Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Verarbeitung personenbezogener Daten. Verordnung (EU) 2016/679. Art. 12, 15 und 23. Recht der betroffenen Person auf Auskunft über ihre Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind. Recht auf Erhalt einer unentgeltlichen ersten Kopie dieser Daten. Verarbeitung der Daten eines Patienten durch seinen Arzt. Patientenakte. Gründe für den Auskunftsantrag. Verwendung der Daten, um haftungsrechtliche Ansprüche gegen den Behandelnden geltend zu machen. Begriff ‚Kopie’

 

Beteiligte

FT (Copies du dossier médical)

FT

DW

 

Tenor

1. Art. 12 Abs. 5 sowie Art. 15 Abs. 1 und 3 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)

sind dahin auszulegen, dass

die Verpflichtung des Verantwortlichen, der betroffenen Person unentgeltlich eine erste Kopie ihrer personenbezogenen Daten, die Gegenstand einer Verarbeitung sind, zur Verfügung zu stellen, auch dann gilt, wenn der betreffende Antrag mit einem anderen als den in Satz 1 des 63. Erwägungsgrundes der Verordnung genannten Zwecken begründet wird.

2. Art. 23 Abs. 1 Buchst. i der Verordnung 2016/679

ist dahin auszulegen, dass

eine nationale Regelung, die vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung erlassen wurde, in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen kann. Eine solche Möglichkeit erlaubt es jedoch nicht, eine nationale Regelung zu erlassen, die der betroffenen Person zum Schutz der wirtschaftlichen Interessen des Verantwortlichen die Kosten für eine erste Kopie ihrer personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung durch den Verantwortlichen sind, auferlegt.

3. Art. 15 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung 2016/679

ist dahin auszulegen, dass

im Rahmen eines Arzt-Patienten-Verhältnisses das Recht auf Erhalt einer Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand einer Verarbeitung sind, umfasst, dass der betroffenen Person eine originalgetreue und verständliche Reproduktion aller dieser Daten überlassen wird. Dieses Recht setzt voraus, eine vollständige Kopie der Dokumente zu erhalten, die sich in der Patientenakte befinden und unter anderem diese Daten enthalten, wenn die Zurverfügungstellung einer solchen Kopie erforderlich ist, um der betroffenen Person die Überprüfung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Daten zu ermöglichen und die Verständlichkeit der Daten zu gewährleisten. In Bezug auf die Gesundheitsdaten der betroffenen Person schließt dieses Recht jedenfalls das Recht ein, eine Kopie der Daten aus ihrer Patientenakte zu erhalten, die Informationen wie beispielsweise Diagnosen, Untersuchungsergebnisse, Befunde der behandelnden Ärzte und Angaben zu an ihr vorgenommenen Behandlungen oder Eingriffen umfasst.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 2022, in dem Verfahren

FT

gegen

DW

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb, A. Kumin und der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin),

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der lettischen Regierung, vertreten durch K. Pommere als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, F. Erlbacher und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. April 2023

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 5, Art. 15 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 1 Buchst. i der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 127, S. 2) (im Folgenden: DSGVO).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FT und DW wegen der Weigerung von FT, einer Zahnärztin, ihrem Patienten eine erste Kopie seiner Patientenakte unentgeltlich zu übermitteln.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Im vierten Erwägungsgrund der DSGVO heißt es:

„… Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union] anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere … [die] unternehmerische Freihei...

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