Keine Einsicht in Steuerakten zur Prüfung eines Schadenersatzanspruchs gegen Dritte
Hintergrund: Gesetzliche Vorgaben
Die AO enthält – anders als z. B. § 29 VwVfG – keine Regelung, nach der ein Anspruch auf Akteneinsicht besteht. Ein solches Einsichtsrecht ist weder aus § 91 Abs. 1 AO noch aus § 364 AO abzuleiten. Allerdings steht dem während eines Verwaltungsverfahrens um Akteneinsicht nachsuchenden Steuerpflichtigen oder seinem Vertreter ein Anspruch auf eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung der Finanzbehörde zu, weil diese nicht gehindert ist, in Einzelfällen Akteneinsicht zu gewähren. Grundlage dieses Anspruchs ist das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. dem Prozessgrundrecht nach Art. 19 Abs. 4 GG.
Nach Art. 15 Abs. 1 Halbsatz 1 DSGVO hat die betroffene Person das Recht, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob sie betreffende personenbezogene Daten verarbeitet werden. Ist dies der Fall, bestimmt Halbsatz 2 der Vorschrift, dass die Person Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und auf die in Buchst. a bis h genannten Informationen hat.
Nach § 32c Abs. 1 Nr. 1, § 32b Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO besteht keine Informationspflicht und folglich dessen kein Auskunftsrecht, wenn u. a. die Daten nach § 30 AO geheim gehalten werden müssen und deswegen das Interesse der betroffenen Person an der Informationserteilung (am Auskunftsrecht) zurücktreten muss.
Sachverhalt: Kläger begehren Einsicht in Einkommensteuerakte
Das Finanzamt (FA) hatte gegen die Kläger Einkommensteuer für 2015 festgesetzt. Nach Bestandskraft des Bescheids beantragten sie Einsicht in die für sie geführte Einkommensteuerakte. Sie führten an, ihr damaliger Steuerberater habe sie nicht über den Gang des Veranlagungsverfahrens informiert. Die Kläger erwogen, einen Schadenersatzanspruch gegen den Steuerberater geltend zu machen.
Das FA lehnte den Antrag – zuletzt mit Einspruchsentscheidung – ab. Die AO sehe für das Verwaltungsverfahren kein Akteneinsichtsrecht vor. Auch die Voraussetzungen eines übergesetzlichen, im Ermessen der Verwaltung stehenden Einsichtsrechts lägen nicht vor. Die Kläger hätten hierfür kein berechtigtes Interesse dargelegt, zumal sich ein solches nicht aus der Prüfung von Regressansprüchen ergebe. Der Umstand, dass die Akteneinsicht erst nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids beantragt worden sei, führe zudem dazu, dass der Antrag zwingend abzulehnen sei.
Hiergegen erhoben die Kläger Klage. Während des Klageverfahrens beantragten die Kläger beim FA unter Bezugnahme auf Art. 15 Abs. 1 Halbsatz 2 und Abs. 3 DSGVO die Einsichtnahme in die Einkommensteuerakte. Auch diesen Antrag lehnte das FA ab. Die Kläger verfolgten daraufhin ihr Begehren auf Akteneisicht nach der DSGVO im Rahmen der bereits wegen Versagung der Akteneinsicht nach der AO anhängigen Klage weiter.
FG spricht Verpflichtung zur Akteneinsicht aus
Das FG gab der Klage statt und verpflichtete das FA, den Klägern „Einsicht in die Einkommensteuerakte des Veranlagungszeitraums 2015 zu gewähren und den Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO zu erfüllen“.
Zur Begründung seiner Revision trägt das FA vor, das FG sei rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, die Akteneinsicht sei wegen eines auf null reduzierten Ermessens zu gewähren. Das FA zieht zudem in Zweifel, ob der sachliche Anwendungsbereich von Art. 15 DSGVO eröffnet sei. Selbst wenn dies der Fall sei, stünden der Erfüllung des Auskunftsanspruchs Ausnahmetatbestände des Art. 23 Abs. 1 Buchst. i DSGVO i. V. m. § 32c Abs. 1 AO entgegen.
Entscheidung: FA obsiegt nur wegen Akteneinsicht nach AO
Der BFH entscheidet, dass die Revision begründet ist, soweit das FG den Klägern ein Einsichtsrecht in die für sie geführte Einkommensteuerakte des Veranlagungszeitraums 2015 zugesprochen hat. Insoweit ist das angefochtene Urteil aufzuheben und, da die Sache spruchreif ist, die Klage abzuweisen. Im Übrigen ist die Revision unbegründet und daher zurückzuweisen.
Akteneinsichtsrecht nur während Verwaltungsverfahren
Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, den Klägern stehe infolge einer Ermessensreduzierung auf null ein Anspruch auf Einsichtnahme in die beim FA für sie geführte Einkommensteuerakte des Veranlagungszeitraums 2015 zu.
Die Kläger hätten Akteneinsicht nicht während des Veranlagungsverfahrens zur Einkommensteuer des Jahres 2015, sondern erst in dessen Nachgang, d. h., nach Eintritt der Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung beantragt. Der einer Akteneinsicht innewohnende Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs werde in diesem – nachgelagerten – Stadium grundsätzlich nicht mehr berührt. Hieran ändere nichts, dass der Einkommensteuerbescheid für 2015 mit einem maschinell gesetzten Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO versehen sei und unter den Voraussetzungen des § 153 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO die Pflicht bestehe, unrichtige oder unvollständige Steuererklärungen bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist zu berichtigen. Nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür, dass Anlass für die beantragte Akteneinsicht ein solches Verwaltungsverfahren sein sollte, hätten die Kläger nicht dargelegt.
Grundsätze aus Treu und Glauben ebenfalls nicht einschlägig
Der von den Klägern geltend gemachte Anspruch ergebe sich zudem nicht aus den – auch im öffentlichen Recht anwendbaren – Grundsätzen aus Treu und Glauben (§ 242 BGB). Der BFH habe bereits entschieden, dass insoweit eine rechtliche Sonderverbindung zwischen der Finanzbehörde und dem Steuerpflichtigen bestehen müsse, in deren Rahmen der Steuerpflichtige zur Wahrung seiner Rechte gegenüber der Behörde auf die Auskunft (die Akteneinsicht) angewiesen sei. Hieran fehle es im Streitfall ersichtlich. Die Kläger könnten vom FA keine Treuepflicht einfordern, sie bei der Verfolgung steuerverfahrensfremder Zwecke – vorliegend der Prüfung von Schadenersatzansprüchen gegen einen Steuerberater – zu unterstützen. Insofern fehle ein innerer Zusammenhang mit einem Verwaltungsverfahren.
Hinweis: Ermessensreduzierung auf null unmaßgeblich
Auf die von der Vorinstanz bejahte Frage, ob das Ermessen des FA, Akteneinsicht zu gewähren, auf null reduziert gewesen sei, komme es vorliegend nicht mehr an. Es werde nur vorsorglich darauf hingewiesen, dass der hierfür vom FG maßgeblich ins Feld geführte rechtliche Aspekt nicht greife. Das FG habe die Ansicht vertreten, dass dem Steuerpflichtigen ein „grundsätzliches Recht auf Akteneinsicht“ zustehe und dies damit begründet, dass sich ein solches neben rechtsstaatlichen und prozessgrundrechtlichen Erwägungen inzwischen ausdrücklich aus dem in Art. 41 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a EUGrdRCh verankerten Recht auf Gehör ergebe. Das FG habe hierbei übersehen, dass Adressat jenes Grundrechts nur Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU seien (Art. 41 Abs. 1 EUGrdRCh), nicht aber Behörden der Landesfinanzverwaltung in den EU-Mitgliedstaaten.
Zuerkennung des Auskunftsrechts nach DSGVO durch FG zutreffend
Frei von Rechtsfehlern habe das FG den Klägern dem Grunde nach jedoch ein Auskunftsrecht nach Art. 15 Abs. 1 Halbsatz 2 DSGVO zuerkannt. Der sachliche Anwendungsbereich dieser Norm sei eröffnet. Ausschlussgründe für einen Auskunftsanspruch lägen indes nicht vor.
Dass das FA im Zuge der Einkommensteuerveranlagung für 2015 die Kläger betreffende personenbezogene Daten i. S. v. Art. 4 Nr. 1 Halbsatz 1 DSGVO verarbeitet habe, bedürfe keiner weitergehenden Erörterung. Zudem sei der Anwendungsbereich der DSGVO nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO nicht auf den Bereich der harmonisierten Steuern beschränkt. Ebenso wenig stehe der Anwendung der DSGVO entgegen, dass die personenbezogenen Daten der Kläger in einer Akte enthalten seien, die vom FA noch in Papierform geführt worden sei oder werde.
Schließlich stehe dem Auskunftsrecht i. S: v. Art. 15 Abs. 1 DSGVO nicht entgegen, dass die Kläger mit ihrem auf diese Norm gestützten Begehren ersichtlich keine datenschutzrelevanten Gründe verfolgten. Nach der Rechtsprechung des EuGH müsse die betroffene Person ihren Antrag nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO nicht begründen, was zugleich bedeute, dass er auch nicht zurückgewiesen werden könne, wenn mit ihm ein anderer Zweck verfolgt werde als der, von der Verarbeitung Kenntnis zu nehmen und deren Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
Auskunftsrecht nicht aufgrund gesetzlicher Vorschriften ausgeschlossen
Das Auskunftsrecht der Kläger sei nicht aufgrund gesetzlicher Vorschriften, nämlich Art. 23 Abs. 1 Buchst. i DSGVO i. V. m. § 32c Abs. 1 Nr. 1, 2 oder 3 Buchst. a AO, ausgeschlossen.
In Ausübung der Beschränkungsmöglichkeit des Art 23 Abs. 1 Buchst. i DSGVO habe der nationale Gesetzgeber in § 32c Abs. 1 Nr. 1 AO bereichsspezifisch für die Steuerverwaltung geregelt, dass ein Auskunftsrecht gegenüber einer Finanzbehörde gemäß Art. 15 DSGVO nicht bestehe, soweit die betroffene Person – vorliegend die Kläger – nach § 32a Abs. 1 AO oder nach § 32b Abs. 1 oder Abs. 2 AO nicht zu informieren sei.
Die Voraussetzungen der insoweit einzig in Betracht zu ziehenden Einschränkung nach § 32c Abs. 1 Nr. 1, § 32b Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO lägen nicht vor. Hiernach bestehet keine Informationspflicht und folglich dessen kein Auskunftsrecht, wenn u. a. die Daten nach § 30 AO geheim gehalten werden müssten und deswegen das Interesse der betroffenen Person an der Informationserteilung (am Auskunftsrecht) zurücktreten müsse.
Das Steuergeheimnis werde im Streitfall nicht berührt. Zu schützen seien nach § 30 Abs. 2 Nr. 1 AO die personenbezogenen Daten „eines anderen“, mithin fremde personenbezogene Daten. Die eigenen Daten des Steuerpflichtigen seien konsequenterweise ihm gegenüber nicht durch § 30 AO geschützt. Hierüber sei ihm Auskunft zu erteilen, sofern die Daten nicht zugleich die personenbezogenen Daten eines Dritten seien. Zwar könnten auch die Daten eines steuerlichen Beraters dem Geheimnisschutz des § 30 AO unterliegen. Dies gelte aber nicht für Daten, die ein Bevollmächtigter i. S. v. § 80 Abs. 1 Satz 1 AO für den Steuerpflichtigen an die Finanzbehörde übermittelt habe.
Ebenso wenig lägen die Voraussetzungen des § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO vor. Die von den Klägern erwogenen zivilrechtlichen Ansprüche (Schadenersatz) richteten sich nicht gegen den Rechtsträger der Finanzbehörde, sondern gegen den damaligen Steuerberater.
Schließlich werde das Auskunftsrecht der Kläger nicht nach § 32c Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a AO ausgeschlossen. Hiernach bestehe kein Auskunftsrecht, soweit die personenbezogenen Daten nur deshalb gespeichert seien, weil sie aufgrund gesetzlicher Aufbewahrungsvorschriften nicht gelöscht werden dürften und die Auskunftserteilung einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde sowie eine Verarbeitung zu anderen Zwecken durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen ausgeschlossen sei.
Bereits die Grundvoraussetzung dieses Ausschlusstatbestands läge nicht vor. Es fehle an einer gesetzlichen Aufbewahrungspflicht für Steuerakten. Aufbewahrungspflichten seien nur zu Lasten des Steuerpflichtigen normiert, vornehmlich in § 147 AO. Deren Pflichten seien nicht auf die Finanzbehörde übertragbar und verpflichten diese deshalb – trotz dementsprechender praktischer Handhabung – nicht, die dazugehörigen Steuerakten bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist aufzubewahren. Untergesetzlich – auf ministerieller Ebene – geregelte Pflichten für die Finanzverwaltung zur Aufbewahrung von Steuerakten seien nach dem klaren Wortlaut der Norm nicht tatbestandlich. Aus diesem Grund bestehe im steuerlichen Schrifttum zu Recht Einvernehmen, dass § 32c Abs. 1 Nr. 3 AO nach derzeitiger Rechtslage leerlaufe.
Ob die Auskunftserteilung, wie von § 32c Abs. 1 Nr. 3 AO zusätzlich vorausgesetzt, einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde, bedürfe somit keiner Entscheidung.
Hinweis: Anspruch auf Auskunft über personenbezogenen Daten
Das FG hat zu Recht erkannt, dass das FA den von den Klägern geltend gemachten Anspruch auf Auskunft über die Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten „zu erfüllen“ hat. Dass dieser Anspruch – wie die Kläger begehren – durch Einsichtnahme in die Einkommensteuerakte für den Veranlagungszeitraum 2015 zu erfüllen ist, hat das FG ausweislich des Tenors und dessen Begründung allerdings nicht entschieden (sondern vielmehr offengelassen). Diese Frage war auch nicht Gegenstand der vorliegenden Revision, da nur das FA die vorinstanzliche Entscheidung angefochten und hierbei das Bestehen eines Auskunftsanspruchs dem Grunde nach in Abrede gestellt hat. In diesem Zusammenhang hat der BFH rein vorsorglich auf Folgendes hingewiesen:
Nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO stellt der Verantwortliche der betroffenen Person eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung. Durch die Rechtsprechung des EuGH ist inzwischen geklärt, dass Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO dem Betroffenen kein anderes Recht als das in Abs. 1 der Vorschrift vorgesehene gewährt. Der Begriff „Kopie“ bezieht sich nicht auf ein Dokument als solches, sondern auf die personenbezogenen Daten, die es enthält und die vollständig sein müssen. Die Kopie muss daher alle personenbezogenen Daten enthalten, die Gegenstand der Verarbeitung sind.
Nur wenn die Zurverfügungstellung einer Kopie unerlässlich ist, um der betroffenen Person die wirksame Ausübung der ihr durch die DSGVO verliehenen Rechte zu ermöglichen, besteht nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSGVO Anspruch darauf, eine Kopie von Auszügen aus Dokumenten oder gar von ganzen Dokumenten oder auch von Auszügen aus Datenbanken zu erhalten. Hierfür besteht keine generelle Vermutung. Vielmehr obliegt es der betroffenen Person darzulegen, dass die Kopie der personenbezogenen Daten sowie die Mitteilung der Informationen nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a bis h DSGVO nicht für die Wahrnehmung der ihr durch die DSGVO verliehenen Rechte genügt. Begehrt die betroffene Person die Zurverfügungstellung von Kopien von Dokumenten mit ihren personenbezogenen Daten, ist es vielmehr an ihr, zu benennen, welche ihr durch die DSGVO verliehenen Rechte sie auszuüben gedenkt und ebenso darzulegen, aus welchen Gründen die Zurverfügungstellung von Kopien von Akten mit personenbezogenen Daten hierfür unerlässlich ist.
Die v. g. Rechtsgrundsätze haben die Kläger zu bedenken, wenn sie an ihrem Begehren festhalten, dass das FA ihren Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO – ausnahmsweise – in Gestalt einer Akteneinsicht bzw. durch Zurverfügungstellung von Kopien aus der Einkommensteuerakte zu erfüllen habe.
BFH, Urteil v. 7.5.2024, IX R 21/22, veröffentlicht am 4.7.2024
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