Rz. 9
Die Rücknahme nach § 45 steht, anders als in den Fällen des § 44, grundsätzlich im Ermessen der Behörde, wie sich aus der Verwendung des Wortes "darf" ergibt, so dass die Behörde nicht zur Rücknahme verpflichtet ist (hieran zweifelnd und wohl zu einer bloßen Handlungsermächtigung tendierend: BSG, Urteil v. 25.6.1986, 9a RVg 2/84, SozR 1300 § 45 Nr. 24, wie hier aber die ganz h. M. BSG, Urteil v. 25.10.1984, 11 RA 24/84, SozR 1300 § 45 Nr. 12, Urteil v. 14.11.1985, 7 RAr 121/84, SozR 1300 § 45 Nr. 19). Die Rücknahmemöglichkeit der Behörde besteht nur im Umfang ("soweit") der materiell rechtswidrigen Begünstigung und soweit nach den Abs. 2 bis 4 eine Rücknahme überhaupt für die Vergangenheit oder zeitlich (noch) möglich ist. Da eine Rücknahme nach Abs. 2 bis 4 ausgeschlossen sein kann, wenn Vertrauensschutzgesichtspunkte vorliegen, ist zunächst der Vertrauensschutz und dann erst die Ermessensausübung zu prüfen. Die Kommentierung folgt jedoch der gesetzlichen Reihenfolge der aufgeführten Tatbestandsmerkmale und behandelt das Ermessen zuerst.
Der Leistungsträger hat sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I). Er muss bei seiner Ermessensentscheidung von einer richtigen Beurteilung der Voraussetzungen für das Ermessen und von einem richtig und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgehen. Das Zugrundelegen eines fehlerhaften oder unvollständigen Sachverhaltes infolge unzureichender Ermittlungen hat immer auch Ermessensfehler zu Folge. Die Ermessensentscheidung muss nicht nur erkennen lassen, dass der Leistungsträger eine Ermessensentscheidung hat treffen wollen und getroffen hat, sondern gemäß § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X auch diejenigen Gesichtspunkte deutlich machen, von denen der Leistungsträger bei der Ausübung seines Ermessens ausgegangen ist (BSG, Urteil v. 15.10.1987, 1 RA 37/85, SozR 1300 § 45 Nr. 32). Ausführungen über das Fehlen eines Vertrauensschutzes allein reichen nicht aus (BSG, Urteil v. 4.2.1988, 11 RAr 26/87, SozR 1300 § 45 Nr. 34). Insbesondere dann, wenn die streitbefangene Leistung Bedürftigkeit voraussetzt, können auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Hilfeempfängers sowie der Umstand zu berücksichtigen sein, dass die Rückforderung für ihn eine besondere Härte darstellt (Niedersächsisches OVG, Urteil v. 30.9.2004, 12 LC 201/04, FEVS 56 S. 227; Sächsisches OVG, Urteil v. 28.7.2010, 4 A 303/08). Wird dem Leistungsempfänger zur Begründung einer grob fahrlässigen Pflichtverletzung die Kenntnis oder das Verhalten eines Dritten zugerechnet, so ist dies vom Leistungsträger bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 16.6.2016, L 10 R 3153/13).
Rz. 9a
Streitig ist, ob und inwiefern die Behörde im Rahmen der zu begründenden Ermessensentscheidung auch eigene (Verwaltungs-)Fehler einzustellen, also bei der Abwägung gesondert zu berücksichtigen hat. § 45 setzt allerdings stets ein rechtswidriges Verhalten und damit einen Fehler der Behörde bei der Rechtsanwendung voraus, so dass Verwaltungsfehler jedenfalls dann nach Auffassung des BSG keiner besonderen Erwähnung und Abwägung im Rahmen der Darlegung der Ermessensausübung bedürfen, wenn es sich hierbei um sog. normale Fehler handelt (BSG, Urteil v. 30.10.2013, B 12 R 14/11 R, und Urteil v. 21.3.1990, 7 RAr 112/88, SozR 3-1300 § 45 Nr. 2, str.). Ein grob fehlerhaftes Verhalten der Behörde oder gar ein bewusst rechtswidriges Verhalten wird allerdings immer als besonderer Umstand in die Abwägung einzustellen sein (vgl. im Übrigen zum Meinungsstreit Rz. 10 f.).
Rz. 9b
Im Recht der Arbeitsförderung ist anstelle einer Ermessensentscheidung eine gebundene Entscheidung zu treffen (§ 330 Abs. 2 SGB III). Auch in den sog. atypischen Fällen findet keine Ermessensentscheidung statt, so dass auch ein Mitverschulden der Behörde hier völlig unbeachtlich ist (LSG Hamburg, Urteil v. 22.4.2010, L 5 AL 7/07). Nach § 40 SGB II, der auf § 330 Abs. 2 SGB III verweist, gilt dies auch für die Leistungen nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld). Im Vertragsarztrecht, also bei der nachgehenden Richtigstellung vertragsärztlicher Honorarbescheide, muss die Kassenärztliche Vereinigung auch 4 Jahre nach der Bekanntgabe des Bescheides gemäß § 106d SGB V kein Rücknahmeermessen ausüben (LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 26.4.2017, L 5 KA 2448/15).
Hat der Leistungsträger bei der Entscheidung über die Rücknahme nach § 45 das erforderliche Ermessen nicht ausgeübt oder die für diese Entscheidung maßgeblichen Gründe nicht in der Begründung des Bescheides mitgeteilt, unterliegt der Bescheid schon deswegen der Aufhebung (BSG, Urteil v. 15.10.1987, 1 RA 37/85, SozR 1300 § 45 Nr. 32). Zu beachten ist, dass die Mitteilung von unvollständigen Ermessenserwägungen nach der Neufassung des § 41 nunmehr bis zur letzten gerichtlichen Tatsacheninstanz nachgeholt werden kann (str. vgl. Komm. zu § 41). Ein vollständiger Ermessensnichtge...