Kindergeldrechtliche Ausschlussfrist bei Wanderarbeitnehmern aus der EU
Hintergrund: Gesetzliche Vorgaben
- Gemäß § 66 Abs. 3 EStG a. F. wird das Kindergeld nur für die letzten 6 Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Diese Vorschrift beschränkt die rückwirkende Festsetzung von Kindergeld, da sie dem Festsetzungsverfahren und nicht dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist.
- § 66 Abs. 3 EStG a. F. ist am 1.1.2018 in Kraft getreten und auf Anträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen.
- In verfahrensrechtlicher Hinsicht sieht Art. 68 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 i. V. m. Art. 60 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 vor, dass der bei einem Träger eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats gestellte Kindergeldantrag von diesem an den Träger des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats weiterzuleiten ist. Gemäß Art. 68 Abs. 3 Buchst. b, Art. 81 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 gilt der Tag der Einreichung des Antrags beim Träger des einen Mitgliedstaats als Tag der Einreichung beim zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaats. Dies führt zum Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung.
Sachverhalt: Streit um Festsetzung von Differenzkindergeld
Der Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger und Vater von 3 Kindern. Seine Ehefrau, die Mutter der Kinder, erhielt im Streitzeitraum je Kind rumänische Kindergeldleistungen. Die Ehefrau und die Kinder lebten in Rumänien.
Der Kläger war vom 7.8.2018 bis zum 20.12.2018 in Deutschland nichtselbständig beschäftigt. Am 22.5.2019 stellte er bei der Familienkasse einen Antrag auf Kindergeld für alle 3 Kinder.
Mit Bescheid vom 13.10.2020 lehnte die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von August bis Oktober 2018 ab, weil die Festsetzung für einen längeren Zeitraum als die letzten 6 Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen sei, ausgeschlossen sei. Gegen den Ablehnungsbescheid legte der Kläger Einspruch ein und bestritt die Verfassungsmäßigkeit der angewandten Vorschrift.
Die Familienkasse hat den Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kindergeldantrag sei erst am 22.5.2019 bei der Familienkasse eingegangen, eine Kindergeldfestsetzung für den beantragten Zeitraum sei daher ausgeschlossen.
Während des sich anschließenden Klageverfahrens hat die Familienkasse 2 Anfragen an den rumänischen Leistungsträger gestellt. Dieser teilte mit, dass die Kindsmutter in Rumänien einer Erwerbstätigkeit nachgehe, die in Rumänien gestellten Anträge auf Familienleistungen für 2 Kinder im März 2010 und April 2016 erfolgt seien, und dass man keine Informationen über die grenzüberschreitende Situation der Familie erhalten habe.
Entscheidung: Kein Anspruch auf Differenzkindergeld für den Streitzeitraum
Der BFH entscheidet, dass die Revision des Klägers unbegründet zurückzuweisen ist. Das FG hat zutreffend einen Anspruch des Klägers auf Festsetzung von Differenzkindergeld für den Streitzeitraum verneint. Einer Vorlage an den EuGH bedarf es nicht.
Keine Antragstellung innerhalb der Ausschlussfrist
Der Antrag des Klägers ist nach den Feststellungen des FG erst am 22.5.2019 bei der Familienkasse eingegangen. Insoweit wahrt dieser Antrag die 6-Monatsfrist für den Zeitraum August 2018 bis Oktober 2018 nicht.
Ein die Frist nach § 66 Abs. 3 EStG a. F. wahrender Antrag liegt auch nicht über das europäische Recht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vor. Nach den Feststellungen des FG fehlt es im vorliegenden Fall an einem bis zum Ablauf der 6-Monatsfrist gleichgestellten Antrag auf Familienleistungen bei einem anderen Träger.
Eine Antragsgleichstellung erfolgt nach der Rechtsprechung des EuGH nicht, wenn der entsprechende Antrag zu einem Zeitpunkt im Wohnmitgliedstaat gestellt wurde, in dem noch kein Auslandsbezug vorlag (EuGH, Urteil v. 29.9.2022, C-3/21, Rz. 31, 36) und der Antragsteller weder der zuständigen Behörde im Tätigkeitsstaat noch jener im Wohnstaat eine Mitteilung über den grenzüberschreitenden Sachverhalt macht. Nur bei Kenntnis des Auslandsbezugs können die mit dem Antrag befassten Behörden ihren Verpflichtungen aus Art. 76 und Art. 81 der VO Nr. 883/2004 nachkommen.
Ausschlussfrist verstößt nicht gegen EU-Recht
§ 66 Abs. 3 EStG a. F. i. V. m. § 67 EStG, der die Festsetzung von Differenzkindergeld im Streitzeitraum ausschließt, verstößt auch nicht gegen EU-Recht.
- Nach der Rechtsprechung des EuGH führen angemessene Ausschlussfristen nicht dazu, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.
- Bei der in § 66 Abs. 3 EStG a. F. geregelten materiellen Ausschlussfrist handelt es sich nicht um eine unangemessene Frist, da sie die Inanspruchnahme der Familienleistungen für Wanderarbeitnehmer nicht unverhältnismäßig erschwert. Das ergibt sich insbesondere aus Art. 81 der VO Nr. 883/2004. Denn nach dieser Vorschrift können Anträge, die gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist bei einer Behörde einzureichen sind, innerhalb der gleichen Frist auch bei einer entsprechenden Behörde eines anderen Mitgliedstaats eingereicht werden. Die Vorschrift befreit die betreffenden Personen damit von der Verpflichtung, fristgerechte Anträge unmittelbar bei der Stelle einzureichen, für die sie bestimmt sind.
- Der in Art. 81 der VO Nr. 883/2004 geregelten Antragsgleichstellung kann aber nicht entnommen werden, dass sie sich außer auf Verfahrensfragen auch auf die im Einzelfall anzuwendenden materiell-rechtlichen Vorschriften bezieht. Daher bleibt es bei der Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG a. F., die der Wanderarbeitnehmer aber durch eine entsprechende Antragstellung oder Mitteilung bei der für Familienleistungen zuständigen Behörde seines Heimatstaats leicht wahren kann.
Kein Verstoß gegen das europarechtliche Verbot der Diskriminierung
§ 66 Abs. 3 EStG a.F. verstößt auch nicht gegen das europarechtliche Verbot der Diskriminierung. Eine offene unmittelbare Diskriminierung liegt schon deshalb nicht vor, weil die Regelung des § 66 Abs. 3 EStG a. F. nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpft. Die Norm gilt für alle Kindergeldberechtigten, also solche mit Wohnsitz im Inland oder auch in anderen EU-Mitgliedstaaten, und zwar unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit.
Es liegt auch keine verbotene mittelbare Diskriminierung vor. Dem Kläger ist zwar zuzugestehen, dass das Antragserfordernis des § 67 Satz 1 EStG, an das die Frist des § 66 Abs. 3 EStG a. F. anknüpft, die Gruppe der Saisonarbeitnehmer unter den Wanderarbeitnehmern stärker betrifft als Kindergeldberechtigte, die ihren Wohnsitz dauerhaft im Inland haben. Bei Saisonarbeitnehmern ohne dauerhaften Wohnsitz im Inland entfällt der Kindergeldanspruch mit Beendigung ihrer inländischen Tätigkeit, so dass eine wiederholte (fristgebundene) Antragstellung erforderlich ist, wenn der Berechtigte die Voraussetzungen für die Gewährung des Kindergeldes zu einem späteren Zeitpunkt (Rückkehr ins Inland in der nächsten Saison) erneut erfüllt. Dieser den Wanderarbeitnehmer treffende Nachteil ist hingegen geeignet, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist.
§ 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 67 EStG ist nicht verfassungswidrig
Soweit das Kindergeld dem Schutz des Kinderexistenzminimums dient, hat das BVerfG schon zu der früher geltenden Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG entschieden, dass dieser Schutz vom Gesetzgeber zulässigerweise primär über die Freibetragsregelungen des § 32 Abs. 6 EStG gewährleistet wird. Es ist zudem sichergestellt, dass bei der Prüfung der Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach § 31 EStG der Anspruch auf Kindergeld für Kalendermonate unberücksichtigt bleibt bzw. nur in Höhe von 0 EUR angesetzt wird, in denen durch Bescheid der Familienkasse ein Anspruch auf Kindergeld nach § 66 Abs. 3 EStG a. F. ausgeschlossen ist. Soweit das Kindergeld der Förderung der Familien dient, verstößt die Ausschlussfrist nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, vielmehr liegt die Einführung einer Ausschlussfrist innerhalb des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers.
Soweit der Kläger darauf verweist, dass inländische Eltern im Vergleich zu Personen, die von ihrem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch machen und als Saisonarbeiter in einem anderen Mitgliedstaat tätig sind, unter Verstoß gegen Art. 3 GG ungleich behandelt würden, da Erstere im Regelfall nur einen Kindergeldantrag bei der Geburt des Kindes stellen müssten, während Letztere ggf. mehrere Anträge pro Jahr einzureichen hätten, übersieht er, dass die von ihm bezeichneten Vergleichsgruppen einen wesentlichen Unterschied aufweisen und daher nicht vergleichbar sind. Dieser Unterschied liegt in der (ggf. wiederholten) Änderung der persönlichen Verhältnisse, die den Kindergeldanspruch beeinflussen.
BFH, Urteil v. 11.7.2024, III R 31/23; veröffentlicht am 7.11.2024
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