Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Anhörung des Betriebsrats vor dem Ausspruch von Kündigungen
Leitsatz (redaktionell)
Das Anhörungsverfahren gem. § 102 BetrVG ist nur dann ordnungsgemäß eingeleitet worden, wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat zur Stellungnahme zu einer konkreten Kündigungsabsicht auffordert. Eine ausdrückliche Aufforderung zur Stellungnahme ist nur dann nicht erforderlich, wenn der Betriebsrat der Mitteilung des Arbeitgebers entnehmen kann, dass er damit den Zweck verfolgt, seiner Anhörungspflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG zu genügen. Allein in Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich liegt nicht zugleich seine Anhörung nach § 102 BetrVG zu auszusprechenden Kündigungen.
Normenkette
BetrVG § 102; KSchG § 1 Abs. 1; BetrVG § 102 Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
ArbG Hagen (Westfalen) (Entscheidung vom 03.07.2019; Aktenzeichen 2 Ca 195/19) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 03.07.2019 - 2 Ca 195/19 - wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Berufungsrechtszug noch über die Rechtswirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Der am 11.12.19XX geborene, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 09.05.1994 als Einrichter beschäftigt. Der zuletzt bezogene Bruttomonatsverdienst lag bei 5.593,00 Euro im Monat.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Automobilzuliefererindustrie und beschäftigt ständig mehr als 10 Arbeitnehmer; ein Betriebsrat ist gewählt. Hauptauftraggeberin der Beklagten war bislang die Y-Gruppe, für die die Beklagte eine besonders leichte Hintersitzlehnenstruktur sowie spezielle Sitzwannen entwickelt und produziert hatte. Nachdem die Y-Gruppe ihre Kundenbeziehung zur Beklagten zum 31.03.2019 vollständig gekündigt hatte, versuchte die Beklagte vor Gericht erfolglos, dagegen vorzugehen. Deshalb informierte der damalige Geschäftsführer C am 24.09.2018 den Betriebsrat über die Absicht der Beklagten, die Produktionsanlagen für Y ab dem 01.04.2019 stillzulegen und die Belegschaft von bisher etwa 460 Arbeitnehmer auf nur noch ungefähr 150 bis 160 zu reduzieren.
Am 05.10.2018 erhielt der Betriebsrat Unterlagen, über die dann verhandelt werden sollte. Dabei handelte es sich insbesondere um den Entwurf eines Interessenausgleichs vom 05.10.2018, einen Sozialplanentwurf vom 05.10.2018, Organigramme mit dem Stand 04.10.2018 und mit dem geplanten Stand ab April 2019 sowie eine Excel-Liste mit Vergleichsgruppen und einer "Punktezahl" des jeweiligen Mitarbeiters. Eine erste Verhandlung über einen Interessenausgleich am 16.10.2018 blieb erfolglos. Auf Antrag der Beklagten setzte das Arbeitsgericht Hagen zum Aktenzeichen 2 BV 19/18 durch Beschluss vom 02.11.2018 eine Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand "Abschluss eines Interessenausgleichs zur Einschränkung des Betriebes unter Änderung dessen Arbeitsorganisation" ein. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Betriebsrats hatte keinen Erfolg.
Zwischenzeitlich hatten am 22.10.2018, 07.11.2018 und 22.11.2018 weitere Verhandlungen zwischen den Betriebsparteien wegen eines Interessenausgleichs, zuletzt auch unter Einbeziehung der Agentur für Arbeit, stattgefunden, die ebenfalls scheiterten. Dabei war von den Vertretern der Beklagten jeweils erklärt worden, dass die beabsichtigten Kündigungen so schnell wie möglich ausgesprochen werden sollten.
Am 02.11.2018 ließ die Beklagte dann dem Betriebsrat ein Schreiben mit der Bezeichnung "Unterrichtung nach § 17 KSchG" nebst Anlagen zukommen und wies auf die Notwendigkeit zum Ausspruch der Kündigungen noch im November hin. Im Zusammenhang mit den dann am 15.01.2019 und 24.01.2019 stattfindenden Verhandlungsterminen vor der Einigungsstelle sowohl zum Interessenausgleich als auch zum Sozialplan ließ die Beklagte mit Schreiben vom 11.01.2019 (Wortlaut S. 8 der angegriffenen Entscheidung Bl. 546 d.A.) dem Betriebsrat Unterlagen zukommen, wobei die Einzelheiten zum Zugang zwischen den Parteien im Streit stehen. Dazu gehörte nach Angabe der Beklagten auch ein geänderter Entwurf eines Interessenausgleichs und eine "Gesamtpersonalliste mit allen Informationen nach §§ 102 ff., 111 BetrVG und 15, 17 KSchG für die personellen Maßnahmen (ordentliche und außerordentliche Kündigungen mit sozialer Auslauffrist), die ab Ende Januar 2019 innerhalb von 30 Tagen (soweit Schwerbehinderte oder ihnen Gleichgestellte betroffen sind oder Elternzeitler allerdings erst nach Vorlage der behördlichen Zustimmung) erfolgen sollen". In dem neuerlichen Interessenausgleichsentwurf heißt es unter III. 5. wie folgt:
"5. Kündigungsanhörungen
Die Arbeitgeberin hat gegenüber dem Betriebsrat die Anhörungsverfahren zu den beabsichtigten Kündigungen der betroffenen Arbeitnehmer, die in der Maßnahmenliste (Anlage 3) namentlich gesondert genannt sind, am 05.10.2018 mit Korrekturen am 22.1...