auch dann noch das Ohr des Hörgeschädigten erreichen, wenn sie aus unterschiedlichem Abstand und wechselnden Positionen des Sprechenden abgegeben werden. Damit ist die Anlage unmittelbar auf den Ausgleich der Hörbehinderung gerichtet, denn sie dient der Differenzierung von Geräuschen durch den Hörenden, wenn sich der Vortragende bewegt; gewöhnliche Hörgeräte reichen hierfür nicht aus. Die SMP-Anlage setzt damit entgegen der Auffassung der Beklagten nicht erst bei den Folgeerscheinungen der Behinderung in besonderen Lebensbereichen an. Der Umstand, daß der Anwendungsbereich des Geräts räumlich - hier im wesentlichen auf den schulischen Bereich - begrenzt ist, führt zu keiner anderen Beurteilung. Zu den Hilfsmitteln i.S. von § 182 b RVO gehören auch solche, die nur in einem begrenzten Bereich zu verwenden sind (BSG SozR 2200 § 182 b Nrn. 9 und 12, § 182 Nr. 55). Es mag dahingestellt bleiben, ob ausnahmsweise etwas anderes gilt, wenn das Hilfsmittel zwar eine Körperfunktion ersetzt, aber im wesentlichen nur eine spezielle, einem bestimmten Lebensbereich zuzuordnende Tätigkeit ermöglicht. Eine solche Beschränkung kann hier schon wegen der Bedeutung des Besuchs einer (Normal-) Schule für die geistige Entwicklung des Kindes im allgemeinen und für das hörgeschädigte Kind im besonderen, das bisher nur eine Gehörlosenschule besuchen konnte, nicht angenommen werden. Das spezielle Hörgerät gleicht hier die Funktionsbeeinträchtigung in einer Weise aus, daß sie der Erfüllung der elementaren, normalen Lebensbedürfnisse dient. Für Schüler gehört es zur normalen Lebensführung, wie andere, nicht behinderte Kinder die Schule zu besuchen, zumal der Besuch einer normalen Schule auch der Vorbereitung des Kindes auf eine möglichst normale Teilnahme am gesamten Gesellschaftsleben dient. Wird dies durch die Hörhilfe ermöglicht, handelt es sich nicht um Eingliederung des Behinderten in einen besonderen Lebensbereich. Hinzu kommt, daß sich die durch die SMP-Anlage bewirkte Hörverbesserung nicht notwendig auf den schulischen Bereich beschränkt, sondern auch in anderen Fällen wirksam werden kann, bei denen ein Vortragender vor einer größeren Zuhörergruppe spricht und bereit ist, den Sender anzulegen. Daß diese Situation bei J… zur Zeit im wesentlichen nur im schulischen Bereich auftritt, ist eine Folge seines Alters, nicht aber in der Funktionsweise des Hörgeräts begründet. Damit entfällt auch der Einwand der Beklagten, es handele sich bei der SMP-Anlage um einen Teil der Schuleinrichtung; denn es wird nicht die Unterrichtsstätte nach den besonderen Bedürfnissen behinderter Schüler ausgerichtet, sondern eine körperliche Funktion verbessert, die eine unbehinderte Teilnahme am Normalunterricht ermöglicht (vgl. BSG SozR 2200 § 182 Nr. 73).
Auch die Tatsache, daß bei der SMP-Anlage ein Ausgleich der beeinträchtigten Hörfunktion nur dann stattfinden kann, wenn dem Vortragenden ein Sender zur Verfügung steht, ändert nichts an der Hilfsmitteleigenschaft des Geräts. Wie der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden hat, kann einem Gerät, das nur im Zusammenhang mit anderen, außerhalb der Sphäre des Behinderten liegenden Geräten einen Ausgleich der krankhaften Funktionsstörung herbeizuführen vermag, nicht deshalb die Hilfsmitteleigenschaft i.S. des § 182 b RVO abgesprochen werden, weil es den Funktionsausgleich nicht ohne das Hinzutreten weiterer Bedingungen erbringen kann (Urteil vom 26. Oktober 1982 - 3 RK 16/82 -). Sonst wäre bei jedem Gerät, das in seiner Funktion von äußeren Einwirkungen abhängig ist (z.B. Stromzufuhr; vgl. Urteil des 3. Senats vom 26. Oktober 1982 - 3 RK 28/82 -) oder dessen Einsatz von der Mithilfe anderer Personen abhängig ist, die Hilfsmitteleigenschaft zu verneinen. Auch der Umstand, daß die SMP-Anlage die beeinträchtigte Körperfunktion nur in einem bestimmten funktionalen Bereich, der Situation Vortrag-Zuhöhrer, ersetzen kann, führt zu keiner anderen Beurteilung. Zu den Hilfsmitteln i.S. von § 182 b RVO gehören die nur in begrenztem funktionalem Bereich verwendbaren Geräte jedenfalls dann, wenn durch sie der zur Verfügung stehende Freiraum hinsichtlich der Grundbedürfnisse des Behinderten erweitert wird (BSG SozR 2200 § 182 b Nr. 19). Dies ist hier zu bejahen, gerade weil durch die SMP-Anlage die fehlende, zur Teilnahme am normalen Unterricht erforderliche Hörfähigkeit ausgeglichen wird.
Die Anschaffung der SMP-Anlage überschreitet im Falle des J… auch nicht das in § 182 Abs. 2 RVO vorgeschriebene Maß des Notwendigen. Nach dieser Bestimmung, die im Rahmen des § 182 b RVO Anwendung findet, muß die Krankenpflege, zu der auch die Ausstattung mit Hilfsmitteln gehört, zwar ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Der Umfang der Leistungspflicht ist hierbei vom medizinischen Zweck der Leistungen her zu bestimmen. Der maßgebende medizinische Zweck besteht bei der Ausstattung mit Hilfsmitteln im Ausgleich der Behinderung selbst; er ist nicht ausschließlich auf die Befriedigung besonderer Bedürfnisse im medizinisch-gesundheitlichen Bereich beschränkt (BSG SozR 2200 § 182 Nr. 73). Deshalb kann eine medizinisch begründete Notwendigkeit für die hier streitige Ausstattung mit einer SMP-Anlage nicht bereits deshalb verneint werden, weil die durch diese Hörhilfe ermöglichte Teilnahme am normalen Schulunterricht nicht ihrerseits medizinisch notwendig ist. Die Krankenkasse hat vielmehr ein zum unmittelbaren Behinderungsausgleich benötigtes Hilfsmittel so zu gewähren, daß es den Funktionsausfall möglichst weitgehend im Rahmen einer normalen Lebensführung ausgleicht.
Die SMP-Anlage gleicht die Hörbeeinträchtigung des J…, wie bereits dargelegt, weitergehend aus, als die von der Beklagten bereits gewährten Hörgeräte. Diese haben eine Teilnahme am normalen Unterricht einer Volksschule nicht zugelassen. Erst die Verbesserung der Hörfähigkeit mittels der SMP-Anlage ermöglichte es dem Kind, am normalen Schulunterricht teilzunehmen. Dem Hilfsmittel kann insoweit die Notwendigkeit i.S. von § 182 Abs. 2 RVO auch nicht deshalb abgesprochen werden, weil dem Hörgeschädigten ohne diese Anlage der Besuch einer Gehörlosenschule möglich war. Muß die Krankenkasse ein zum unmittelbaren Behinderungsausgleich erforderliches Hilfsmittel so gewähren, daß es den Funktionsausfall möglichst weitgehend im Rahmen einer normalen Lebensführung ausgleicht, so muß für einen Schüler die Befähigung zur Teilnahme am "normalen" Schulunterricht als notwendig angesehen werden. Das Urteil des 3. Senats des BSG vom 26. Oktober 1982 (3 RK 16/82) steht dem nicht entgegen. Der Funktionsausgleich mittels der SMP-Anlage erweist sich insoweit auch als "unvermeidlich", um elementare, normale Lebensbedürfnisse zu erfüllen.
Da der Kläger demnach einen Ersatzanspruch nach § 1531 RVO hat, konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.8 RK 32/82
Bundessozialgericht
Fundstellen
Haufe-Index 518389 |
Breith. 1984, 283 |