(1) Die Prüfung der Pflegebedürftigkeit ist ein komplexer Begutachtungsvorgang, der in der Regel aus einer zielorientierten Untersuchung besteht. Der MD oder die von der Pflegekasse beauftragte Gutachterin oder der von der Pflegekasse beauftragte Gutachter hat die versicherte Person im Wohnbereich zu untersuchen. Durch die Untersuchung soll die Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten der antragstellenden Person in den in § 14 Abs. 2 SGB XI genannten Bereichen sowie die voraussichtliche Dauer der Pflegebedürftigkeit ermittelt werden. Für besondere Fallgestaltungen, in denen Leistungsentscheidungen zur Sicherstellung der Weiterversorgung kurzfristig erforderlich sind, ist die Begutachtung auch in der Einrichtung, in der sich die versicherte Person im Zeitpunkt der Antragsstellung befindet, durchzuführen. Mit der Einwilligung der versicherten Person schließt die Begutachtung in Einrichtungen im Einzelfall auch die Begutachtung der häuslichen Situation mit ein, um ein möglichst reibungsloses Anlaufen der Leistungen der Pflegekasse (z.B. Kurzzeitpflege im direkten Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung) zu gewährleisten. Bei [korr.] versicherten Personen, die Leistungen der vollstationären Pflege beantragt haben und deren Wohnung bereits aufgelöst ist, erfolgt die Begutachtung im stationären Bereich.
(2) Lässt die versicherte Person sich nicht in ihrer häuslichen Umgebung begutachten, kann die Pflegekasse die beantragten Leistungen verweigern (§§ 62, 66 SGB I gelten). Lebt die versicherte Person in der Wohnung einer dritten Person (z.B. einer oder eines Angehörigen) gilt dies ebenfalls, und zwar selbst dann, wenn nur die Wohnungsinhaberin bzw. der Wohnungsinhaber die Begutachtung in der Wohnung verhindert. Verweigert eine bereits als pfl-gebedürftig anerkannte Person eine Begutachtung, die für die Feststellung eines höheren Pflegegrades erforderlich ist, führt die Verweigerung nicht zum Wegfall der Leistungen des niedrigeren, bereits anerkannten Pflegegrades, es sei denn, am Fortbestehen dieses Pflegegrades bestehen Zweifel.
(3) Steht aufgrund eindeutiger Aktenlage das Ergebnis der Begutachtung sowie ob und in welchem Umfang geeignete primärpräventive therapeutische bzw. rehabilitative Leistungen in Betracht kommen bereits fest, kann die Begutachtung im Wohnbereich der versicherten Person ausnahmsweise unterbleiben. Das Gutachten nach Aktenlage hat nach den Bestimmungen der BRi zu erfolgen. Erforderliche andere Feststellungen (z.B. zur pflegerischen Versorgung, Versorgung mit Pflegehilfsmitteln oder zur Verbesserung des Wohnumfeldes) können dennoch einen Hausbesuch erfordern.
(4) Um in Krisensituationen, wie beispielsweise pandemische Notlagen, Naturkatastrophen oder Großschadensereignisse den antragstellenden Personen einen zeitnahen Zugang zu den ihnen zustehenden Leistungen zu gewährleisten, können Pflegegutachten in solchen Situationen auch aufgrund der den Gutachterinnen und Gutachtern zur Verfügung stehenden Unterlagen sowie durch – ggf. telefonische Befragungen – der versicherten Personen, deren Bevollmächtigten und rechtlichen Betreuer sowie Angehörigen und sonstigen zur Auskunft fähigen Personen (wie beispielsweise Ärztinnen und Ärzte der antragstellenden Person, Mitarbeitende des bisherigen Pflegedienstes, Nachbarinnen und Nachbarn) erstellt werden.
Die inhaltlichen und organisatorischen Einzelheiten für eine Begutachtung ohne Untersuchung der versicherten Person in Krisensituationen sind in den BRi (Kapitel 3.4) festgelegt. Dort sind auch der Ablauf und die Durchführung der Befragungen (Interviews) im Einzelnen dargelegt.