Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugang einer schriftlichen Erklärung beim Empfänger per Einwurf-Einschreiben der Deutschen Post AG. Unterscheidung der Aussagekraft eines Sendungsstatus von derjenigen der Reproduktion eines Auslieferungsbelegs
Leitsatz (amtlich)
1. Ist der Zugang einer schriftlichen Erklärung streitig und beruft sich der darlegungs- und beweisbelastete Absender auf einen Zugang beim Empfänger per Einwurf-Einschreiben der Deutschen Post AG, begründet die Kombination von Einlieferungsbeleg der Post und Sendungsstatus der Post noch keinen Beweis des ersten Anscheins für den Zugang.
2. Die Aussagekraft eines Sendungsstatus unterscheidet sich von derjenigen der Reproduktion eines Auslieferungsbelegs darin, dass hinter dem Sendungsstatus kein individueller, konkreter Mensch als Gewährsperson steht, während der Auslieferungsbeleg die Unterschrift des Postzustellers trägt. Kann keine Reproduktion des Auslieferungsbelegs von der Deutschen Post AG mehr zur Verfügung gestellt werden, fällt dies in die Risikosphäre des Absenders. (Anschluss an LAG Baden-Württemberg 17. September 2020 - 3 Sa 38/19 - und LAG Baden-Württemberg 28. Juli 2021 - 4 Sa 68/20)
Normenkette
BGB § 130 Abs. 1 S. 1, §§ 125, 126 Abs. 1, §§ 623, 626 Abs. 1-2
Verfahrensgang
ArbG Heilbronn (Entscheidung vom 11.01.2023; Aktenzeichen 1 Ca 91/22) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 11.01.2023 - 1 Ca 91/22 - teilweise abgeändert und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 14.03.2022, noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 14.03.2022 beendet worden ist.
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien, ohne durch eine Kündigung der Beklagten vom 26.07.2022 außerordentlich oder ordentlich beendet worden zu sein, über den 30.09.2022 hinaus fortbestanden hat.
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 28.11.2022 beendet worden ist.
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 03.12.2022 beendet worden ist.
- Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Parteien je zur Hälfte.
IV. Die Revision wird für die Beklagte im Hinblick auf Nr. I. 2. dieses Urteils zugelassen, im Übrigen wird die Revision für die Beklagte nicht zugelassen. Für die Klägerin wird die Revision nicht zugelassen.
Tatbestand
Die klagende Arbeitnehmerin wendet sich gegen die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses durch mehrere von der beklagten Arbeitgeberin im Hilfsverhältnis zu einander ausgesprochene Kündigungen sowie einen höchst hilfsweise verfolgten Auflösungsantrag der Beklagten.
Rechtskräftig hat das Arbeitsgericht im Ausgangsverfahren festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die erste dieser Kündigungen, datierend vom 14. März 2022, beendet worden ist. Im vorliegenden Berufungsverfahren geht es noch um eine zweite Kündigung, datierend vom 26. Juli 2022 (außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich), gegebenenfalls um eine dritte Kündigung, datierend vom 28. November 2022 (außerordentliche Schriftsatzkündigung), gegebenenfalls um eine vierte Kündigung, datierend vom 3. Dezember 2022 (außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich) sowie gegebenenfalls um einen von der Beklagten höchst hilfsweise für den Fall der Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen gestellten Antrag auf Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch das Gericht gegen Zahlung einer Abfindung.
Die Beklagte ist eine überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft von Augenärzten. Sie betreibt ein Augenzentrum und beschäftigt ständig mehr als 15 Mitarbeiter/innen. Die 1991 geborene Klägerin war seit dem 01. Mai 2021 bei der Beklagten als medizinische Fachangestellte beschäftigt. Sie verdiente zuletzt 2.800,00 € brutto monatlich. Dem Arbeitsverhältnis liegen unstreitig diejenigen Bedingungen zugrunde, die in dem von der Klägerin eingereichten Dokument "Arbeitsvertrag" unter dem Datum "09.03.2020" niedergelegt sind (künftig: ArbV, Anlage K 1, Blatt 4 bis 10 ArbG-Akte).
§ 10 ArbV lautet, soweit hier von Interesse, wie folgt:
§ 10 Kündigung
1. Die Parteien vereinbaren eine Probezeit von 6 Monaten, in der das Arbeitsverhältnis von beiden Seiten mit einer Kündigungsfrist von vier Wochen zum Monatsende gekündigt werden kann.
2. Nach Beendigung der Probezeit kann das Arbeitsverhältnis von beiden Seiten mit einer Kündigungsfrist von acht Wochen zum Monatsende gekündigt werden.
3. Die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund bleibt unberührt.
4. Die Kündigung bedarf der Schriftform.
(...)
Die Beklagte schickte an die Klägerin ein mit "Anhörung" überschriebenes Schreiben vom 7. März 2022. Darin wird der Klägerin strafbares Verhalten vorgehalten (ua. Urkundenfälschung im Zusamme...