Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 17.05.1962) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Mai 1962 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Vor Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Kläger ist bei der „Feinprüf”, Feinmeß- und Prüfgeräte GmbH in Göttingen, einem Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft, beschäftigt. Den etwa 5 km langen Weg von seinem Wohnort Elliehausen zur Arbeitsstätte und zurück pflegt er mit seinem Motorrad zurückzulegen. Am 27. November 1958 hatte er bis 16.45 Uhr zu arbeiten. Danach verließ er alsbald die Arbeitsstätte und fuhr zunächst seinen üblichen Heimweg bis zur Leinebrücke in Göttingen. Von dort bog er nicht, wie sonst, in die Königsallee Richtung Elliehausen ein, sondern fuhr nach Grone, wo er seinen Hausarzt aufsuchte. Auf der Rückfahrt zu seinem Wohnort stieß er um 18 Uhr im Stadtgebiet von Göttingen, nachdem er seine übliche Wegstrecke wieder erreicht hatte, mit einem Kabinenroller zusammen. Dabei zog er sich einen komplizierten Unterschenkelbruch rechts zu. Deswegen wurde er bis zum 11. Dezember 1958 in der chirurgischen Universitätsklinik stationär behandelt.
Den Entschädigungsanspruch des Klägers lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 24. März 1959 ab, weil der Weg, auf dem er verunglückt sei, weder in einem zeitlichen noch in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe.
Die hiergegen gerichtete Klage ist im ersten Rechtszuge ohne Erfolg geblieben. Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat in seinem klagabweisenden Urteil vom 3. Februar 1960 ausgeführt: Der Weg des Klägers im Anschluß an seine Betriebstätigkeit habe seinen privaten Interessen gedient, und die dafür benötigte Zeit sei bei einem Vergleich mit der normalen Dauer des Heimwegs nicht unerheblich gewesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen am 17. Mai 1962 die erstinstanzliche Entscheidung und den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Es hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 27. November 1958 Unfallentschädigung zu gewähren. Das LSG hat unentschieden gelassen, ob die Fahrt zum Arzt aus dem Gesichtspunkt der Wiederherstellung der Arbeitskraft des Klägers seiner versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist. Es hat Versicherungsschutz für den Zeitpunkt des Unfalls schon deshalb angenommen, weil durch die Fahrt zum Arzt der Heimweg lediglich unterbrochen, dessen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aber nicht gelöst worden sei. Es hat unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG), veröffentlicht in SozR RVO § 543 Bl. Aa 4 Nr. 7 und Aa 22 Nr. 29, ausgeführt: Nach einer Unterbrechung des versicherten Weges stehe der restliche Teil nur in Ausnahmefällen außer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, und zwar nur dann, wenn Dauer und Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhangs hindeuteten. Im vorliegenden Falle reiche eine eineinhalbstündige Unterbrechung des Weges aus privaten Gründen auch in Anbetracht der Tatsache, daß die übliche Heimfahrt nur eine Viertelstunde gedauert habe, nicht aus, um den Heimweg außer Beziehung zu der betrieblichen Tätigkeit zu setzen. Das Verhältnis zwischen der Dauer der Unterbrechung und der üblichen Fahrzeit sei kein geeignetes, jedenfalls kein entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung der bloßen Unterbrechung des Weges zur Lösung des Zusammenhangs. Es komme darauf an, welche innere Einstellung der Versicherte bei der den Heimweg unterbrechenden Verrichtung gehabt habe und bei Berücksichtigung der allgemeinen und individuellen Umstände sowie bei Betrachtung unter objektiven und subjektiven Gesichtspunkten haben konnte. Der Kläger habe bei der Fahrt zum Arzt keinen Augenblick sein Ziel außer acht gelassen, nach Beendigung seiner betrieblichen Tätigkeit auf dem normalen Heimweg wieder zu seiner Wohnung zu gelangen. Deshalb habe er im Zeitpunkt des Unfalls nach § 543 Abs. 1 der Reichs versicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden.- Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 12. Juni 1962 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 26. Juni 1962 Revision eingelegt und diese am 18. August 1962 begründet, nachdem die Frist gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bis zum 12. September 1962 verlängert worden war.
Die Revision ist der Auffassung, die Fahrt zum Arzt habe zur Lösung des Zusammenhangs zwischen dem unfallbringenden Weg und der Arbeitstätigkeit des Klägers geführt. Dies folgert sie daraus, daß die Dauer der Unterbrechung des Weges zur Dauer des üblichen Heimwegs in dem außergewöhnlichen Mißverhältnis von 4:1 gestanden und der Arztbesuch keine auch noch so lose Beziehung zur versicherten Tätigkeit des Klägers gehabt habe.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Kläger mit der Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.
Das LSG hat mit Recht angenommen, daß der Kläger auf der Wegstrecke, auf der er verunglückt ist, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat. Die Beantwortung der Frage, wann ein Weg nach oder von der Arbeitsstätte wegen einer vorausgegangenen Unterbrechung nicht mehr als ein mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängender Weg (§ 543 Abs. 1 Satz 1 RVO) angesehen werden kann, die Unterbrechung also zur Lösung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit führt, hängt in der Regel nicht ausschlaggebend davon ab, in welchem Verhältnis die Dauer; der Unterbrechung zur Dauer des üblichen Heimwegs steht. Die gegenteilige Auffassung der Revision findet keine Stütze in den von ihr angeführten Entscheidungen des erkennenden Senats in SozR RVO § 543 Bl. Aa 21 Nr. 28 und Aa 26 Nr. 33. Beide Entscheidungen betreffen nicht das Wiederaufleben des Versicherungsschutzes nach einer in die Zurücklegung des Weges nach oder von der Arbeitsstätte eingeschobenen unversicherten Verrichtung, sondern die Frage, wann ein Unfall während eines Abweichens vom kürzesten Wege ein Arbeitsunfall ist. Nur für Umwege hat der Senat neben dem absoluten Unterschied zwischen dem eingeschlagenen und dem kürzesten oder üblichen Weg das Verhältnis zwischen den beiden Wegstrecken als rechtlich erheblich angesehen. In Ausnahmefällen kann allerdings das Verhältnis zwischen der Dauer der Unterbrechung und der Dauer des Weges im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO für die Lösung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit von Bedeutung sein, nämlich z. B. dann, wenn der Versicherte in unmittelbarer Nähe seiner Arbeitsstätte wohnt. In einem solchen Falle wird ein Beschäftigter üblicherweise zunächst seine Wohnung aufsuchen und erst dann zu persönlichen Verrichtungen übergehen; tut er dies nicht, besucht er vielmehr unmittelbar nach Beendigung seiner Arbeit beispielsweise eine Gastwirtschaft, so kann dies zur Folge haben, daß der Heimweg aus der Gastwirtschaft, auch wenn der Besuch nur kurze zeit gedauert hat, nicht mehr mit der versicherten Tätigkeit in einem rechtlichen wesentlichen Zusammenhang steht. Einen solchen Ausnahmefall sieht der Senat jedoch nicht als gegeben an, wenn – wie hier – der Heimweg 5 km beträgt und der Versicherte mit der Unterbrechung den Zweck verfolgt, einen Arzt aufzusuchen, der von seiner Arbeitsstätte aus wesentlich leichter und schneller zu erreichen ist als von seiner Wohnung aus. Es muß daher bei dem vom Senat wiederholt ausgesprochenen Grundsatz verbleiben, daß nach einer Unterbrechung des Weges nach oder von der Arbeitsstätte der Rest des Weges nur ausnahmsweise, und zwar nur dann außer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht, wenn Dauer und Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhangs schließen lassen (vgl. BSG SozR RVO § 543 Bl. Aa 4 Nr. 7; BSG 10, 226, 228; BSG SozR RVO § 543 Bl. Aa 22 Nr. 29). Solche für eine Lösung des Zusammenhangs sprechenden Merkmale liegen in dem hier zu entscheidenden Streitfalle nicht vor. Vor allem fällt die Dauer der Unterbrechung von einer bis eineinviertel Stunde nicht so stark ins Gewicht, daß sie für sich allein schon zur Lösung führen müßte. Auch der mit dem Arztbesuch verbundende Zweck ist selbst dann, wenn der Kläger nicht wegen einer Krankheit, die er sich im Betrieb zugezogen hatte, den Arzt aufgesucht hat, nicht so betriebsfremd, daß der zweite Teil des Heimwegs nicht mehr in Zusammenhang mit der vorangegangenen Arbeitstätigkeit gesehen werden müßte. Das LSG hat daher für den Unfall des Klägers mit Recht Versicherungsschutz angenommen.
Die Revision der Beklagten war somit als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Unterschriften
Demiani, Bundesrichter Dr. Baresel ist durch Urlaub verhindert, das Urteil zu unterschreiben, Schmitt
Fundstellen
Haufe-Index 926739 |
NJW 1963, 1998 |