Leitsatz (amtlich)
Stellt der Beschäftigte, der als "Pendler" auf den Wegen nach dem Ort der Tätigkeit zunächst seinen Personenkraftwagen und anschließend die Eisenbahn benutzt, den Personenkraftwagen in einer an der Strecke zwischen Wohnung und Bahnhof befindlichen Garage ab, so bewirkt diese - in den bereits angetretenen Weg eingeschobene - Verrichtung als solche grundsätzlich keine Unterbrechung des Unfallversicherungsschutzes.
Läßt sich nicht aufklären, ob die Kohlendioxydvergiftung, die der Beschäftigte in der Garage erlitt, unmittelbar beim Abstellen des Personenkraftwagens oder erst während eines zusätzlichen, nicht betriebsbedingten Aufenthalts eintrat, so sind die Folgen dieser Ungewißheit nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast von den Hinterbliebenen zu tragen.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Juni 1967 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin ist die Witwe des am 23. April 1965 verstorbenen Angestellten H W V (V.), der in H bei einem Unternehmen beschäftigt war, für dessen Unfallversicherung (UV) die Beklagte zuständig ist. Die Eheleute V. wohnten in W, H.-straße. Für die Bahnfahrt nach H benutzte V. den Frühzug 5.47 Uhr ab W. Zum Bahnhof W begab er sich, indem er zunächst von zu Hause mit seinem Pkw nach der - etwa halbwegs zwischen H.-straße und Bahnhof gelegenen - Wohnung seiner Schwiegereltern in der S.-straße fuhr, dort den Wagen in der ihm überlassenen - auf einem etwa 10 m langen Zufahrtweg erreichbaren - Garage abstellte und den restlichen Weg zu Fuß zurücklegte. Am 23. April 1965 brachte V. zuvor noch seinen Hund zu seiner "I" wohnenden Tante; hierbei fuhr er an der Wohnung der Schwiegereltern vorbei in eine abseits vom gewöhnlichen Weg führende Richtung, kehrte dann in die S.-straße zurück und stellte den Pkw in der Garage ein. In der Garage, deren Kipptür nahezu geschlossen war, wurde V. gegen 8.30 Uhr tot aufgefunden; er lag auf dem Fahrersitz des Pkw's, dessen Motor noch lief. Als Todesursache wurde CO-Vergiftung durch Auspuffgase bescheinigt.
Mit Bescheid vom 29. Dezember 1965 lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch der Klägerin ab, weil ein nach § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherter Wegeunfall nicht anerkannt werden könne.
Das Sozialgericht (SG) Frankfurt hat am 7. September 1966 die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Hinterbliebenenrente zu gewähren: V. habe den Weg zur Arbeitsstätte durch das Einstellen seines Pkw's in die Garage nicht unterbrochen.
Für die Annahme der Beklagten, er habe eine Reparatur am Wagen vorgenommen, bestehe keine hinreichende Wahrscheinlichkeit. Möglicherweise habe V. feststellen wollen, ob der Auspuff beim Einfahren beschädigt wurde; eine derart kurze Prüfung des Wagens hätte den Zusammenhang des Weges zur Arbeitsstätte nicht unterbrochen. Da das dem Tode des V. vorausgehende Geschehen in der Garage nicht näher aufzuklären sei, müsse der UV-Schutz bejaht werden, denn die objektive Beweislast dafür, daß V. durch sein Verhalten in der Garage den inneren Zusammenhang mit der Zurücklegung des Weges unterbrochen oder gelöst habe, treffe die Beklagte (BSG 7, 249, 254). Für Selbstmordabsichten des V. gebe es keinerlei Anhaltspunkte.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 21. Juni 1967 unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung die Klage abgewiesen: V. habe sich im Unfallzeitpunkt nicht auf dem Weg zur Arbeitsstätte befunden. Beim Fortbringen des Hundes habe er einen unversicherten Abweg zurückgelegt. Der UV-Schutz sei mit dem Einbiegen zur Garage und dem Abstellen des Pkw's nicht begründet worden, da V. hierbei den privaten Lebensbereich noch nicht wieder verlassen habe. Das Abstellen des Pkw's in der ihm zur beliebigen Nutzung für private Zwecke überlassenen Garage habe zum persönlichen Lebensbereich des V. gehört, daher hätten jedenfalls nach Durchschreiten des Garagentors die ursächlichen Beziehungen zu diesem Bereich rechtlich allein im Vordergrund gestanden (BSG 22, 10). Sollte V. in der Garage irgendwelche Arbeiten verrichtet haben, so könnten diese nur dem persönlichen Lebensbereich zugerechnet werden; für die Fortsetzung des Weges zum Bahnhof wäre übrigens eine etwaige Reparatur des Pkw's nicht erforderlich gewesen. Ein UV-Schutz nach § 549 RVO komme nicht in Betracht. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 24. August 1967 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 4. September 1967 Revision eingelegt und sie am 11. September 1967 folgendermaßen begründet: Das LSG habe § 550 RVO unrichtig angewandt. Der am Unfallmorgen eingeschobene Abstecher vom Weg zur Arbeitsstätte sei allerdings unversichert gewesen. Mit der Rückkehr zum schwiegerväterlichen Anwesen und dem Einbiegen in die am Weg zum Bahnhof gelegene Garage habe V. jedoch seinen versicherten Weg zur Arbeitsstätte fortgesetzt. Das Hineinfahren und Abstellen des Pkw's stellten einen Teil dieses Weges dar. Hätte V. den Wagen vor dem schwiegerväterlichen Haus auf der Straße stehen gelassen, wäre der Weg zweifelsfrei nicht unterbrochen worden; der Kraftfahrer, der seinen Wagen in eine am Weg befindliche Garage stelle, dürfe aber versicherungsrechtlich nicht gegenüber demjenigen benachteiligt werden, der das Fahrzeug am Straßenrand stehen lasse. Die Annahme, V. könnte durch Ausübung einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit innerhalb der Garage seinen Weg zur Arbeitsstätte unterbrochen haben, sei widerlegt, zumindest habe die hierfür beweispflichtige Beklagte einen solchen Nachweis nicht führen können. Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 7. September 1966 zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, am Morgen des Unfalltages habe das Abstellen des Pkw's in der Garage keinen Teil des Weges zur Arbeitsstätte, sondern einen Teil der Rückkehr vom eigenwirtschaftlichen Abweg zur Wohnung der Tante dargestellt; der UV-Schutz hätte daher erst in dem Augenblick begonnen, wenn V. die Garage verlassen und zu Fuß den Weg zum Bahnhof eingeschlagen hätte.
II
Die zulässige Revision der Klägerin hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden muß.
Zutreffend hat die Revision gerügt, daß das LSG die Beziehung des V. zur Garage, in der er tagsüber seinen Pkw abzustellen pflegte, in Anlehnung an versicherungsrechtliche Grundsätze beurteilt hat, welche auf den hier zu entscheidenden Sachverhalt nicht passen. Dieser Sachverhalt ist dadurch gekennzeichnet, daß der Weg des V. von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte hinsichtlich der Art der Fortbewegung in mehrere Etappen zu unterteilen ist: 1. Fahrt mit dem - vermutlich vor dem Wohnhaus im Freien abgestellten - Pkw von der H.-straße zur Garage in der S.-straße, 2. Fußweg von der Garage zum Bahnhof W, 3. Bahnfahrt W.-bach - H und 4. Weg (zu Fuß oder mit öffentlichem Verkehrsmittel) vom Bahnhof H zur Dienststelle. Die Etappen 1 und 2, auf die es hier besonders ankommt, machen Überlegungen erforderlich, die in der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats noch nicht angestellt zu werden brauchten. Diese - vom LSG und von der Beklagten zum Teil angeführte - Rechtsprechung (vgl. BSG 22, 10, 240; 24, 243; SozR Nr. 4 zu § 550 RVO) betraf durchweg Fälle, in denen sich ein Unfall des Beschäftigten am Abstellplatz des für die Wege nach und von der Arbeitsstätte benutzten Fahrzeugs vor oder bei Antritt bzw. bei oder nach Beendigung eines solchen Weges ereignet hatte. Ob dabei der Abstellplatz sich im Keller des Wohnhauses oder auf dem Grundstück (evtl. vom Wohnhaus ziemlich weit entfernt - vgl. SozR Nr. 4 zu § 550 RVO) befand, immer erhob sich die Frage, ob der Beschäftigte, wenn er morgens die Garage aufsuchte, hierbei noch im unversicherten "häuslichen Bereich" oder schon auf dem versicherten "Weg" war. Von irgendwelchen Zweifeln dieser Art kann im vorliegenden Fall keine Rede sein, vielmehr ist es völlig klar, daß V. nach dem Verlassen des von ihm bewohnten Hauses in der H.-straße die 1. Etappe seines Weges zur Arbeitsstätte antrat. Den Übergang von dieser Etappe zur nächsten bildeten dann das Hineinfahren und Abstellen des Pkw's in die am direkten Weg zum Bahnhof gelegene Garage des Schwiegervaters. Hierzu macht die Revision mit Recht geltend, daß es nicht einleuchten würde, dem Kraftfahrer, der seinen Pkw vor Erreichen des Bahnhofs am Straßenrand stehen läßt, einen kontinuierlichen UV-Schutz zuzugestehen, ihn dagegen demjenigen zu verweigern, der seinen Pkw aus dem Bereich des Straßenverkehrs in eine ohne erheblichen Umweg zugängliche Garage bringt, um von ihr aus dem Bahnhof zuzustreben. Eine gegenteilige Beurteilung würde allzusehr die Verkehrsprobleme vernachlässigen, die sich in neuerer Zeit ua aus der Anlage von Wohngemeinden (Trabantenstädte) im Umkreis von wirtschaftlichen Ballungszentren ergeben. Die Belange der zahlreichen "Pendler", die auf ihren Wegen von der Wohnung zur Arbeitsstätte etappenweise eigene Fahrzeuge und öffentliche Verkehrsmittel benutzen müssen, sowie die Notwendigkeit, Verkehrsblockierungen durch massenhaft auf Fahrbahnen abgestellte Privatfahrzeuge möglichst entgegen zu wirken, sprechen nach Meinung des Senats überzeugend gegen die Betrachtungsweise des LSG.
Diese Erwägungen betreffen den normalen Fall, d.h. die Art und Weise, wie V. gewöhnlich die oben bezeichneten Etappen 1 und 2 seines Weges zur Arbeitsstätte zurücklegte. Am Unfalltage lagen die Dinge insofern anders, als V. zunächst den Hund wegbrachte, wobei er am schwiegerväterlichen Haus in der S.-straße vorbei zur "M" fuhr, dort umkehrte und erneut zum Anwesen in der S.-straße gelangte, um nunmehr den Pkw über die 10 m lange Einfahrt in die Garage hineinzufahren. Die Ansicht des LSG, daß der "Abstecher" zur Wohnung der Tante nicht zu dem nach § 550 RVO versicherungsgeschützten Weg gehörte, trifft zu, wird auch von der Revision nicht angezweifelt. Dagegen kann der vom LSG und von der Beklagten vertretenen Auffassung zur Frage, wann und wo dieser "Abstecher" in den versicherten Weg zum Bahnhof überging, nicht gefolgt werden. Nach der Rechtsprechung (vgl. SozR Nr. 12 zu § 543 RVO aF) war dies der Fall, sobald V. wieder an diejenige Stelle gelangte, von der aus er vorher vom normalen Weg abgewichen war. Diese Stelle befand sich aber nicht in der Garage, sondern bereits am Beginn der Einfahrt in das schwiegerväterliche Grundstück; hierin wäre V. auf jeden Fall - auch ohne den eingeschobenen Besuch bei der Tante - auf dem normalen Weg zum Bahnhof gelangt. Es ist daher nicht möglich, den UV-Schutz - wie es im angefochtenen Urteil angestrebt wird - allein aufgrund räumlicher Abgrenzungsmerkmale zu verneinen.
Für die Frage, ob V. im Zeitpunkt der CO-Vergiftung unter UV-Schutz stand oder diesen durch Unterbrechung bzw. Lösung des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit eingebüßt hatte, kommt es somit entscheidend auf die Prüfung der Vorgänge an, die sich seit dem Augenblick des Einfahrens in die Garage abgespielt haben. Das angefochtene Urteil enthält hierzu keine näheren Feststellungen, ferner hat das LSG - im Unterschied zum SG - von jeglicher Würdigung der vorliegenden Beweisergebnisse abgesehen, sich auch nicht dazu geäußert, ob und inwiefern die Ermittlungen zur Klärung des Sachverhalts noch ergänzungsfähig erscheinen oder als abgeschlossen gelten müssen. Da für dies alles im Revisionsverfahren keim Raum ist, wird es im erneuten Berufungsverfahren nachzuholen sein; nach dem derzeitigen Eindruck des Senats wäre zu erwägen, einen Sachverständigen darüber zu hören, wie lange es gedauert hat, bis V. durch CO-Einwirkung bei den gegebenen Verhältnissen bewußtlos wurde. Gelangt das LSG schließlich - wie das SG - zu einem non liquet, so wird es zu beachten haben, daß die vom SG vertretene Auffassung zur Frage der Beweislastverteilung nicht zutrifft, sondern daß die Folgen einer objektiven Beweislosigkeit von der Entschädigung beanspruchenden Klägerin zu tragen wären (vgl. BSG 30, 121 und das gleichfalls zur Veröffentlichung bestimmte Urteil vom 30. Januar 1970 - 2 RU 175/67 -).
Da der Senat hiernach nicht in der Sache selbst entscheiden kann, muß die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden, dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens obliegen wird.
Fundstellen
Haufe-Index 1670112 |
BSGE, 143 |