Entscheidungsstichwort (Thema)
Begründetheit einer einstweiligen Verfügung auf Beschäftigung. Anforderungen an die Feststellung des besonderen Beschäftigungsinteresses
Leitsatz (amtlich)
1. Der erforderliche Verfügungsgrund für eine einstweilige Verfügung, die auf Beschäftigung gerichtet ist, besteht nur dann, wenn der Verfügungskläger ein besonderes Beschäftigungsinteresse geltend machen kann. Der Untergang des Beschäftigungsanspruchs durch Zeitablauf genügt nicht.
2. Das Erfordernis eines besonderen Beschäftigungsinteresses entfällt, falls die Rechtslage eindeutig ist und der Beschäftigungsanspruch unzweifelhaft besteht. Ist die Rechtslage schwierig und ungeklärt, sind die Anforderungen an den Verfügungsgrund nicht abzuschwächen.
3. Eine AGB-Klausel, die ein Freistellungsrecht des Arbeitgebers nach dem Ausspruch einer Kündigung für die Dauer der Kündigungsfrist vorsieht, ist jedenfalls dann nicht offensichtlich unwirksam, wenn es sich bei dem freigestellten Arbeitnehmer um einen Mitarbeiter in leitender herausgehobener Stellung handelt (hier: Chefarzt). In diesem Fall kann eine auf Beschäftigung gerichtete einstweilige Verfügung nur ergehen, sofern ein besonderes Beschäftigungsinteresse besteht.
4. Die Freistellung darf nur nach billigem Ermessen (§§ 106 Satz 1 GewO, 315 Abs. 1 BGB) erfolgen. Die Freistellung setzt zudem voraus, dass eine zuvor ausgesprochene Kündigung des Arbeitgebers nicht offensichtlich unwirksam ist (§ 162 Abs. 2 BGB analog).
Normenkette
ZPO § 935; BGB § 315; GewO § 106; ZPO § 940; BGB §§ 305c, 307-308
Verfahrensgang
ArbG Bielefeld (Entscheidung vom 07.01.2015; Aktenzeichen 3 Ga 55/14) |
Tenor
Auf die Berufung der Verfügungsbeklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 07.01.2015 - 3 Ga 55/14 - abgeändert.
Der Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird abgewiesen.
Die Verfügungsklägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch der Verfügungsklägerin auf tatsächliche Weiterbeschäftigung in einem bestehenden, aber gekündigten Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist.
Die Verfügungsbeklagte betreibt ein Krankenhaus in C. Bei der Verfügungsbeklagten besteht eine Mitarbeitervertretung nach dem MVG EKD. Die 1956 geborene Verfügungsklägerin ist auf der Grundlage des Dienstvertrages vom 10.03.2008 ab dem 01.01.2009 als Chefärztin der Klinik für Neurochirurgie tätig. Der Dienstvertrag enthält u. a. folgende Regelung:
"§ 21
Vertragsdauer
[...]
(5) Für den Fall der Kündigung dieses Dienstvertrages ist der Dienstgeber berechtigt, den Arzt unter Fortzahlung der Bezüge und unter Anrechnung etwaiger restlicher Urlaubsansprüche von der Arbeit freizustellen. Entsprechendes gilt bei einer einvernehmlichen Beendigung des Dienstverhältnisses.
[...]"
Dem Dienstvertrag liegt ein Entwurf der Verfügungsbeklagten zu Grunde. Vor dem Abschluss des Vertrages fanden zwei Verhandlungsgespräche statt. Die Parteien trafen unter dem 10.03.2008 auch eine Vereinbarung über eine ambulante ärztliche Nebentätigkeit der Verfügungsklägerin; zudem wurde ein weiterer Vertrag zwischen der Verfügungsklägerin und der N GmbH abgeschlossen. Im Jahr 2013 erzielte die Verfügungsklägerin eine Jahresvergütung in Höhe von insgesamt ca. 465.000,00 €.
Die Verfügungsbeklagte stellte zum 01.01.2014 einen neuen Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie ein. Seitdem gab es Unstimmigkeiten zwischen der Verfügungsklägerin und diesem Chefarzt bzw. zwischen den Ärzten dieser beiden Kliniken, insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeit für Patienten, bei denen Wirbelsäulenoperationen durchzuführen waren.
In diesem Zusammenhang wandten sich sowohl die Assistenzärzte als auch die Oberärzte der neurochirurgischen Klinik an die Geschäftsleitung und brachten ihre Besorgnis über eine Kompetenzbeschneidung ihrer Klinik zum Ausdruck. Die Geschäftsleitung forderte die Verfügungsklägerin dazu auf, zu den Schreiben der Assistenz- und Oberärzte Stellung zu nehmen, was diese zunächst verweigerte. Hierfür erhielt sie von der Verfügungsbeklagten eine Abmahnung. Danach richtete die Verfügungsklägerin unter dem 23.05.2013 ein 21seitiges Schreiben an die Geschäftsführung der Verfügungsbeklagten.
Im Sommer 2014 bemühte sich die Verfügungsbeklagte, eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Verfügungsklägerin zu erzielen. Diese Gespräche blieben ergebnislos.
Am 10.11.2014 hörte die Verfügungsbeklagte sowohl die Mitarbeitervertretung zu einer beabsichtigten Kündigung der Verfügungsklägerin an und führte auch ein Anhörungsgespräch mit dem Sprecherausschuss der leitenden Angestellten. Die Mitarbeitervertretung erklärte unter dem 18.11.2014, dass sie sich für die Verfügungsklägerin als leitende Angestellte nicht zuständig halte. Mit Schreiben vom 27.11.2014 sprach die Verfügungsbeklagte gegenüber der Verfügungsklägerin die ordentliche Kündigung zum 30.06.2015 aus. Unter Bezugnahme auf § 21 Abs. 5 des Dienstvertrages stellte sie die Verfügung...