Rz. 60
Die "Annahme" des anspruchsausschließenden Vorliegens einer Versorgungsehe bei einer Ehedauer von nicht mindestens einem Jahr ist nach dem Ausnahmetatbestand des § 63 Abs. 6 HS 2 SGB VI nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beider Ehegatten für die Heirat ergibt, dass die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe insgesamt gesehen den Versorgungszweck überwiegen oder – da der Wortlaut auf den "alleinigen oder überwiegenden Zweck der Heirat" abhebt – zumindest gleichwertig sind.
Rz. 61
Dabei kommt es auf die (ggf. auch voneinander abweichenden) Beweggründe (Motive, Zielvorstellungen) beider Ehegatten an, es sei denn, dass der hinterbliebene Ehegatte den Versicherten beispielsweise durch Ausnutzung einer Notlage oder Willensschwäche zur Eheschließung veranlasst hat.
Rz. 62
Es ist daher auch nicht zwingend, dass bei beiden Ehegatten andere Beweggründe als Versorgungsgesichtspunkte für die Eheschließung ausschlaggebend waren. Vielmehr sind die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe in ihrer Gesamtbetrachtung auch dann noch als zumindest gleichwertig anzusehen, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat. Allerdings ist eine abschließende Typisierung oder Pauschalierung der von der Versorgungsabsicht verschiedenen ("besonderen") Gründe angesichts der Vielgestaltigkeit von Lebenssachverhalten nicht möglich. Maßgeblich sind jeweils die Umstände des konkreten Einzelfalls. Die vom hinterbliebenen Ehegatten behaupteten inneren Umstände für die Heirat sind zudem nicht nur für sich – isoliert – zu betrachten, sondern vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt der jeweiligen Eheschließung bestehenden äußeren Umstände in die Gesamtwürdigung, ob die Ehe mit dem Ziel der Erlangung einer Hinterbliebenenversorgung geschlossen worden ist, mit einzubeziehen (BSG, Urteil v. 5.5.2009, B 13 R 55/08 R, und Urteil v. 6.5.2010, B 13 R 134/08 R).
Rz. 63
Die Tatsachen, aus denen im Wege der Beweiswürdigung auf besondere Umstände des Einzelfalles geschlossen werden soll, müssen i. S. d. Vollbeweises erwiesen sein. Es muss eine Gesamtabwägung aller zur Eheschließung führenden Motive beider Ehegatten erfolgen. Im jeweiligen Einzelfall sind alle zur Eheschließung führenden Motive der Ehegatten zu berücksichtigen und in ihrer Bedeutung gegeneinander abzuwägen. Hierbei sind alle äußeren und inneren Umstände zu berücksichtigen. Die hiernach zu treffende Abwägung hat indessen nicht unabhängig von den nach außen erkennbaren Gesamtumständen zu erfolgen. Insbesondere dem Gesundheits- bzw. Krankheitszustand des Versicherten kommt hierbei erhebliche Bedeutung zu (LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 12.7.2023, L 5 U 39/18, Rz. 29). Nur dann, wenn diese ergibt, dass es insgesamt nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe bzw. dem Witwer eine Versorgung zu verschaffen, ist die Vermutung widerlegt (BSG, Urteil v. 28.3.1973, 5 RKnU 11/71). Um die Vermutung zu entkräften, ist zu prüfen, ob bei der Heirat mit dem Versicherten nicht allein oder überwiegend der Zweck verfolgt wurde, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen (BSG, Urteil v. 7.8.2009, 13 R 101/08 R). Das Bestehen einer Liebesbeziehung schließt die Vermutung der Versorgungsabsicht schon deshalb nicht aus, weil gerade dann der Ehegatte, der den baldigen Tod vor Augen hat, seinen Ehepartner wirtschaftlich abgesichert sehen möchte. Es kommt entscheidend auf die Motivationslage bei dem Hinterbliebenen an. Alle zur Eheschließung führenden Motive der Ehegatten müssen berücksichtigt und in ihrer Bedeutung gegeneinander abgewogen werden (BSG, Urteil v. 5.5.2009, B 13 R 53/08 R).
Rz. 64
Der Anspruch auf Hinterbliebenenrente ist ausgeschlossen, wenn die Versorgungsabsicht des Versicherten zugunsten der Antragstellerin prägend für den Heiratsentschluss gewesen ist. Dies ist u. a. der Fall, wenn die Eheschließung Gegenleistung für die Pflege und persönliche Zuwendung in den letzten Lebenswochen sein sollte (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 11.5.2021, L 15 U 495/19, Rz. 50).