Beteiligte
…, Kläger und Revisionsbeklagter |
…, Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
G r ü n d e :
I.
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung 10,-- DM täglich zuzuzahlen hat.
Die Beklagte gewährte dem Kläger die in der Zeit vom 24. August bis zum 21. September 1983 durchgeführte stationäre Heilbehandlung mit Bescheid vom 7. Juni 1983. Dieser enthält einen Hinweis auf die Beteiligung des Versicherten gemäß § 1243 der Reichsversicherungsordung (RVO) an den entsprechenden Aufwendungen. Im März und April 1983 erhielt der Kläger, der unverheiratet ist und keine Unterhaltsverpflichtungen hat, von seinem Arbeitslohn jeweils 1.006,40 DM ausgezahlt. Vom 20. Juni bis zum 17. Juli 1983 belief sich das Nettoeinkommen des Klägers aus seiner Beschäftigung als Gabelstaplerfahrer auf 1.459,79 DM, wovon im Wege der Lohnpfändung 455,43 DM einbehalten wurden. Während des Heilverfahrens und der anschließenden Schonungszeit bezog der Kläger Von seiner Arbeitgeberin Lohnfortzahlung.
Mit Bescheid vom 7. Dezember 1983 forderte die Beklagte vom Kläger 280,-- DM (= 28 x 10,-- DM) als Zuzahlung zu den Kosten der stationären Heilbehandlung. Den Antrag des Klägers, ihn davon zu befreien, lehnte sie gleichzeitig ab. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen, weil sein Einkommen über dem Grenzwert von 1.032,-- DM liege, der in den für die Zuzahlung erlassenen Richtlinien der Beklagten festgesetzt worden sei (Widerspruchsbescheid vom 8. März 1984).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen (Urteil vom 4. Juli 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 23. Mai 1986): § 1243 Abs 5 RVO schließe eine Zuzahlungspflicht des Versicherten dann aus, wenn sie ihn unzumutbar belasten würde. Dafür seien vor allem die finanziellen Verhältnisse des Versicherten maßgebend. Diese würden nicht allein durch sein Einkommen bestimmt, sondern auch durch unumgängliche Ausgaben. Zu berücksichtigen seien Verpflichtungen, die der Versicherte aufgrund einer Lohnpfändung zu befriedigen habe und auf deren Höhe sowie Dauer er keinen Einfluß nehmen könne.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Dem Auftrag des Gesetzgebers in § 1243 Abs 5 RVO, ergänzende Rechtsnormen zu erlassen, sei die Beklagte durch die "Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung" nachgekommen. Eine Pflicht des Trägers der Rentenversicherung zu detaillierten Überprüfung der finanziellen Verhältnisse im Einzelfall unter Berücksichtigung sonstiger Einkünfte (Mieteinnahmen, Unfallrenten usw) sowie bestimmter Verpflichtungen (Lohnpfändungen) könne aus § 1243 Abs 5 RVO nicht hergeleitet werden.
Die Beklagte beantragt,das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Der angefochtene Verwaltungsakt vom 7. Dezember 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 1984 ist nicht rechtswidrig.
Gemäß § 1243 Abs 1 Satz 1 RVO idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1857) hat der Versicherte zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung für jeden Kalendertag, an dem für ihn der Träger der Rentenversicherung die Heilbehandlung durchführt, 10,-- DM zu zahlen. Davon kann jedoch nach Abs 5 der genannten Vorschrift abgesehen werden, wenn die Zahlung den Versicherten unzumutbar belasten würde. Unter welchen Voraussetzungen das der Fall ist, bestimmt der Träger der Rentenversicherung. Die Beklagte hat somit eine Ermessensentscheidung zu treffen, die an den unbestimmten Rechtsbegriff der unzumutbaren Belastung geknüpft ist.
Ist der Inhalt von Rechten und Pflichten nach Art oder Umfang nicht im einzelnen bestimmt, so sind bei ihrer Ausgestaltung nach § 33 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) die persönlichen Verhältnisse der Berechtigten oder Verpflichteten, sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit sowie die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Grundsätzlich hat der Versicherungsträger das Ermessen unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des Einzelfalls auszuüben. Dabei können Richtlinien der Gleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte dienen. Aus den von dem Beklagten erlassenen "Richtlinien für die Befreiung von der Zahlung zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung" kommt als Rechtsgrundlage im Falle des unverheirateten Klägers nur die Nr 3 in Betracht. Diese lautet:
"Betreute, deren monatliches Netto-Arbeitsentgelt, NettoArbeitseinkommen oder vergleichbare Lohnersatzleistungen 40 vH der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Sozialgesetzbuch, Gemeinsame Vorschriften, - SGB IV - nicht übersteigt, werden auf Antrag von der Zuzahlung ganz ausgenommen."
Mit dieser Richtlinie hat die Beklagte von der ihr in § 1243 Abs 5 RVO erteilten Bestimmungsermächtigung pflichtgemäß Gebrauch gemacht, diese also nicht überschritten. Die Beklagte durfte es deshalb unter Berufung auf die genannte Richtlinie ablehnen, den Kläger von der Zahlung zu befreien, weil sein Nettoeinkommen den für 1983 maßgebenden Grenzwert von 1.032,-- DM (= 40 vH der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV) überstieg. Im Widerspruchsbescheid ist erwähnt worden, daß der Kläger die Zahlungspflicht deshalb als ungerechtfertigt ansieht, weil die Beklagte die Lohnpfändung nicht berücksichtigt hat. Gleichwohl hat die Widerspruchsstelle den angefochtenen Verwaltungsakt als rechtmäßig angesehen. Damit hat die Beklagte ihr Ermessen in einer den Anforderungen des § 39 SGB I und des § 54 Abs 2 Satz 2 SGG genügenden Weise ausgeübt. Die erwähnten Richtlinien der Beklagten halten sich im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens. Eine Ausnahme für Lohnpfändungen brauchte sie nicht vorzusehen. Deshalb ist es nicht zu beanstanden, daß der Kläger nicht von der Zuzahlung befreit worden ist.
Wie der 11a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits am 20. März 1986 entschieden hat, hängt es wesentlich von der wirtschaftlichen Situation des Versicherten ab, ob eine Zuzahlung ihn unzumutbar belastet und eine Härte für ihn ist (SozR 2200 § 1243 Nr 5). Im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung bei der Arbeitslosenhilfe gemäß § 138 des Arbeitsförderungsgesetzes (AA) hat der 7. Senat des BSG im Urteil vom 18. Februar 1982 (BSGE 53, 115, 116 f = SozR 4100 § 138 Nr 7) Einkommen auch insoweit berücksichtigt, als der Anspruch darauf abgetreten oder gepfändet und überwiesen worden ist. Dazu hat der 7. Senat ausgeführt, die auf der Lohnpfändung beruhenden Abzüge bewirkten eine Änderung des Vermögensbestandes. In Höhe der Abzüge minderten sich die Schulden. Die so vom Nettogehalt - einbehaltenen Beträge gehörten mithin zu den Einkünften. Die gegenteilige Auffassung bedeute, daß die Sozialleistung im Ergebnis zur Tilgung von Schulden diene, also zweckwidrig gewährt werde. Der Schuldner könne sich gemäß § 100 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und § 766 der Zivilprozeßordnung (ZPO) gegen Pfändungen und Abtretungen, die über die Pfändungsfreigrenzen hinausgingen, zur Wehr setzen.
Die vom 7. Senat aufgezeigten Gesichtspunkte sieht der Senat auch im Falle des Klägers als entscheidend an. Zum Netto-Arbeitseinkommen gehören die wegen der Lohnpfändung einbehaltenen Beträge. Zwar kann der Kläger darüber nicht verfügen, das belastet ihn aber nicht nur während der Zeit stationärer Heilbehandlung, sondern solange die Lohnpfändung andauert. Den in § 1243 Abs 1 Satz 1 RVO genannten Betrag von 10,-- DM täglich hat der Versicherte zu zahlen, weil er normalerweise durch den Aufenthalt zB in einer Kureinrichtung iS des § 1237 RVO Kosten zum Lebensunterhalt erspart. Durch diese Zahlungspflicht wird folglich seine wirtschaftliche Situation in der Regel nicht verschlechtert. Ob dies im vorliegenden Fall im Hinblick auf die von Kläger angeführten zusätzlichen Aufwendungen anläßlich der Heilbehandlung (Sportkleidung, Schlafanzüge, Turnschuhe usw) anders zu beurteilen ist, kann dahingestellt bleiben. Denn wegen dieser etwaigen zusätzlichen Kosten hätte der Kläger von den Möglichkeiten des § 850 f Abs 1 Buchst a ZPO Gebrauch machen können und gegebenenfalls müssen. Danach kann das Vollstreckungsgericht auf Antrag von dem pfändbaren Teil des Arbeitseinkommens einen Teil dem Schuldner belassen, wenn dessen besondere Bedürfnisse aus persönlichen oder beruflichen Gründen dies erfordern und überwiegende Belange des Gläubigers nicht entgegenstehen. Nicht nur persönliche Gründe lassen es als geboten erscheinen, eine erforderliche stationäre Heilbehandlung durchzuführen. Damit wird im beruflichen Bereich auch die Arbeitsfähigkeit des Schuldners erhalten oder möglicherweise wiederhergestellt, was auch im Interesse des Gläubigers liegen kann. Sinn und Zweck der unterschiedlichen Härteklauseln in § 850 f Abs 1 ZPO einerseits und § 1243 Abs 5 RVO andererseits gebieten es, insbesondere unter Berücksichtigung der hier einzubeziehenden Gläubigerinteressen, den Schuldner und Versicherten auf die Möglichkeiten des § 850 f Abs 1 ZPO zu verweisen. Wie der 7. Senat des BSG (aaO) bereits ausgeführt hat, sind Sozialleistungen ihrem Wesen nach nicht dazu bestimmt, der Schuldentilgung zu dienen. Das hat bei Härteregelungen jedenfalls dann zu gelten, wenn eine Konkurrenz zu anderen Bestimmungen außerhalb des Sozialrechts besteht.
Der erkennende Senat ist daher zu dem Ergebnis gelangt, daß sich die Richtlinien der Beklagten in Nr 3 im Rahmen der Ermächtigung und des Auftrags in § 1243 Abs 5 RVO halten, wenn bei der Ermessensausübung vom Netto-Arbeitseinkommen des unverheirateten Versicherten ausgegangen und eine Lohnpfändung nicht berücksichtigt wird. Somit mußten die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben werden, weil die Klage abzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen