Leitsatz (amtlich)
Zur Anwendung des RVO § 1271, wenn der Empfänger einer Versichertenrente verschollen ist und hinterbliebenenrentenberechtigte Angehörige vorhanden sind.
Normenkette
RVO § 1271 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. Oktober 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Es ist umstritten, ob die Beklagte zur Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in voller Höhe verpflichtet ist.
Der 1909 geborene Kläger, der Versicherte, ist seit 8. Februar 1972, als er die eheliche Wohnung verließ, vermißt. Er ist durch die im August 1973 gerichtlich bestellte Abwesenheitspflegerin, seine Ehefrau, vertreten.
Ein früherer Rechtsstreit zwischen den Beteiligten (SG Köln - S 7 J 270/70) wegen Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit an den Kläger wurde am 2. Februar 1973 durch einen Vergleich vor dem Sozialgericht (SG) Köln beendet; dabei wurde der Kläger von seiner Ehefrau vertreten. Die Beklagte hatte darin anerkannt, daß der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit beim Kläger eingetreten sei, und sich verpflichtet, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juli 1970 nach "Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen" zu gewähren. In den vorangegangenen Schriftsätzen war mehrfach erwähnt, daß der Kläger seit dem 8. Februar 1972 als vermißt gelte.
Aufgrund des Vergleichs gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 4. Januar 1974 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Juli 1970 bis 31. Januar 1972. Mit Bescheid vom 10. Mai 1974 bewilligte sie die Rente auch für die Zeit ab 1. Februar 1972, jedoch "zur Vermeidung von Überzahlungen nur in Höhe der Witwenrente - sechs Zehntel der Erwerbsunfähigkeitsrente -", weil nicht feststehe, daß der Kläger noch lebe; es handele sich nicht um eine Witwenrente, da bisher keine Umstände dargetan seien, die den Tod des Klägers wahrscheinlich machten (§ 1271 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Das SG hat entsprechend dem Klageantrag die Beklagte zur Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente in voller Höhe über den 31. Januar 1972 hinaus verurteilt (Urteil vom 17. März 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung, die die Beklagte auf ihre Verurteilung für die Zeit ab 1. Juni 1972 (Ablauf des "Sterbevierteljahres") beschränkt hatte, zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 30. Oktober 1975): Aufgrund des Vergleichs vom 2. Februar 1973 sei die Beklagte zur Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente in voller Höhe verpflichtet. Diese Verpflichtung setze voraus, daß der Kläger noch lebe. Davon sei nach der Vermutung des § 10 des Verschollenheitsgesetzes (VerschG) auszugehen. Es könne unerörtert bleiben, ob die Beklagte nach § 1271 RVO den Todestag des Klägers nach billigem Ermessen feststellen könne, denn sie habe bisher eine derartige Erklärung nicht abgegeben. Die Vorlage einer Lebensbescheinigung sei für den Rentenanspruch ohne Bedeutung.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 29. Dezember 1975 zugestellte Urteil des LSG Revision eingelegt. Sie hat beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt die Verletzung des § 10 VerschG und des § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): Für ihre Zahlungspflicht reiche eine Vermutung für das Fortleben des Klägers nicht aus. Erforderlich sei der Beweis des Lebens. Er obliege dem Kläger bzw. seiner gesetzlichen Vertreterin und sei bisher nicht erbracht. Zwar fehle es zur Zeit an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung über die Pflicht zur Vorlage einer Lebensbescheinigung, wie sie die Reichshaushaltsordnung von 1922 enthalten habe. Diese Pflicht ergebe sich aber aus der im Versicherungsverhältnis begründeten Mitwirkungspflicht. Ihre Verletzung berechtige zur Einstellung der Leistung. Sie könne nicht prüfen, ob der Kläger über den Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses hinaus erwerbsunfähig gewesen sei und ob er sich noch im Geltungsbereich der RVO aufhalte (§§ 1286, 1317 RVO). Im Hinblick hierauf stelle das Klagebegehren eine unzulässige Rechtsausübung dar.
Die Beklagte weist noch auf ihren Bescheid vom 3. Dezember 1975 hin: Damit habe sie gemäß § 1271 RVO als Todestag des Klägers den 8. Februar 1972 festgestellt und die Zahlung der Rente mit Ablauf des Monats Januar 1976 eingestellt.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Lebensvermutung nach § 10 VerschG für maßgebend. Eine Pflicht zur Vorlage einer Lebensbescheinigung folge weder aus gesetzlichen Bestimmungen noch aus dem Versicherungsverhältnis. Selbst wenn man eine derartige Nebenpflicht unterstellt, handele die Beklagte treuwidrig, wenn sie vom Kläger eine Lebensbescheinigung verlange, denn sie habe sich in Kenntnis seiner Verschollenheit durch den Vergleich zur Zahlung der Erwerbsunfähigkeitsrente verpflichtet. Zu einer Feststellung des Todestages nach § 1271 RVO sei sie nicht berechtigt, weil diese Vorschrift lediglich bei der Gewährung von Hinterbliebenenrente anzuwenden sei.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
Der beim Bundessozialgericht (BSG) anhängig gewordene Rechtsstreit erfaßt nicht den Bescheid vom 3. Dezember 1975. Durch die Einlegung eines Rechtsmittels fällt in den Grenzen der Anfechtung beim Revisionsgericht nur der Streitstoff an, der Gegenstand der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz war (vgl. auch SozR Nr. 96 zu § 54 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). In der Revisionsinstanz kann - abgesehen von in der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen - nur der sachliche Streitstoff beurteilt werden, der im angefochtenen Urteil des LSG festgestellt ist. Dieser Grundsatz kommt in §§ 163, 171 Abs. 2 SGG zum Ausdruck. Für die Entscheidung des vorliegenden Falles ist unerheblich, ob der Bescheid vom 3. Dezember 1975 als beim SG angefochten gilt (§ 171 Abs. 2 SGG) oder ob er noch Gegenstand des Berufungsverfahrens vor dem LSG geworden ist, weil er vor Rechtskraft des Urteils des LSG ergangen ist (§ 96 SGG).
Das LSG hat ohne Gesetzesverletzung entschieden, daß die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in voller Höhe über den 1. Juni 1972 hinaus verpflichtet ist.
Der Anspruch des Klägers auf Gewährung der vollen Erwerbsunfähigkeitsrente gründet sich auf den Vergleich vom 2. Februar 1973. Das LSG hat zu Recht ausgeführt, daß die Beklagte sich mit dem Vergleich nicht schlechthin zur Gewährung einer vollen Rente unabhängig davon verpflichtet hat, ob der Kläger noch lebt oder nicht. Da den Beteiligten nach den Feststellungen des LSG bei Vergleichsabschluß bekannt war, daß der Kläger seit dem 8. Februar 1972 vermißt wurde, hätte es möglicherweise nahegelegen, eine Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung einer Versichertenrente im Hinblick auf das Vermißtsein des Klägers in dem Vergleich ausdrücklich zeitlich näher zu beschreiben. Eine Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung der Versichertenrente "nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen" ist an sich selbstverständlich, weil die Beklagte an das Gesetz gebunden ist. Daß diese Worte ausdrücklich in dem Vergleich aufgenommen wurden, kann daher nur bedeuten, daß die Beklagte zwar den Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit anerkannt hat, daß sich aber die Fortgewährung der Rente nach dem bei Verschollenheit des Rentenberechtigten anzuwendenden Recht richten solle.
Bei dem vom LSG festgestellten Sachverhalt besteht keine Rechtsgrundlage dafür, die Gewährung der Versichertenrente in dem angefochtenen Bescheid auf sechs Zehntel des errechneten Rentenbetrages zu beschränken.
Mit § 1271 RVO kann diese Kürzung nicht begründet werden, weil die Beklagte bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem LSG einen Todestag des Klägers nicht festgestellt hat. Des ungeachtet könnte an sich daran gedacht werden, § 1271 RVO heranzuziehen; denn § 1271 RVO ist eine Sondervorschrift, die auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung den allgemeinen Verschollenheitszeitraum von zehn Jahren ersetzt. In den Gesetzesmaterialien zur Einführung dieser Vorschrift in die RVO (Reichstags-Drucks. zu Nr. 340, 1909/10, S. 401 zu § 1250 des Entwurfs der RVO) heißt es, da die Todeserklärung nach dem BGB im allgemeinen erst nach zehn Jahren zulässig sei, könne die Gewährung von Hinterbliebenenbezügen nicht von der Todeserklärung abhängig gemacht werden; die Voraussetzungen müßten leichter erfüllbar sein, wenn die Hinterbliebenen rechtzeitig in den Besitz ihrer Bezüge kommen sollten; auf der anderen Seite müsse tunlichst verhütet werden, daß eine Bewilligung geschehe, ehe der Versicherte wirklich gestorben sei; beiden Erfordernissen wolle der Entwurf genügen.
Nach § 1271 RVO wird Hinterbliebenenrente auch gewährt, wenn der Versicherte verschollen ist; er gilt als verschollen, wenn während eines Jahres keine glaubhaften Nachrichten von ihm eingegangen sind und die Umstände seinen Tod wahrscheinlich machen; der Träger der Rentenversicherung stellt den Todestag Verschollener nach billigem Ermessen fest. § 1271 RVO betrifft nach seinem Wortlaut unmittelbar Ansprüche auf Hinterbliebenenrente. Die Feststellung des Todestages eines verschollenen Versicherten als Voraussetzung für die Entstehung von Hinterbliebenenrentenansprüchen führt gleichzeitig auch zur Einstellung der Zahlung einer Versichertenrente des Verschollenen; denn mit dem Monat des Todeszeitpunktes endet der Anspruch auf Versichertenrente (vgl. § 1294 RVO). Diese beiden Wirkungen der Feststellung des Todestages können nicht voneinander getrennt werden. Nach dem System der Rentenversicherung schließen Versichertenrente und Hinterbliebenenrente aus demselben Versicherungsverhältnis einander aus.
Ein Bedürfnis, § 1271 RVO heranzuziehen, könnte auch deshalb angenommen werden, weil die Angehörigen eines Verschollenen grundsätzlich nach allgemeinen schuldrechtlichen Vorschriften nicht zur Annahme einer Versichertenrente befugt sind, denn Gläubiger der Versichertenrente gegenüber dem Rentenversicherungsträger ist nur der Versicherte. Die Hinterbliebenen sind, um Ersatz für den bisherigen Unterhalt durch den Verschollenen zu erlangen, auf die Hinterbliebenenrente angewiesen.
Im übrigen bleibt offen, ob in dem zu entscheidenden Fall § 1271 RVO Anwendung finden kann, weil - wie bereits ausgeführt - über den nach dieser Vorschrift ergangenen Bescheid der Beklagten in der Revisionsinstanz nicht zu entscheiden ist.
Mit einer auf Verschollenheit beruhenden Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten des Versicherten kann hier die Beschränkung der Gewährung der Versichertenrente auf sechs Zehntel des Rentenbetrages nicht begründet werden. Die Beklagte hat sich in dem Vergleich in Kenntnis der Verschollenheit des Klägers seit fast einem Jahr zur Gewährung der Versichertenrente verpflichtet, ohne ihre Verpflichtung in dem Vergleich zeitlich zu begrenzen. Bei dieser Sachlage kann sie sich nicht auf die Verletzung einer etwaigen, aus dem Versicherungsverhältnis abzuleitenden allgemeinen Pflicht des Versicherten, sich zur Verfügung des Rentenversicherungsträgers zu halten, berufen. Dabei kann offenbleiben, ob und inwieweit schon eine derartige allgemeine Pflicht des Empfängers einer Versichertenrente besteht. Hier ist jedenfalls die Verletzung einer konkreten Mitwirkungspflicht, wie z.B. jetzt in §§ 60 ff Sozialgesetzbuch geregelt, nicht festgestellt. Das Fehlen von Rentenjahresbescheinigungen als solches ist für sich allein noch kein Grund, die Rente zu kürzen. Diese Bescheinigungen geben dem Versicherungsträger zunächst nur einen Hinweis, ob ein neuer rechtserheblicher Tatbestand eingetreten sein könnte, der den Versicherungsträger zu entsprechenden konkreten weiteren Ermittlungen veranlassen kann. Hier ist auch insoweit die Kenntnis der Beklagten von der Verschollenheit des Klägers hei Vergleichsabschluß zu berücksichtigen.
Dem Kläger steht nach alledem die Versichertenrente in voller Höhe noch für die Zeit über den 1. Februar 1972 hinaus zu. Die Abwesenheitspflegerin ist als gesetzliche Vertreterin des Klägers berechtigt, die Rentenzahlung anzunehmen (§§ 1911, 1915, 1897, 1793 BGB). Ob - gegebenenfalls wann - die Zahlungsverpflichtung der Beklagten ihr Ende gefunden hat, wird in dem Verfahren über den nach § 1271 RVO erlassenen Bescheid zu entscheiden sein.
Die Revision der Beklagten war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen