Beteiligte
Pflegekasse bei der AOK Schleswig-Holstein – Die Gesundheitskasse |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 30. März 2001 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit.
Der im März 1988 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und bei der Beklagten pflegeversichert. Er leidet an dem sog familiären Mittelmeerfieber. Die Krankheit tritt in Schüben mehrmals im Monat auf; ein einzelner Schub dauert bis zu drei Tage. Dabei bestehen Schmerzen im Unterleib und hohes Fieber. Der Vater des Klägers und sein Bruder leiden ebenfalls an dieser Erkrankung.
Der Kläger beantragte bereits im November 1993 Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Antrag wurde zunächst abgelehnt (Bescheid vom 17. März 1994). Nach Vorlage von Behandlungsunterlagen des Hausarztes und der Kinderklinik der Universität H. hielt eine Ärztin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit jedoch für gerechtfertigt. Die AOK Schleswig-Holstein, die seinerzeit zuständige Krankenkasse, gewährte daraufhin mit Bescheid vom 11. Juli 1994 Pflegegeld; seit dem 1. April 1995 gewährt die beklagte Pflegekasse Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Nach einem Gutachten des MDK aus dem Oktober 1995 lag beim Kläger während der Fieberschübe ein täglicher Pflegebedarf von mehr als sechs Stunden, auch nachts, vor, der Pflegebedarf entspreche der Pflegestufe II. Ein Gutachten des MDK aus dem Dezember 1996 kam dagegen zu dem Ergebnis, beim Kläger bestehe nur an zwei bis drei Tagen in der Woche Hilfebedarf von insgesamt 130 Minuten, hiervon sei der Hilfebedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes in Höhe von 70 Minuten abzuziehen. Bei einem Hilfebedarf von 60 Minuten an nur zwei bis drei Tagen in der Woche liege nicht einmal Pflegebedürftigkeit nach Stufe I vor. Die Beklagte teilte dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom 9. Januar 1997 mit, daß sie die Leistungsbewilligung aufheben werde. Der Kläger wandte dagegen ein, daß sich sein Gesundheitszustand nicht gebessert habe. Mit Bescheid vom 10. Juni 1997 hob die Beklagte den Leistungsbescheid vom 11. Juli 1994 mit Wirkung vom 30. Juni 1997 auf. Eine im Widerspruchsverfahren von der Beklagten eingeholte Stellungnahme des MDK kam zu keinem für den Kläger günstigeren Ergebnis. Mit Bescheid vom 16. Dezember 1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat nach Beiziehung weiterer Befund- und Behandlungsberichte ein Gutachten von Dr. H. (Institut für angewandte Sozial- und Versicherungsmedizin in H., vom 28. November 1998) eingeholt. Dieser kam zu dem Ergebnis, daß der Kläger lediglich während der einige Stunden dauernden Hochphase seines Anfalleidens intensive Hilfe in den Bereichen der Grundpflege sowie bei einigen hauswirtschaftlichen Verrichtungen benötige. Hierzu komme es jedoch nicht wöchentlich an zwei bis drei Tagen, sondern in der Regel monatlich an einem Tag, maximal an vier Tagen. Der Mehraufwand betrage im Durchschnitt lediglich sieben Minuten pro Tag. Hiervon ausgehend hat das SG die Klage abgewiesen, weil spätestens seit dem 1. Juli 1997 Pflegebedürftigkeit auch nach der Pflegestufe I nicht mehr vorgelegen habe. Da der Bewilligungsbescheid vom 11. Juli 1994 die Vermutung der Richtigkeit begründe, sei davon auszugehen, daß sich die pflegeversicherungsrechtlich relevanten Verhältnisse des Klägers seither geändert hätten. Der Kläger hat den Aufhebungsbescheid bereits im erstinstanzlichen Verfahren nur insoweit angefochten, „als dadurch auch die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I aufgehoben worden ist”.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers den Aufhebungsbescheid der Beklagten und den Gerichtsbescheid des SG insoweit aufgehoben, als dadurch auch die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I aufgehoben worden ist. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe den Bewilligungsbescheid weder nach § 45 noch nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufheben dürfen. Nach der im Berufungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme stehe zwar fest, daß der Ausgangsbescheid auf der Grundlage des seinerzeit geltenden Rechts rechtswidrig gewesen sei und dem Kläger kein Anspruch auf Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit zugestanden habe. Die Bewilligung datiere jedoch vom 11. Juli 1994, der Aufhebungsbescheid vom 10. Juni 1997; die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X sei daher verstrichen. Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 und 3 SGB X, wonach eine Aufhebung noch innerhalb der Zehnjahresfrist nach Abs 4 der Vorschrift in Betracht komme, lägen nicht vor. Im Rahmen des § 48 SGB X sei auf den ursprünglichen Bewilligungsbescheid abzustellen. Maßgebend sei hier, daß sich nach den Feststellungen des medizinischen Sachverständigen der Krankheitsverlauf nicht wesentlich geändert habe und auch der Pflegebedarf gegenüber Juli 1994 gleichgeblieben sei. Seinerzeit sei aufgrund des Alters des Klägers allenfalls ein höherer Zeitwert für die Pflege eines gleichaltrigen gesunden Kindes abzusetzen gewesen. Der berücksichtigungsfähige Pflegebedarf sei deshalb seinerzeit auf keinen Fall höher gewesen als zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X. Sie sei verpflichtet gewesen, den ursprünglichen Leistungsbescheid aufzuheben, weil die in den §§ 14, 15 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) bestimmten Anspruchsvoraussetzungen in Fällen wie dem vorliegenden erheblich von den Anspruchsvoraussetzungen nach den §§ 53 ff Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V aF), die bei Erlaß des Ausgangsbescheides galten, abwichen. Nach dem früheren Rechtszustand sei es insbesondere nicht erforderlich gewesen, daß der Hilfebedarf täglich angefallen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 30. März 2001 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 22. September 1999 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 30. März 2001 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß eine Entziehung des dem Kläger gewährten Pflegegeldes nur unter den Voraussetzungen der §§ 45, 48 SGB X in Betracht kam und daß diese hier nicht vorliegen. § 45 SGB X scheidet als Rechtsgrundlage zum einen deshalb aus, weil die nach Abs 3 Satz 1 der Vorschrift maßgebende Zweijahresfrist für die Erteilung des Aufhebungsbescheides hier abgelaufen war und Gründe für ein Eingreifen der Zehnjahresfrist nach § 45 Abs 4 SGB X nicht vorliegen, zum anderen wegen des hier anzuwendenden Übergangsrechts, worauf im einzelnen noch einzugehen ist.
Die Pflegekasse konnte ihre Entscheidung aber auch nicht auf § 48 SGB X stützen, wonach eine Leistungsbewilligung – auch nach dem SGB XI – zu Lasten des Pflegebedürftigen bei veränderten rechtlichen oder tatsächlichen Umständen abgeändert werden kann (BSG, Urteil vom 13. März 2001, B 3 P 20/00 R = SozR 3-3300 § 18 Nr 2). Nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Nach den Feststellungen des LSG hat der MDK, der gemäß § 18 Abs 1 SGB XI vor Erteilung eines Bescheides über die Gewährung von Pflegeleistungen zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen von Pflegebedürftigkeit vorliegen, bzw gemäß § 18 Abs 2 Satz 5 SGB XI, ob die Voraussetzungen weiterhin vorliegen, nicht geprüft, ob in den für die Gewährung von Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53 ff SGB V aF maßgebend gewesenen Verhältnissen eine Änderung eingetreten ist, sondern lediglich den 1996/1997 bestehenden Zustand ermittelt.
Bei diesem Vorgehen wurden die Auswirkungen der Übergangsregelung in Art 45 Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG) verkannt. Nach dieser Vorschrift wurden pflegebedürftige Versicherte, die bis zum 31. März 1995 Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53 bis 57 SGB V aF erhalten hatten, in die Pflegestufe II eingestuft und erhielten ohne erneute Antragstellung entsprechende Leistungen der Pflegeversicherung. Beim Kläger lagen die Voraussetzungen des Art 45 PflegeVG vor. Dies schloß eine Überprüfung seines Leistungsanspruchs und ggf eine Aufhebung des auf der alten Rechtsgrundlage ergangenen Leistungsbescheides nicht von vornherein aus, wie der Senat bereits im Urteil vom 13. März 2001 aaO) entschieden hat. Art 45 PflegeVG ist keine generelle Bestandsschutzregelung, die auch die Aufhebung eines Bescheides über die Gewährung von Pflegeleistungen nach der Pflegestufe II gemäß § 48 SGB X aufgrund einer nachträglichen wesentlichen Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse von vornherein ausschließt. Ein solcher allgemeiner Ausschluß ist bereits dem Wortlaut des Art 45 PflegeVG nicht zu entnehmen. Die Vorschrift regelt lediglich, daß eine erneute Antragstellung bei Bezug von Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53 ff SGB V aF für die Gewährung von Leistungen ab 1. April 1995 nicht erforderlich ist und diese nach der Pflegestufe II, auf Antrag und bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen auch nach der Pflegestufe III, gewährt werden. Der Senat hat bereits im Urteil vom 13. März 2001 (aaO) deutlich gemacht, daß der Gesetzgeber mit der pauschalen Überführung aller Leistungsempfänger nach den §§ 53 ff SGB V aF in die Pflegestufe II bewußt in Kauf genommen hat, daß in Einzelfällen auch solche Versicherte in den Genuß von Leistungen nach der Pflegestufe II kommen, die nach den Kriterien der §§ 14 und 15 SGB XI lediglich in die Pflegestufe I hätten eingeordnet werden dürfen oder überhaupt nicht leistungsberechtigt wären. Eine Herabstufung dieser Pflegebedürftigen wegen von Anfang an zu günstiger Einstufung kommt danach schon aus Rechtsgründen (partieller Bestandsschutz) nicht in Betracht. § 45 SGB X bietet hier keine Rechtsgrundlage, weil es wegen des genannten partiellen Bestandsschutzes an der Rechtswidrigkeit der von Anfang an zu günstigen Überleitung – sofern ein entsprechender Bescheid ergangen ist – in die Pflegestufe II fehlt; § 48 SGB X ist insoweit unanwendbar, als Art 45 PflegeVG die Folgen der Rechtsänderung speziell regelt.
Ein Versicherter, der in den Anwendungsbereich der Bestandsschutzregelung des Art 45 PflegeVG fällt, kann nur dann in die Pflegestufe I herabgestuft oder vom Leistungsbezug ganz ausgeschlossen werden, wenn sich der Pflegebedarf durch Umstände verringert hat, die seit dem 1. April 1995 eingetreten sind. Denn der allein auf dem vorangegangenen Leistungsbezug beruhende, von der Erfüllung der aktuellen Tatbestandsvoraussetzungen unabhängige partielle Bestandsschutz ist im Rahmen des § 48 SGB X auch insoweit zu beachten, als es um die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse geht. Eine Herabstufung bei gegenüber dem Zustand vom 31. März 1995 nach Art und Umfang unverändertem Hilfebedarf, also bei fehlender nachträglicher wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, ist somit ausgeschlossen (Urteil vom 13. März 2001, aaO).
Für die Frage, ob eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse wesentlich ist, ist auf den bei Erlaß des Ausgangsbescheides maßgebenden Rechtszustand abzustellen. Denn nach der aufgezeigten Systematik der Übergangsregelung sollte es auf die Erfüllung der ab dem 1. April 1995 maßgebenden Anspruchsvoraussetzungen gerade nicht ankommen. Ob der Kläger auf der Grundlage des früheren Rechts tatsächlich anspruchsberechtigt gewesen ist, was das LSG auf der Grundlage der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme bezweifelt, kann nur im Rahmen des § 45 SGB X eine Rolle spielen; eine Aufhebung nach dieser Vorschrift kam jedoch, wie dargelegt, wegen Zeitablaufs (§ 45 Abs 3 Satz 1 SGB X) nicht in Betracht. Auch ein von Anfang an rechtswidriger Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann wegen der Änderung der Verhältnisse mit Wirkung für die Zukunft abgeändert werden, selbst wenn er wegen der ursprünglichen Rechtswidrigkeit nicht mehr zurückgenommen werden kann (vgl BSGE 67, 204 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1). Welche Änderungen zum Anlaß genommen werden dürfen, den Verwaltungsakt für die Zukunft abzuändern, kann im Einzelfall zweifelhaft sein; die Änderung der Verhältnisse darf nicht bloßer Anlaß sein, den bislang unberechtigten, aber bestandsgeschützten Vorteil auf diese Weise zu entziehen (vgl dazu Steinwedel in: KassKomm § 48 SGB X RdNr 29 ff). Im vorliegenden Fall stellen sich diese Zweifel nicht: In bezug auf eine Änderung des Ausgangsbescheides nach § 48 SGB X ist nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG in den für die frühere Leistungsgewährung maßgebenden Verhältnissen, insbesondere beim Umfang des Pflegebedarfs, überhaupt keine Änderung zu Lasten des Klägers eingetreten.
Da das beim Kläger bestehende Leidensbild nach ärztlicher Auffassung unverändert geblieben ist und Änderungen des Pflegeumfeldes keine Rolle spielten, konnte eine wesentliche Änderung des berücksichtigungsfähigen Pflegebedarfs nur aus dem fortgeschrittenen Alter des Klägers abgeleitet werden. Hieraus könnte jedoch allenfalls eine Erhöhung des Pflegebedarfs resultieren, denn beim Kläger war im Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheides – auch auf der Grundlage des früheren Rechtszustandes (vgl BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 8, S 60 f) – ein höherer Zeitabschlag für den bei gleichaltrigen gesunden Kindern anfallenden Pflegebedarf anzusetzen als im Zeitpunkt der Aufhebung dieses Bescheides. Das fortgeschrittene Lebensalter hat sich beim Kläger dagegen nicht bedarfsmindernd ausgewirkt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen