Rz. 17
Nach § 6 bleiben Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt. Diese Klausel formuliert, was der EuGH ohnehin vorgibt. Danach setzt sich das Unionsrecht uneingeschränkt gegen entgegenstehendes nationales Recht durch, sogar gegen Verfassungsrecht. Wegweisend für das Postulat ″Vorrang des Unionsrechts″ ist das Urteil des EuGH v. 15.7.1964 (Rechtssache 6-64) in Sachen Costa ./. E. N. E. L. (Slg. 1964 S. 1251, 1269 ff.). Den Vorrang des Unionsrechts (damals Gemeinschaftsrecht) hat der EuGH mit folgenden Erwägungen begründet (hierzu Herdegen, Europarecht, 15. Aufl. 2013, S. 29 ff.):
- Schaffung einer eigenständigen Rechtsordnung durch den damaligen EWG-Vertrag,
- Beschränkung der Souveränität der Mitgliedstaaten durch Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union,
- Grundsatz der Vertragstreue (heute Art. 4 Abs. 3 EUV),
- Diskriminierungsverbot (heute Art. 18 AEUV),
- Umkehrschluss aus speziellen Vertragsermächtigungen zu einseitigen Maßnahmen,
- unmittelbarer Geltung von Verordnungen in jedem Mitgliedstaat (heute Art. 288 Abs. 2 AEUV).
Hieraus hat der EuGH geschlossen, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll (vgl. hierzu Herdegen, a. a. O.).
Rz. 17a
So geht die EGVO 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dem § 3 vor (vgl. auch die Komm. zu § 6). Sie ist gemäß deren Art. 91 Satz 2 ab dem Inkrafttreten einer Durchführungsverordnung verbindlich. Die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist nach Art. 97 der EGVO 987/2009 am 1.5.2010 in Kraft getreten (vgl. BSG, Urteil v. 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, SozR 4-4200 § 7 Nr. 21; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 29.7.2014, L 9 R 4742/12, juris; LSG Saarland, Urteil v. 16.07.2014, L 2 KR 50/11, juris). Ab diesem Zeitpunkt ist die EWGVO 1408/71 durch die EGVO 883/2004 i. V. m. der EGVO Nr. 987/2009 abgelöst. Sie bleibt jedoch für die in Art. 90 Abs. 1 Buchst. a bis c EGVO 883/2004 bezeichneten Zwecke in Kraft. Die EGVO 883/2004 regelt grenzüberschreitende Sachverhalte innerhalb der EU sowie dem EWR nach Maßgabe der Abkommen über den EWR und die Schweiz (ABl. EG L 1 v. 3.1.1994). Für die Schweiz gilt ergänzend: Maßgebend ist EGVO 883/2004, geändert durch EGVO 988/2009 v. 16.9.2009 (ABl. L 284 v. 30.10.2009, S. 43), i. d. F. von Anhang II zum Abkommen zwischen der EG und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (abrufbar im Internet unter: http://www.admin.ch). Das Abkommen ist am 1.4.2012 in Kraft getreten.
Rz. 17b
Die Regelungen der EGVO 883/2004 über die Bestimmung des anwendbaren Rechts der Verordnung geben in Art. 11 Abs. 1 Satz 1 vor, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Art. 11 Abs. 3 Buchst. a bestimmt, dass eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt. Art. 12 Abs. 2 regelt, dass eine Person, die gewöhnlich in einem Mitgliedstaat eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und die eine ähnliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliegt, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Tätigkeit 24 Monate nicht überschreitet. Art. 13 regelt bei Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten, dass eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterliegt, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt (Art. 13 Abs. 2 Buchst. a), oder den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeit befindet, wenn sie nicht in einem der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt (Art. 13 Abs. 2 Buchst. b).
Rz. 17c
§ 3 wird infolgedessen verdrängt und das Territorialitätsprinzip im Ergebnis eingeschränkt. Das betrifft namentlich § 3 Abs. 1 Nr. 2. Die hierin normierten Voraussetzungen (Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt) werden durch eine Wohnsitzfiktion ersetzt (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 EWGVO 1408/71 sowie Titel 1 Art. 1, Buchst. j EGVO 883/2004). Art. 7 EGVO 883/2004 hebt zudem Wohnortklauseln auf. Hiernach dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach der EGVO 883/2004 zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder bes...