Entscheidungsstichwort (Thema)
Obst- und Gemüsegroßhandel. frisches Obst und Gemüse. Abpacken. Kommissionieren. Verladen. Sonntagsruhe. Sonntagsbeschäftigungsverbot. Ausnahmeermächtigung. Befreiung. Mischtatbestand. Ermessen. tägliches Bedürfnis der Bevölkerung
Leitsatz (amtlich)
1. § 105 e Abs. 1 GewO ermächtigt die Behörde, über eine beantragte Ausnahme vom Sonntagsbeschäftigungsverbot nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt sind (Abweichung von BVerwGE 24, 15 ≪22 f.≫).
2. Ein tägliches Bedürfnis der Bevölkerung im Sinne des § 105 e Abs. 1 GewO ist gegeben, wenn Waren oder Dienstleistungen von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung als täglich wichtig in Anspruch genommen werden.
Normenkette
GG Art. 140; WRV Art. 139; GewO § 105b Abs. 2, § 105e Abs. 1
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 20.01.1988; Aktenzeichen 4 A 772/87) |
VG Münster (Entscheidung vom 17.02.1987; Aktenzeichen 7 K 535/85) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Januar 1988 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten, bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerin betreibt ein Fruchtimportunternehmen, das Großhandelsbetriebe in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen und Bremen mit etwa 50 verschiedenen Obst- und Gemüsesorten beliefert. Bei Kontrollen stellte das Gewerbeaufsichtsamt fest, daß im Betrieb der Klägerin, sonntags gearbeitet wurde. Die Klägerin beantragte daraufhin die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 105 e Abs. 1 GewO für das Ausladen eintreffender Ware und das Sortieren, Abpacken, Kommissionieren und Verladen der Ware an Sonn- und Feiertagen. Zur Begründung trug sie vor: Die Arbeiten seien erforderlich, um die Bevölkerung an den folgenden Werktagen mit frischem Obst und Gemüse versorgen zu können. Ihre Kunden bestünden auf einer Anlieferung an den Sonn- und Feiertagen, weil sie die Ware noch an die verschiedenen Einzelhandelsgeschäfte oder die eigenen Filialen verteilen müßten. Die Bestellungen erhalte sie, die Klägerin, an den Samstagen bis etwa 17 Uhr. Frühere Bestellungen seien nicht möglich, da sich erst aufgrund des Verkaufs an den Samstagen erkennen lasse, in welchem Umfang Ware am Montag benötigt werde. Das georderte Obst und Gemüse gehe bei ihr sonntags ab 12 Uhr ein; ab 13 Uhr werde in ihrem Betrieb gearbeitet. Eine Vorverlegung der Arbeiten sei bei bestimmten Waren auch wiegen deren geringer Haltbarkeit nicht vertretbar. Der Beklagte lehnte den Antrag ab mit der Begründung, zwar sei grundsätzlich ein Bedürfnis der Bevölkerung nach frischem Obst und Gemüse anzuerkennen. Es sei aber nicht erforderlich, daß diese Waren den Verbrauchern bereits in den Morgenstunden des Montags zur Verfügung stünden. Durch eine entsprechende Vorratshaltung könne der Bedarf bis in die Mittagsstunden gedeckt werden. Es sei mithin auch nicht erforderlich, die Ware der Klägerin an Sonn- und Feiertagen abzupacken, zu kommissionieren und zu verladen. Diese Tätigkeiten könnten durchaus am nächsten Werktag von 0 Uhr an ausgeführt werden. Die vorher zu verrichtenden Arbeiten wie das Abladen der ankommenden Ware, das Sortieren und das Verbringen in die Kühlhäuser seien nach § 105 c Abs. 1 Nr. 4 GewO erlaubt.
Die Klägerin hat nach erfolglosem Vorverfahren Klage mit dem Antrag erhoben, den Beklagten zur Erteilung der begehrten Ausnahmegenehmigung für das Abpacken, Kommissionieren und Verladen von Obst und Gemüse an Sonn- und Feiertagen zu verpflichten. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen.
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (GewArch 1988, 194). Es hat die Ansicht vertreten: Die Voraussetzungen für eine Ausnahmegenehmigung nach § 105 e Abs. 1 GewO lägen nicht vor. Aus dem eigenen Vorbringen der Klägerin ergebe sich, daß dem Verbraucher auch ohne die genehmigungsbedürftige Sonntagsarbeit ein ausreichendes und vielfältiges Angebot an frischem Obst und Gemüse schon am Montagmorgen zur Verfügung stehe. Selbst wenn zugunsten der Klägerin ein tatsächliches Bedürfnis der Bevölkerung unterstellt werde, am Montagmorgen sämtliche lieferbaren Obst- und Gemüsesorten erwerben zu können, dürfe eine hierfür erforderliche Sonntagsbeschäftigung nicht zugelassen werden. Die Ausnahmeermächtigung des § 105 e Abs. 1 GewO sei nämlich im Hinblick auf die verfassungsrechtliche und gesetzliche Entscheidung für die Sonntagsruhe eng auszulegen. Würde die beantragte Ausnahmegenehmigung erteilt, so würde damit im Ergebnis das Sonntagsbeschäftigungsverbot aufgehoben.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin. Sie macht geltend, das Berufungsgericht habe § 105 e Abs. 1 GewO unzutreffend ausgelegt und angewandt, und beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Januar 1988 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 17. Februar 1987 sowie die Bescheide des Beklagten vom 21. Oktober 1983 und vom 28. Februar 1985 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die beantragte Ausnahmegenehmigung für das Abpacken, Kommissionieren und Verladen von Obst und Gemüse an Sonn- und Feiertagen zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil und meint, die Versorgung der Bevölkerung auch mit leicht verderblichen Obst- und Gemüsesorten am Montagmorgen sei nicht erforderlich im Sinne des § 105 e Abs. 1 GewO.
Auch der Oberbundesanwalt hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht. Die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils sind nämlich mit Bundesrecht nicht vereinbar (1.). Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (2.); es bedarf vielmehr weiterer tatsächlicher Feststellungen, die zu treffen Aufgabe des Berufungsgerichts ist (3.).
1. Dem Berufungsgericht ist darin zuzustimmen, daß die Klägerin ein Handelsgewerbe im Sinne des § 105 b Abs. 2 GewO betreibt und daher für das Abpacken, Kommissionieren und Verladen von Obst und Gemüse an Sonn- und Feiertagen einer Ausnahmegenehmigung nach § 105 e Abs. 1 GewO bedarf. Nach dieser Vorschrift kann die Behörde u.a. für solche Gewerbe, deren vollständige oder teilweise Ausübung an Sonn- und Feiertagen zur Befriedigung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist, Ausnahmen vom Sonntagsbeschäftigungsverbot zulassen.
Richtig ist der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 105 e Abs. 1 GewO nicht erfüllt sind, soweit ein tägliches Bedürfnis nach frischem Obst und Gemüse für den Montag durch Auslieferung am Samstag befriedigt werden kann. Insoweit ist die Sonntagsbeschäftigung nicht erforderlich im Sinne der Vorschrift. Ob auch für Obst- und Gemüsesorten, die den Einzelhändlern aus Gründen der Verderblichkeit nicht schon zwei Tage vor dem Verkaufstag geliefert werden können, ein tägliches Bedürfnis besteht, läßt das Berufungsgericht offen. Es meint, ein etwaiges Bedürfnis sei jedenfalls nicht berücksichtigungsfähig, weil sonst die verfassungsrechtlich fundierte gesetzgeberische Grundentscheidung für den Sonntagsschutz aufgehoben würde. Dies trifft nicht zu.
Nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV bleiben der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Wie der Senat (BVerwGE 79, 118 ≪122 f.≫) ausgesprochen hat, ist hiernach der Sonntagsschutz durch den Gesetzgeber zu bewirken; Art, Umfang, Intensität und nähere inhaltliche Ausgestaltung des gesetzlichen Sonntagsschutzes stehen im gesetzgeberischen Ermessen. Dieses findet seine Grenzen darin, daß einerseits der Sonntag als Institution hinreichend geschützt sein muß und daß andererseits die zum Schutz des Sonntags getroffenen Regelungen nicht unverhältnismäßig sein dürfen. In diesem Rahmen hat der Gesetzgeber darüber zu entscheiden, ob bestimmte Tätigkeiten an Sonntagen verboten oder ob sie beschränkt oder uneingeschränkt zulässig sein sollen. Mit diesen Grundsätzen steht die Ausnahmeermächtigung des § 105 e Abs. 1 GewO, durch die das in § 105 b GewO enthaltene Verbot der gewerblichen Arbeit an Sonn- und Feiertagen eingeschränkt wird, im Einklang. Sie eröffnet nicht eine uferlose, sondern nur eine durch die rechtlichen Voraussetzungen des Bedürfnisses und der Erforderlichkeit begrenzte Möglichkeit, das Sonntagsbeschäftigungsverbot zu durchbrechen. Weder Art. 139 WRV noch das gesetzgeberische Konzept des Regel-Ausnahme-Verhältnisses der §§ 105 b und 105 e Abs. 1 GewO gebieten daher, die Ausnahmeermächtigung zusätzlich durch ungeschriebene Voraussetzungen einzuengen. Insbesondere kann keine Rede davon sein, daß ein etwaiges tägliches Bedürfnis nach leicht verderblichen Obst- und Gemüsesorten im Rahmen des § 105 e Abs. 1 GewO nicht berücksichtigt werden dürfte, weil anderenfalls das grundsätzliche Sonntagsbeschäftigungsverbot praktisch aufgehoben würde. Danach ist das Berufungsurteil von einem fehlerhaften Verständnis der Rechtsvoraussetzungen für die beantragte Ausnahmegenehmigung ausgegangen.
2. Das Berufungsurteil läßt sich auch nicht aus anderen Gründen aufrechterhalten (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts rechtfertigen nicht dessen Schluß, der behördliche Ablehnungsbescheid sei durch § 105 e Abs. 1 GewO gedeckt.
Der erkennende Senat hat § 105 e Abs. 1 GewO in seinem Urteil vom 29. März 1966 – BVerwG 1 C 8.65 – (BVerwGE 24, 15 ≪22 f.≫) unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte so ausgelegt, daß die Sonntagsbeschäftigung genehmigt werden muß, wenn sie zur Befriedigung der in § 105 e Abs. 1 GewO genannten Bedürfnisse erforderlich ist. An dieser Rechtsprechung hält der Senat nicht fest. Sie widerspricht dem Wortlaut der Kann-Vorschrift und auch der Interpretation, die ähnlich formulierte Befreiungsvorschriften, beispielsweise § 31 Abs. 2 BauGB (früher § 31 Abs. 2 BBauG) erfahren (vgl. dazu BVerwGE 40, 288 ≪271≫; 56, 71 ≪77≫; BGH, BauR 1983, 231 ≪232≫). Wie bei § 31 Abs. 2 BauGB handelt es sich auch bei § 105 e Abs. 1 GewO um einen sog. Mischtatbestand (vgl. dazu BVerwGE 39, 355 ≪362≫): Die Vorschrift setzt voraus, daß die Sonntagsarbeit zur Befriedigung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse erforderlich ist. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen ist die Behörde ermächtigt, nach pflichtgemäßem Ermessen über die beantragte Ausnahme zu entscheiden. Bei der Ausübung dieses Ermessens hat die Behörde das Gewicht des konkret in Rede stehenden Bedürfnisses mit dem Verfassungswert des Sonntagsschutzes abzuwägen und insbesondere zu berücksichtigen, in welchem Maße bei Erteilung der Ausnahmegenehmigung die Sonntagsruhe beeinträchtigt würde.
Die angefochtenen Bescheide lassen solche Ermessenserwägungen nicht erkennen. Der Beklagte hat keine Ermessensentscheidung getroffen, sondern die Ausnahme deshalb versagt, weil er die von der Klägerin zur Genehmigung gestellte Sonntagsbeschäftigung nicht für erforderlich hielt, um ein etwaiges tägliches Bedürfnis der Bevölkerung nach den von der Klägerin vertriebenen Waren zu befriedigen. Er war nämlich der Ansicht, die Verbraucher könnten dieses Bedürfnis durch entsprechende Vorratshaltung bis in die Mittagsstunden des Montags decken, so daß die Klägerin nicht schon am Sonntag, sondern erst in der Frühe des Montags mit dem Abpacken, Kommissionieren und Verladen zu beginnen brauche. Diese Argumentation ist schlüssig. Ob es aber tatsächlich an der Erforderlichkeit oder am Bedürfnis im Sinne des § 105 e Abs. 1 GewO fehlt, ist ungeklärt. Das Berufungsgericht hat hierzu nicht abschließend Stellung genommen; es hatte dazu von seinem Rechtsstandpunkt aus keinen Anlaß.
Was die Frage der Erforderlichkeit betrifft, so geht aus dem Berufungsurteil lediglich hervor, daß es auch ohne ein sonntägliches Abpacken, Kommissionieren und Verladen möglich ist, dem Verbraucher schon am Montagmorgen eine hochwertige und vielfältige Auswahl von frischem Obst und Gemüse, das wegen seiner Haltbarkeit bereits samstags ausgeliefert werden kann, anzubieten. Das Berufungsgericht äußert sich jedoch nicht zu der Frage, ob auch ein etwaiges tägliches Bedürfnis der Bevölkerung nach leichter verderblichen Obst- und Gemüsesorten ohne Sonntagsbeschäftigung montags befriedigt werden kann.
Ebensowenig enthält das Berufungsurteil Feststellungen darüber, ob ein tägliches Bedürfnis der Bevölkerung nach leichter verderblichem Obst und Gemüse tatsächlich besteht. In diesem Zusammenhang ist der von der Klägerin hervorgehobene Umstand, daß täglich – auch und gerade am Montagmorgen – alle in den Geschäften angebotenen Obst- und Gemüsesorten einschließlich der leicht verderblichen starken Absatz finden, nicht ohne weiteres beweiskräftig. Ein Bedürfnis im Sinne des § 105 e Abs. 1 GewO ist nur gegeben, wenn Waren oder Dienstleistungen von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung als täglich wichtig in Anspruch genommen werden. Es genügt nicht, daß viele Verbraucher ein vorhandenes Warenangebot begrüßen und nutzen. Wie sich aus dem Wortsinn des Begriffs Bedürfnis ergibt (vgl. auch die Äußerungen der Abgeordneten Dr. Hirsch und Dr. Orterer in den Verhandlungen des Reichstags bei Schaffung des § 105 e GewO, 8. Legislaturperiode – I. Session 1890/91, 3. Bd., S. 1574 f.), gehört zum täglichen Bedürfnis im Sinne des § 105 e Abs. 1 GewO vielmehr, daß ein wesentlicher Teil der Bevölkerung den täglichen Ge- oder Verbrauch der betreffenden Dinge als wichtig ansieht und daher deren Fehlen als Mangel empfinden würde.
3. Die Sache bedarf demnach hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 105 e Abs. 1 GewO weiterer Aufklärung durch das Berufungsgericht. Sollte sich dabei ergeben, daß es an einer solchen Voraussetzung für die beantragte Ausnahmegenehmigung fehlt, so muß die Berufung der Klägerin erfolglos bleiben. Sollten sich die Rechtsvoraussetzungen dagegen als erfüllt erweisen, so ist der Beklagte zur Neubescheidung zu verpflichten. Er hat dann im Wege der Ermessensabwägung zu entscheiden, ob er die Ausnahmegenehmigung erteilt oder nicht. Dabei darf insbesondere die vom Berufungsgericht festgestellte Tatsache berücksichtigt werden, daß dem Verbraucher am Montagmorgen auch ohne Sonntagsarbeit ein vielfältiges Angebot an frischem Obst und Gemüse zur Verfügung steht.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Unterschriften
Meyer, Dr. Diefenbach, Dr. Scholz-Hoppe, Gielen, Dr. Kemper
Fundstellen
Haufe-Index 1211514 |
DVBl. 1990, 220 |