Rz. 60

Die Haftungsinanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftungsschuldner setzt keine vorherige Festsetzung der Steuerschuld gegen den Steuerschuldner voraus.[1] Das FG überprüft die Ermessensentscheidung des FA zweistufig: Vollumfänglich überprüfbar ist das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift. Auf der zweiten Stufe ist die Ermessensentscheidung des FA über die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Rahmen des § 102 FGO auf Ermessensfehler überprüfbar.[2]

Ist einer der Tatbestände für eine Haftung des Arbeitgebers nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 bis 3 EStG erfüllt und greift auch kein Haftungsausschluss nach § 42d Abs. 2 EStG ein, so muss das Betriebsstätten-FA als erstes sein Entschließungsermessen nach § 191 Abs. 1 AO ausüben, ob es überhaupt den Arbeitgeber als Haftenden heranziehen will (zum Entschließungsermessen s. Rz. 47), und sodann sein Auswahlermessen, ob es den Arbeitgeber als Haftenden anstelle des Arbeitnehmers in Anspruch nehmen will (zum Auswahlermessen s. Rz. 48f.). Der BFH hat keine vorrangige Inanspruchnahme des Arbeitgebers vertreten, auch wenn es Zweck des LSt-Verfahrens ist, den schnellen Eingang der LSt in einem vereinfachten Verfahren durch Abzug an der Quelle sicherzustellen. Es gibt auch umgekehrt keinen Grundsatz, dass der Arbeitnehmer als Steuerschuldner i. S. v. § 38 Abs. 2 S. 1 EStG vorrangig in Anspruch zu nehmen wäre. Bei der Auswahl hat das FA die Interessen des Arbeitgebers, diejenigen des Arbeitnehmers und seine eigenen Interessen gegeneinander abzuwägen.[3] Maßgebend für die Interessenabwägung sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung.[4] Auch wenn u. U. eine vorrangige Heranziehung des Arbeitgebers unbillig wäre, so kann dennoch eine nachrangige gerechtfertigt sein, nachdem das Betriebsstätten-FA vergeblich versucht hat, die LSt zunächst vom Arbeitnehmer nachzufordern.[5]

 

Rz. 61

Das Betriebsstätten-FA muss seine Ermessensentscheidung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründen.[6] Das gilt sowohl für das Entschließungs- als auch das Auswahlermessen.[7] Ohne dies ist die Ermessensentscheidung im Regelfall fehlerhaft.[8] Das FG kann die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme voll nachprüfen, die Ermessensentscheidung nach § 102 FGO aber nur auf einen Ermessensfehler.[9] Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen nach § 102 S. 2 FGO bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen (s. Rz. 89a).[10]

 

Rz. 62

Die Rspr. hat eine umfangreiche Kasuistik dazu entwickelt, wann im Einzelfall eine Inanspruchnahme des Arbeitgebers ermessensgerecht und wann sie ermessensfehlerhaft ist.[11]

4.3.1 Jegliche Inanspruchnahme des Arbeitgebers ist ermessenswidrig

 

Rz. 63

In bestimmten Fallgruppen kann jegliche Haftungsinanspruchnahme eines Arbeitgebers – sowohl eine vorrangige als auch eine nachrangige – ermessenswidrig sein.[1] Der Kasuistik liegt überwiegend die Erwägung zugrunde, dass ein Arbeitgeber einerseits für Fehler innerhalb seiner Herrschaftssphäre verschuldensunabhängig haftet, dafür aber nicht für Fehler verantwortlich gemacht werden kann, deren Ursache außerhalb seiner Herrschaftssphäre, insbesondere im Bereich der Finanzverwaltung, liegt.[2] Ist die Ursache eines Fehlers sowohl beim Arbeitgeber als auch bei der Finanzverwaltung gegeben, so ist das Mitverschulden der Finanzverwaltung entsprechend dem Rechtsgedanken des § 254 BGB zu berücksichtigen.[3] Allerdings muss das Fehlverhalten des FA ein erhebliches sein.[4] Der Arbeitgeber ist für eine Zurechenbarkeit eines Fehlers außerhalb seiner Herrschaftssphäre beweispflichtig.[5]

 

Rz. 64

Bei der Zuordnung der Fehlerursache ist davon auszugehen, dass es einem Arbeitgeber obliegt, sich zwecks eines vorschriftsmäßigen LSt-Einbehalts über die einschlägigen Gesetze, Verordnungen und Richtlinien der Finanzverwaltung zu unterrichten. Ist die Rechtslage zweifelhaft, so darf er nicht auf sein eigenes Urteil vertrauen, sondern muss eine Anrufungsauskunft beim Betriebsstätten-FA nach § 42e EStG einholen.[6] Die Anrufungsauskunft bindet allerdings nur das Betriebsstätten-FA, nicht aber mangels dessen Mitwirkung das Wohnsitz-FA des Arbeitnehmers. Letzteres kann bei dessen ESt-Veranlagung im ESt-Verfahren den Arbeitnehmer uneingeschränkt in Anspruch nehmen.[7] Das Unterlassen einer Anrufungsauskunft in schwierigen Fällen steht der Annahme eines entschuldbaren Rechtsirrtums regelmäßig entgegen.[8] Der Arbeitgeber kann sich ...

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