Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfall im privaten Bereich. Wohnung und Arbeitsstätte in demselben Haus. Zulässigkeit der Feststellungsklage
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Versicherungsschutzes bei einem Unfall im privaten Wohnbereich nach einem Alarmruf.
Orientierungssatz
1. Bei Unfällen auf Wegen innerhalb des häuslichen Bereichs, die der Aufnahme oder Wiederaufnahme der betrieblichen Tätigkeit in einem Hause dienen, in dem sich Wohnung und Arbeitsstätte befinden, ist Versicherungsschutz gegeben, wenn der Versicherte durch besondere Umstände gezwungen war, die Verrichtung ausschließlich und in unmittelbarer Aufnahme der versicherten Tätigkeit in einem bestimmten Zeitpunkt auszuführen (vgl BSG vom 11.11.1971 2 RU 133/68 = USK 71170).
2. Die Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG ist zulässig, unabhängig davon, daß die zunächst außerdem geltend gemachten Leistungsansprüche nicht weiter verfolgt worden sind (vgl BSG vom 22.3.1983 2 RU 64/81 = SozSich 1983, 297).
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 55 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 26.09.1984; Aktenzeichen L 6 U 212/84) |
SG Hannover (Entscheidung vom 12.03.1984; Aktenzeichen S 19 U 190/83) |
Tatbestand
Der Kläger war ehrenamtlicher Vorsteher eines Wasserschutzverbandes, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Satzungsgemäß oblagen ihm die Verbandsgeschäftsführung und die Überwachung der gesamten Schalt- und Steuerungsanlage. Die Schaltanlage war im Erdgeschoß des von ihm bewohnten Hauses unterhalb seines Schlafzimmers installiert. Bei Störungen ertönte aus dem Schaltkasten ein elektronisches Signal. Der Kläger beseitigte Störungen durch entsprechende Schaltungen, behob sie an Ort und Stelle oder veranlaßte deren Behebung durch einen Handwerker oder den Verbandsingenieur.
Am 26. September 1982 stürzte der Kläger gegen 0.30 Uhr in seinem Schlafzimmer und zog sich dabei einen Verrenkungsbruch des rechten oberen Sprunggelenkes zu, nachdem er unmittelbar davor von seiner Ehefrau geweckt und auf ein Tonsignal aus dem Schaltschrank aufmerksam gemacht worden war, dessen Ursache er feststellen wollte.
Die Beklagte lehnte eine Entschädigung ab, da der Kläger innerhalb seines Privatraumes nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe (Bescheid vom 25. Mai 1983).
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. März 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Bescheid der Beklagten sowie das Urteil des SG aufgehoben und antragsgemäß festgestellt, daß der Verrenkungsbruch des rechten oberen Sprunggelenkes Folge des Arbeitsunfalls des Klägers ist (Urteil vom 26. September 1984). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Die Feststellungsklage sei zulässig und auch begründet. Der Kläger habe den Unfall bei seiner nach § 539 Abs 1 Nr 13 Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Tätigkeit als ehrenamtlicher Vorsteher des Wasserbeschaffungsverbandes, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, erlitten. Schon mit dem Aufstehen nach dem Schlaf habe der Kläger eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit - die beabsichtigte Kontrolle des Schaltschranks - begonnen. Der vorliegende Fall unterscheide sich von demjenigen, in denen nach der Rechtsprechung der Versicherungsschutz auf Wegen zur Arbeitsstätte, die innerhalb eines Hauses liege, in der sich auch die Wohnung befinde, erst mit dem Erreichen der Betriebsstätte angenommen werde. Denn hier habe der Kläger bereits mit seiner Reaktion auf das Tonsignal handeln müssen und damit objektiv sowie nach seiner eigenen Vorstellung die unternehmensbezogene Tätigkeit aufgenommen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte Bedenken gegen den allein noch erhobenen Feststellungsantrag geltend und vertritt weiterhin die Auffassung, der Kläger habe bei dem in seinem häuslichen Bereich erlittenen Unfall nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Außerdem rügt die Beklagte eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision, deren Zulassung das LSG nicht auf einen bestimmten Anspruch beschränkt hat (s BSGE 3, 135, 138), ist insgesamt zulässig, wie die Beklagte zutreffend geltend macht. Sie ist aber nicht begründet.
Die Feststellungsklage ist entgegen den von der Revision geäußerten Bedenken zulässig. Die in § 55 Abs 1 Nr 3 SGG vorgesehene, dem sozialgerichtlichen Verfahren eigentümliche besondere Gestaltung des auch in anderen Verfahrensordnungen geläufigen Instituts der allgemeinen Feststellungsklage sieht die - hier vom Kläger begehrte - Feststellung, daß eine Gesundheitsstörung die Folge eines Arbeitsunfalls ist, nach dem Gesetzeswortlaut ausdrücklich vor. An dem nach § 55 Abs 1 SGG erforderlichen Interesse an der baldigen Feststellung fehlt es nicht deshalb, weil der Kläger den noch im ersten Rechtszug gestellten Leistungsantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht mehr aufrechterhalten hat. Die begehrte Feststellung hat nicht nur Bedeutung für einen bereits bestehenden Leistungsanspruch. Sie kann vielmehr auch für künftig in Betracht kommende Regelungen und Entscheidungen erheblich sein, da mit der rechtskräftigen Feststellung bestimmter Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalls die festgestellten Schädigungen Grundlage jeder späteren Regelung des Rechtsverhältnisses sind. Die Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG ist danach zulässig, unabhängig davon, daß die zunächst außerdem geltend gemachten Leistungsansprüche nicht weiter verfolgt worden sind (s BSG Urteil vom 22. März 1983 - 2 RU 64/81 - mwN).
Zu Recht hat das LSG die Klage auch als begründet angesehen. Der Kläger hat den Unfall, durch den er sich einen Verrenkungsbruch des rechten oberen Sprunggelenkes zuzog, bei einer versicherten Tätigkeit erlitten (§ 548 RVO).
Als ehrenamtlicher Vorsteher des Wasserbeschaffungsverbandes, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, gehörte der Kläger zu den ehrenamtlich Tätigen, die nach § 539 Abs 1 Nr 13 RVO gegen Arbeitsunfall versichert sind. Sein Tätigkeitsbereich umfaßte ua die Überwachung der in seinem Haus installierten Schalt- und Steuerungsanlage des Verbandes. Er war verpflichtet, Störungen festzustellen, zu beheben oder deren Behebung zu veranlassen. Nach den insoweit unangefochtenen und deshalb für das BSG bindenden Feststellungen im Urteil des LSG (§ 163 SGG) wurde der Kläger, der sich bereits zur Nachtruhe begeben hatte, gegen 0.30 Uhr nach dem Ertönen des Signals der Schaltanlage von seiner Ehefrau geweckt und dachte sogleich an eine Wiederholung des schon am Abend zuvor einmal eingetretenen Störfalles in einem nicht gefüllten Wasserbehälter. In diesem Fall hätte er sofort den Verbandsingenieur benachrichtigen müssen. Um die wirkliche Ursache des Tonsignals festzustellen, wollte er den im Erdgeschoß unter seinem Schlafzimmer gelegenen Raum aufsuchen, in dem die Schaltanlage installiert war. Nach dem Aufstehen stürzte er noch innerhalb seines Schlafzimmers. Der Senat stimmt der Auffassung des LSG zu, daß der Kläger unter diesen tatsächlichen Umständen im Unfallzeitpunkt bereits mit dem Aufstehen aus dem Bett, um die Ursache des Tonsignals festzustellen, eine - jedenfalls von seinem berechtigten Standpunkt aus (s BSGE 52, 57, 59 mwN; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Auf., S 480 n, ebenfalls mwN) - dem Unternehmen wesentlich dienende Tätigkeit aufgenommen hat (s auch BSG SozR 2200 § 548 Nr 51). Die Einwendungen der Revision greifen demgegenüber nicht durch.
Auf dem Weg zur Aufnahme der betrieblichen Tätigkeit in Fällen, in denen sich Wohnung und Arbeitsstätte innerhalb eines Hauses befinden, wird der Versicherungsschutz grundsätzlich zwar erst mit dem Erreichen wesentlich betrieblich genutzter Räume angenommen (s ua BSGE 11, 267, 270; 12, 165, 166; Brackmann aaO S 480 x ff mwN; Lauterbach/Watermann, Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 55 mwN). Dies bedeutet jedoch nicht, daß eine - wie hier - betriebsdienliche Verrichtung dem Versicherungsschutz deshalb nicht unterläge, weil sie im häuslichen, privaten Bereich ausgeübt wird (s Brackmann aaO S 480 y mwN; Lauterbach/ Watermann aaO). Auch hat das BSG bei Unfällen auf Wegen innerhalb des häuslichen Bereichs, die der Aufnahme oder Wiederaufnahme der betrieblichen Tätigkeit in einem Hause dienen, in dem sich Wohnung und Arbeitsstätte befinden, den Versicherungsschutz bejaht, wenn der Versicherte - wie hier - durch besondere Umstände gezwungen war, die Verrichtung ausschließlich und in unmittelbarer Aufnahme der versicherten Tätigkeit in einem bestimmten Zeitpunkt auszuführen (BSG Urteile vom 26. Juni 1970 - 2 RU 126/68 - und vom 11. November 1971 - 2 RU 133/68 -; s auch BSGE 11, 265, 269; BSG SozR Nr 20 zu § 543 RVO aF). Unzutreffend hält die Beklagte der vom Senat geteilten Auffassung des LSG entgegen, die Erstreckung des Versicherungsschutzes auf Tätigkeiten im privaten Bereich führe zu dem nicht begründeten Ergebnis, daß der Kläger rund um die Uhr bei jeglicher Betätigung in seinem Hause unter Versicherungsschutz gestanden hätte. Es ist selbstverständlich, daß der Kläger trotz seiner steten Bereitschaft, in Störfällen einzugreifen, bei dem privaten Bereich zuzurechnenden, sog. eigenwirtschaftlichen Verrichtungen - unabhängig davon, in welchen Räumen er sich befand -, nicht dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 13 RVO unterlag.
Ein von der Revision gerügter Mangel der Sachaufklärung (§ 103 SGG) liegt nicht vor. Die nach der Meinung der Revision nicht geklärte Frage, wie es zu dem Unfall gekommen ist - lediglich im Tatbestand des Urteils sei angegeben, daß der Kläger über einen Bettvorleger stolperte -, ist für die Entscheidung nicht erheblich. Auch wenn der Kläger über einen Bettvorleger stolperte, ist der Versicherungsschutz nicht deshalb zu verneinen, weil, wie die Revision meint, ein ähnlicher Unfall dem Kläger - zwar hier nicht zustieß, aber - jederzeit und bei jeder alltäglichen Verrichtung hätte zustoßen können. Dies ist zB auch bei einem Unfall - insbesondere einem Verkehrsunfall - auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit nicht auszuschließen, ohne daß deshalb der Versicherungsschutz in Zweifel gezogen wird. Die von der Revision in bezug genommene Entscheidung des BSG vom 27. November 1980 (SozR 2200 § 548 Nr 51) betrifft einen insoweit hier nicht gegebenen Sachverhalt (Unfall aus innerer Ursache). Nach den Feststellungen des LSG besteht im vorliegenden Fall kein Anhalt dafür, daß der Kläger infolge einer inneren Ursache zu Fall gekommen ist. Das LSG hat hervorgehoben, daß dies auch von der Beklagten nicht behauptet worden sei. Das Vorbringen der Revision, der Kläger sei im Unfallzeitpunkt Frührentner gewesen, enthält einen im Revisionsverfahren unzulässigen neuen Tatsachenvortrag. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, inwiefern sich allein aufgrund dieses Umstandes - seine Richtigkeit unterstellt - ohne Hinweis in den Arztbriefen und ohne entsprechendes Vorbringen der Beklagten dem LSG die Prüfung hätte aufdrängen müssen, ob der Kläger an Blutunterdruck oder einer sonstigen Kreislauferkrankung litt.
Die Revision ist danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen