Rz. 8
Durch den Wortlaut "Folgen des ersten Versicherungsfalls sind auch die durch einen zweiten Unfall eingetretenen Gesundheitsschäden oder der Tod des Versicherten" bringt die Vorschrift die gesetzliche Wertung zum Ausdruck, dass die Schadensfolge einer Heilbehandlung oder sonstigen in den Nr. 1 bis 3 genannten Maßnahme stets durch den vorausgegangenen Versicherungsfall rechtlich wesentlich verursacht wurde. Zugunsten des Verletzten wird der Kausalzusammenhang i. S. d. rechtlich wesentlichen Bedingung zwischen der Folge des ersten Versicherungsfalls und dem Gesundheitsschaden oder Tod nach dem Zweitunfall kraft Gesetzes bestimmt. Auf die umstrittene rechtsdogmatische Begründung – Fiktion oder gesetzlich bindende Wertung – kommt es nicht an (vgl. zur Kausalitätsfiktion: BSG, Urteil v. 25.1.1979, 8a RU 36/78, und Schwerdtfeger, in: Lauterbach/Watermann, SGB VII, § 11 Rz. 5; Benz, BB 1985, 466, 467; Ricke, in: BeckOGK, Stand: 15.2.2024, SGB VII, § 11 Rz. 5 und 9). Da die (naturwissenschaftliche) Ursächlichkeit nach der Bedingungstheorie stets gegeben ist und der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des BSG durch Gesetzesänderung reagiert hat, sprechen die besseren Argumente für die Beurteilung als gesetzlich bindende Wertung.
Die Kausalität zwischen Heilbehandlung und Zweitunfall muss jedoch festgestellt werden.
Rz. 9
Zu den von § 11 erfassten mittelbaren Gesundheitsschäden des Zweitunfalls gehören auch diagnostische Eingriffe (BSG, Urteil v. 5.8.1993, 2 RU 34/92, mit zust. Anm. Ricke, BG 1994, 360) oder therapeutische Maßnahmen (mittelbare Unfallfolgen sind auch solche, die bei der Erkennung oder Behandlung von Folgen des Versicherungsfalls eingetreten sind: Hess. LSG, Urteil v. 15.6.2010, L 3 U 22/07).
Ein Versicherter erleidet bei einem ärztlichen Eingriff zur Klärung des Ausmaßes der durch einen Arbeitsunfall verursachten Folgen (Brustkorbprellung und Rippenbrüche) Gesundheitsstörungen, welche als mittelbare Unfallfolgen zu entschädigen sind (BSG, Urteil v. 14.11.1981, 2 RU 39/780).
Rz. 10
Schäden infolge ärztlicher Behandlung (sog. ärztliche Kunstfehler) gehören zu den mittelbaren Schadensfolgen, wenn sie im Rahmen der Heilbehandlung oder bei der Feststellung der Art, des Umfangs oder des Ausmaßes der Schädigungs- oder Unfallfolgen auftreten und die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls im Übrigen erfüllt sind (stationäre Behandlung ohne vorausgehenden Arbeitsunfall begründet keinen Unfallversicherungsschutz: Krasney, Versicherungsschutz während Krankenhausbehandlung und medizinischer Rehabilitation durch die gesetzliche Unfallversicherung, Medizin und Haftung 2009, 317; zu § 539 Nr. 17a und § 548 RVO: BSG, Urteil v. 27.6.1978, 2 RU 20/78; LG Frankfurt/Main, Urteil v. 15.10.1980, 2/4 O 271/77). Auf das Verschulden des Arztes kommt es nicht an, so dass schuldlos und schuldhaft verursachte Folgen ärztlicher Behandlung gleichermaßen erfasst sind (ebenso: Ricke, in: BeckOGK, Stand: 15.2.2024, SGB VII, § 11 Rz. 13).
Rz. 11
§ 11 umfasst zuletzt auch ungewöhnliche, nach der Lebenserfahrung gewöhnlich nicht eintretende Schadensfolgen. Da die Versicherten allen Schadensfolgen in gleicher Weise ausgesetzt sind, ist dieselbe Schutzbedürftigkeit gegeben (hM: Keller, in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 11 Rz. 11; Schmitt, SGB VII, § 11 Rz. 8; Schwerdtfeger, in: Lauterbach, SGB VII, § 11 Rz. 8; a. A.: Benz, BG 1989, 614; Rapp, in: LPK-SGB VII, § 11 Rz. 3).
Die zuletzt 1962 durch das BSG vorgenommene Unterscheidung (BSG, Urteil v. 17.5.1962, 11 RV 398/61), nur diejenigen Kunstfehler dem Schutz der Unfallversicherung zu unterstellen, die bei Eingriffen der vorgenommenen Art erfahrungsgemäß vorkommen können, ist durch die Anerkennung mittelbarer Schadensfolgen im Rahmen des § 8 relativiert (zu mittelbaren Folgen bei § 548 RVO: BSG, Urteil v. 30.10.1991, 2 RU 41/90), auch wenn sie nicht ausdrücklich aufgegeben wurde. Das BSG (Urteil v. 25.3.2004, B 9 VS 1/02 R; Rapp, in: LPK-SGB VII, § 11 Rz. 3) hat allerdings im Versorgungsrecht darauf hingewiesen, dass ein völlig unsachgemäßes Vorgehen, das allein den ursächlichen Zusammenhang mit den Wehrdienstbeschädigungsfolgen verdrängen könnte, den Versicherungsschutz ausschließt.
Rz. 12
Von den Kunstfehlern zu unterscheiden ist die irrtümliche Annahme von Folgen eines Versicherungsfalls. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob eine subjektive Fehleinschätzung den Versicherungsfall begründen kann (subjektive Sicht des Versicherten: BSG, Urteil v. 24.6.1981, 2 RU 87/80; Handlungstendenz des Arztes: BSG, Urteil v. 5.8.1993, B 2 U 34/92; Bayerisches LSG, Urteil v. 26.6.2006, L 2 U 264/02; Schmitt, SGB VII, § 11 Rz. 8) oder ob allein maßgeblich ist, dass objektiv keine Schadensfolge vorliegt (LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 10.6.1999, L 5 U 68/98, 552; Keller, in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 11 Rz. 6 und 13; grundsätzlich aber eine Ausnahme für irrtümlich vorgenommene Behandlungsmaßnahmen nach der neueren Rechtsprechung des BSG vgl. Rz 3a).